01 September 2023

Fremdkörper im Strafprozess

Verträgt die strafrechtliche Vermögensabschöpfung eine Beweislastumkehr?

Nach der Vorstellung des Lagebildes „Clankriminalität Berlin 2022“ fordert die Berliner Innensenatorin Iris Spranger öffentlichkeitswirksam eine Beweislastumkehr im Recht der Vermögensabschöpfung für Fälle mit Bezug zur sog. Clankriminalität. Sie schließt sich damit der im Lagebild formulierten Forderung an, nach der eine solche Einführung „aus polizeilicher Sicht […; ein] effektive[s] Mittel“ „zur Abschöpfung inkriminierten Vermögens“ (Lagebild „Clankriminalität Berlin 2022, S. 36 [Herv. d. Verf.]). darstellte. Die Bundesinnenministerin Nancy Faeser zeigte sich – ebenso wie der nordrhein-westfälische Innenminister Herbert Reul – auf Anfrage hin offen für eine solche Gesetzesänderung und verwies auf ministeriumsinterne Prüfungen.

Damit erlangt die Entwicklung der vermögensabschöpfungsrechtlichen Debatte ihren vorläufigen, allerdings keineswegs überraschenden Tiefpunkt. Eine solche Änderung würde schließlich umsetzen, wovor die Fachliteratur im Nachgang an die Reform des Rechts strafrechtlicher Vermögensabschöpfung nachdrücklich gewarnt hatte – und was mit einer entsprechenden Auslegung des § 437 StPO zu verhindern versucht wurde: Eine Beweislastumkehr in einem strafrechtlich eingebetteten Eingriffsinstrument. Dass jene dennoch in der politischen Debatte (positive) Resonanz findet, zeugt von einer bemerkenswerten Resistenz der politischen Akteure. Es scheint, als sei im Kampf gegen die sog. „Clankriminalität“ (zu Recht kritisch zum Begriff Kilian Wegner) jedes Mittel Recht und billig. Neben erheblichen verfassungsrechtlichen und strafprozessrechts-dogmatischen Bedenken, die gegen diesen Vorstoß sprechen, stellt sich die Frage, ob das Abschöpfungsbesteck des geltenden Rechts nicht gleichermaßen in der Lage wäre, diese Operation durchzuführen.

Bedarf es einer Reform überhaupt?

Die Forderung nach einer Beweislastumkehr, etwa bei Vermögens- oder Einkommenslosigkeit des Einziehungsadressaten, ist nicht neu; vielmehr bildete sie im Gesetzgebungsverfahren rund um die grundlegende Reform des Rechts der Vermögensabschöpfung im Jahr 2017 einen zentralen Punkt der Neueinführung der sog. non-conviction-based confiscation – oder im Duktus des Gesetzgebungsverfahrens: Einziehung von Vermögen „unklarer Herkunft“ (zur Fragwürdigkeit der verwandten Begrifflichkeit vgl. NK-WSS/Lindemann/Bauerkamp, 2. Aufl. 2022, § 76a Rn. 15). Jene ermöglicht die Einziehung in Fällen, in denen der sichergestellte Gegenstand keiner rechtswidrigen Herkunftstat zugeordnet werden kann, das Gericht aber im Rahmen des Verfahrens wegen einer Straftat aus dem Katalog des § 76a Abs. 4 S. 3 StGB, in dem der Einziehungsbetroffene nicht verurteilt werden kann, zur Überzeugung gelangt, der Gegenstand rühre aus einer rechtswidrigen Tat her. Findet etwa eine Ermittlungsperson im Rahmen eines Verfahrens gegen eine Person wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 Abs. 1 StGB; eine der sog. Katalogtaten, vgl. § 76a Abs. 4 S. 3 Nr. 1b Alt. 1 StGB) eine bestimmte Menge Bargeld oder ein teures Kraftfahrzeug, so könnten jene Gegenstände auch dann eingezogen werden, wenn eine Verurteilung wegen der Katalogtat etwa aus Mangel an Beweisen ausscheidet. Das Gericht muss allerdings überdies zur Überzeugung gelangen, der jeweilige Gegenstand sei strafrechtswidrig erlangt worden. Nicht zuletzt, weil hier eine Verknüpfung zur Katalogtat nicht überzeugungsbildend hergestellt werden kann (schließlich rührt der Gegenstand nicht aus selbiger her; krit. hierzu NK-WSS/Lindemann/Bauerkamp, a.a.O., Rn. 16), gibt der Gesetzgeber dem Gericht in § 437 StPO etwaige überzeugungsleitende Umstände an die Hand, etwa ein grobes Missverhältnis zwischen dem Wert und den Einkünften des Betroffenen, die Umstände, unter denen der Gegenstand aufgefunden wurde (S. 2 Nr. 2) oder die persönlichen wie wirtschaftlichen Verhältnisse des von der Einziehung Betroffenen (S. 2 Nr. 3). Spricht Innensenatorin Spranger von Vermögens- oder Einkommenslosigkeit1), so dürften diese Fälle – trotz der mangelnden gesetzgeberseitigen Konturierung des Merkmals – ohne Weiteres ein „grobes“ Missverhältnis erzeugen; eine andere Frage ist, wie wahrscheinlich solche Fälle in der Praxis sind. Obgleich der Gesetzgeber selbst mit jener Gestaltung Anleihen an zivilrechtliche Darlegungs- und Beweislastregeln nehmen und den Betroffenen für den Fall eines groben Missverhältnisses faktisch zu einem substantiierten Gegenbeweis drängen wollte, haben sich Literatur2) und – soweit bisher ersichtlich – auch Praxis3) zumindest gegen eine Beweislastumkehr ausgesprochen. Vielmehr hat das Gericht richtigerweise entlastende Einkunfts- und Vermögensquellen weiterhin in Betracht zu ziehen und selbstständig zu ermitteln.

Soll das grobe Missverhältnis auf eine entsprechende Einkunfts- oder Vermögenslosigkeit gestützt werden, so ist jene – ebenso wie die anderen relevanten Gesamtumstände – gerichtsseitig festzustellen; richtigerweise entbindet § 437 StPO nicht von (allseitigen) Ermittlungen der tatsächlichen Umstände. Allein hierfür dürfte schon ein nicht unerheblicher Ermittlungsaufwand betrieben werden, der rechtmäßige Einkommensquellen regelmäßig aufdecken wird. Hiervon könnte auch die von Spranger geforderte Beweislastumkehr im Übrigen nicht dispensieren, solange sie auf diese Anordnungsvoraussetzungen beschränkt bliebe.

Es stellt sich dann aber die Frage, ob eine Beweislastumkehr wirklich notwendig ist: Bestätigt sich eine Einkunfts- und Vermögenslosigkeit, weil keine legalen Erwerbsquellen oder Herkunftsszenarien ersichtlich sind, so scheint eine Abschöpfung auch unter dem geltenden Recht gem. § 76a Abs. 4 StGB möglich. Der Unterschied bei Einführung einer Beweislastumkehr bestünde denn primär in den atypischen Fällen, in denen sich trotz der festgestellten Umstände zur Vermögens- und Einkunftslosigkeit aus irgendwelchen Gründen noch Erwerbsquellen auftäten, deren Ermittlung für das Gericht zunächst nicht möglich oder nicht naheliegend wäre.

Verfassungsrechtliche und strafprozessrechtliche Bedenken

Von der Frage ihres praktischen Mehrwertes abgesehen, liefe die vorgeschlagene Beweislastumkehr zentralen Grundsätzen des Strafprozessrechts und grundrechtlichen Gewährleistungen entgegen.

Eine Beweislastumkehr wäre im deutschen Strafprozessrecht ein Fremdkörper; sie liefe dem Grundsatz freier Beweiswürdigung (§ 261 StPO) diametral entgegen. Während dies schon bei der Einführung des geltenden § 437 StPO befürchtet und durch etwaige Auslegungsvarianten zu verhindern versucht wurde, würde bei einer originären Beweislastumkehr die freie richterliche Überzeugungsbildung erheblich beschränkt. Im Fall von Sprangers Vorschlag, etwa an Vermögens- oder Einkommenslosigkeit anzuknüpfen, bliebe dem Gericht eine freie Beweiswürdigung wohl nur hinsichtlich der Umstände, die eben jene Faktoren bestimmten sowie dessen, was der Einziehungsbetroffene zur einzelfallbezogenen Entkräftung der gesetzlichen Vermutung vorbrächte. Für die gerichtsseitige Annahme einer legalen Herkunft trotz Vermögens- oder Einkunftslosigkeit bliebe jenseits dessen kein Platz.

Dem könnte man auch nicht die Rechtsnatur der Einziehung von Vermögen „unklarer Herkunft“ entgegensetzen: Richtigerweise besteht kein ausreichender Bezug zu einer begangenen oder zu ermittelnden Straftat, um dieses Abschöpfungsinstrument als Strafe oder strafähnliche Maßnahme zu kategorisieren; vielmehr hat der Gesetzgeber schon mit der Einführung des § 76a Abs. 4 StGB originäres Ordnungs- bzw. Gefahrenabwehrrecht in das strafrechtliche Verfahren implementiert (vgl. hierzu NK-WSS/Lindemann/Bauerkamp, a.a.O, Vor §§ 73 ff. Rn. 8 m.w.N.). Es geht allein um (general-)präventive Belange, die durch den Verbleib des Gegenstands beeinträchtigt werden könnten. Der Grundsatz freier Beweiswürdigung betrifft allerdings das gesamte strafrechtliche Verfahren, sodass die Verortung im Strafprozess zu dessen Geltung ausreicht.

Eine echte Beweislastumkehr würde auch mit dem rechtsstaatlich und schuldstrafrechtlich – und insoweit auch grundrechtlich – fundierten Gebot der vollständigen Sachverhaltsaufklärung kollidieren. Der Untersuchungsgrundsatz gebietet die umfassende Erforschung des entscheidungserheblichen Sachverhalts. Während zur gegenwärtigen Rechtslage denjenigen zuzustimmen ist, die § 437 StPO nicht die Kraft beimessen, das Gericht hiervon zu entbinden (vgl. etwa Löwe/Rosenberg/Gaede, a.a.O., Rn. 10), ist der Idee einer Beweislastumkehr ein solcher Dispens wesenseigen.

Davon abgesehen ist auch der Nemo-tenetur-Grundsatz betroffen.4) Nach diesem, aus zentralen Wertungen der Verfassung (Art. 2 Abs. 1 iVm Art. 1 Abs. 1; Art. 20 Abs. 3; Art. 1 Abs. 1 GG) hergeleiteten Grundsatz, ist kein Angeklagter verpflichtet, an der eigenen Überführung aktiv mitzuwirken. Ausfluss dessen ist es, an das Schweigen des der Strafgewalt Unterworfenen keine für ihn nachteilige Wirkung knüpfen zu dürfen. Da jede Aussage des Betroffenen ein in dieser Hinsicht verfängliches Potenzial aufweisen kann, muss dies nicht nur hinsichtlich des Ausbleibens belastender, sondern nicht zuletzt auch hinsichtlich der Nichtbeibringung entlastender Aussagen gelten. Dieser Punkt ist jedoch betroffen, wenn eine gesetzliche Vermutung den Betroffenen zum Erhalt des vermögensmäßigen Status quo dazu zwingt, Umstände vorzubringen, die eine legale Herkunft des Vermögensgegenstandes belegen; er äußert sich damit zwangsläufig zu einem entsprechenden strafrechtlich relevanten Geschehen innerhalb eines Strafprozesses.

Auch vor der Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in Art. 14 GG melden sich aus mehrerlei Perspektive Bedenken an. Während man bei der derzeitigen Ausgestaltung des § 76a Abs. 4 StGB vornehmlich den Abschöpfungsumfang kritisieren kann, stellt sich bei der geforderten Beweislastumkehr schon die Frage der legitimen Zwecksetzung. Wenn vorgebracht wird, es ginge schließlich um die Bekämpfung der sog. „Clankriminalität“, fügt sich dies zwar in das momentane öffentliche Stimmungsbild wohl nahtlos ein. Wie aber Wegner zuletzt an dieser Stelle überzeugend dargelegt hat: Der Begriff der Clankriminalität lässt sich schwerlich trennscharf und vor allem diskriminierungsfrei bestimmen. Das assoziative Bild eines Clans, welches durch die mediale Berichterstattung überliefert wird, entspricht rechtstaatlichen Grundsätzen wohl kaum. Dann muss jedoch die Frage erlaubt sein, weshalb eine Verschärfung des Einziehungsrechts genau auf dieses unscharfe Phänomen bezogen werden soll. Aus welchem Grund erscheint eine Beweislastumkehr für diesen Bereich naheliegender als bei jeder anderen Gestaltung, mit der eine erschwerte Sachverhaltsaufklärung einhergeht? Es bleibt kaum ein anderer Eindruck, als dass, um es mit Herzog zu formulieren, hiermit der „populären Alltagstheorie, dass bei »solchen Leuten« der Reichtum eben nur von » so etwas« herrühren kann“5) zum Durchbruch verholfen würde – allerdings drastischer als von Herzogvorgebracht, nicht im Rahmen richterlicher Überzeugungsbildung, sondern im Wege einer kodifizierten Vermutung für die Illegalität des Vermögensgegenstands. Vom Begriff der Clan-Kriminalität abgesehen – und auf die in diesem Zusammenhang genannte organisierte Kriminalität als Ziel bezogen – bliebe angesichts der BVerfG-Rechtsprechung zu § 73d StGB a.F. die Frage, ob eine Beweislastumkehr das Legalvermögen in ähnlichem Maße vor Eingriffen schützte, wie eine nach hinreichender Sachverhaltsausschöpfung gewonnene richterliche Überzeugung (vgl. BVerfG, NJW 2004, 2073 [2077; 2078]). Dies wird wohl zu verneinen sein.

Rechtspolitischer Ausblick und Fazit

Weniger dogmatisch, denn erfahrungsbezogen verbleibt die Befürchtung, dass der Gesetzgeber sich auf Dauer nicht mit der Einführung der Beweislastumkehr hinsichtlich der sog. Clankriminalität – oder organisierten Kriminalität – zufriedengeben könnte. Die Reformhistorie zeigt, dass Instrumente, die originär zur Bekämpfung etwa der organisierten Kriminalität eingeführt wurden (die erweiterte Einziehung, § 73d StGB a.F. [BT-Drs. 12/989, S. 23], nunmehr § 73a StGB), im Nachgang gegenüber jeder Art von Kriminalität geöffnet wurden. Erweiterungstendenzen, die ihren Ursprung in vermeintlich besonderen Bedürfnissen des staatlichen Tätigwerdens hatten, wurden so dieser besonderen Legitimation entzogen und dem allgemeinen Zweck der Vermögensabschöpfung unterworfen. Dies kann freilich nicht in die Legitimitätserwägungen des Vorstoßes einbezogen werden, verdeutlicht allerdings das praktische rechtspolitische Risiko einer solchen Änderung.

Es bleibt zu hoffen, dass die Forderung nach einer Beweislastumkehr aus dem politischen Diskurs verschwindet. Die Effektivität der Einziehung „inkriminierten Vermögens“ misst sich in einem Rechtsstaat nicht allein an Menge und Wert der tatsächlich eingezogenen inkriminierten Vermögensgegenstände, sondern vor allem an der Beachtung rechtsstaatlicher und grundrechtlicher Standards. Der Wunsch nach einem restriktiven Reformkurs in Sachen Vermögensabschöpfung erscheint indessen wohl illusorisch – die verfassungsrechtlichen Zweifel an der gegenwärtigen Ausgestaltung der non-conviction-based confiscationsind noch nicht ausgeräumt, schon wird der Ruf nach weiteren Verschärfungen laut.

References

References
1 In dieser Frage ist die Berichterstattung nicht ganz eindeutig; teils wird Spranger zumindest mit einer beispielhaften Nennung zitiert (https://www.tagesspiegel.de/berlin/neues-lagebild-zur-clan-kriminalitat-in-berlin-innensenatorin-fordert-beweislastumkehr-wie-in-italien-10196629.html; https://taz.de/Neuer-Lagebericht-aus-Berlin/!5949814/), teils wird schlicht von der Forderung einer Beweislastumkehr gesprochen (https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-08/clan-kriminalitaet-beweislastumkehr-nancy-faeser-iris-spranger). Eine Beweislastumkehr, ohne an entsprechende Aspekte anzuknüpfen, auf die sich die Vermutungswirkung bezieht, erscheint indessen nicht realistisch.
2 Etwa NK-WSS/Lindemann/Bauerkamp, a.a.O., Rn. 17; NK-StGB/Saliger, 6. Aufl. 2023, § 76a Rn. 25 ff.; LK-StGB/Lohse, 13. Aufl. 2019, § 76a Rn. 32; Lackner/Kühl/Heger/Heger, 30. Aufl. 2023, § 76a Rn. 9; Löwe/Rosenberg/Gaede, 27. Aufl. 2022, § 437 StPO Rn. 10 ff.
3 Vgl. die Gesamtwürdigung des LG Aachen, Beschluss vom 13.07.2021 – 60 KLs 2/21, BeckRS 2021, 24138 Rn. 24 ff.
4 Vgl. gegen eine entsprechende Interpretation des geltenden Rechts NK-WSS/Lindemann/Bauerkamp, a.a.O., Rn. 17; Meißner,KriPoZ 2017, 237 (243; faktische Beweislastumkehr); Löwe/Rosenberg/Gaede, a.a.O., Rn. 14; Saliger, ZStW 129 (2017), 995 (1031) mit Bezug auf BVerfG, NJW 2004, 2073 (2079).
5 Herzog, JR 2004, 494 (497).