Über die sogenannte Clankriminalität
Kurze Kritik eines (Kampf-)Begriffs
Bereits seit Jahren ist das Phänomen der „Clankriminalität“ in der rechts- und kriminalpolitischen Diskussion in Deutschland omnipräsent und wird dabei sowohl von Medien als auch von weiten Teilen des Parteienspektrums als Inbegriff bekämpfungswürdiger Kriminalität und besondere Bedrohung für die Sicherheitslage in der Republik dargestellt. In den letzten Tagen geriet der Begriff im Zusammenhang mit einem „Diskussionsentwurf für ein Gesetz zur Verbesserung der Rückführung“ aus der Feder des Bundesministeriums des Inneren und für Heimatschutz erneut in die Schlagzeilen. Der Entwurf enthält unter anderem den Vorschlag, es in § 54 Abs. 1 S. 2 AufenthG als Regelbeispiel für eine besondere Schwere des Ausweisungsinteresses aufzunehmen, wenn Tatsachen die Schlussfolgerung rechtfertigen, dass der Betroffene einer Vereinigung im Sinne des § 129 StGB angehört oder angehört hat. Entweder aus einem Missverständnis oder auf Grund einer entsprechenden (Hintergrund-)Kommunikation des Ministeriums der Presse gegenüber wurde dieser Vorstoß in den Medien als Maßnahme im Kampf gegen „Clankriminalität“ wahrgenommen, obwohl dieser Begriff im Entwurfstext selbst nicht auftaucht. „Innenministerium will Angehörige von Clans kollektiv abschieben“ titelte etwa die Süddeutsche Zeitung. Die Selbstverständlichkeit, mit der die meisten Beiträge zu dieser – auch noch aus anderen Gründen verunglückten – Debatte (mal wieder) auf den Begriff der „Clankriminalität“ zurückgreifen, gibt mir Anlass zum Widerspruch.
Was ist „Clankriminalität“? Definitionsversuche durch Polizei und Justiz
Die Kritik soll ihren Ausgangspunkt bei der Frage nehmen, wie „Clankriminalität“ überhaupt definiert wird. Während es an einer gesetzlichen Begriffsbestimmung fehlt, sind hierzu die vom Bundeskriminalamt publizierten Bundeslagebilder „Organisierte Kriminalität“ sowie die in den Bundesländern Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Berlin seit einigen Jahren veröffentlichten Lagebilder „Clankriminalität“ tonangebend. Es können bei der Begriffsgenese grob zwei Phasen unterschieden werden:
Bis zur Veröffentlichung des Bundeslagebildes OK 2021 gab es zwar formell keine bundeseinheitliche Definition der „Clankriminalität“ und die einzelnen Behörden verwendeten im Detail voneinander abweichende Formulierungen, jedoch ähnelten diese trotzdem zumeist sehr stark der folgenden Formel aus dem Bundeslagebild OK 2018:
„Clankriminalität […] ist die Begehung von Straftaten durch Angehörige ethnisch abgeschotteter Subkulturen. Sie ist bestimmt von verwandtschaftlichen Beziehungen, einer gemeinsamen ethnischen Herkunft und einem hohen Maß an Abschottung der Täter, wodurch die Tatbegehung gefördert oder die Aufklärung der Tat erschwert wird. Dies geht einher mit einer eigenen Werteordnung und der grundsätzlichen Ablehnung der deutschen Rechtsordnung.“
Das Bundeslagebild OK 2021 greift dann erstmals auf eine durch den Arbeitskreis II der Innenministerkonferenz beschlossene (scheinbar)1) bundeseinheitliche Definition zurück, die wie folgt lautet:
„Ein Clan ist eine informelle soziale Organisation, die durch ein gemeinsames Abstammungsverständnis ihrer Angehörigen bestimmt ist. Sie zeichnet sich insbesondere durch eine hierarchische Struktur, ein ausgeprägtes Zugehörigkeitsgefühl und ein gemeinsames Normen- und Werteverständnis aus.
Clankriminalität umfasst das delinquente Verhalten von Clanangehörigen. Die Clanzugehörigkeit stellt dabei eine verbindende, die Tatbegehung fördernde oder die Aufklärung der Tat hindernde Komponente dar, wobei die eigenen Normen und Werte über die in Deutschland geltende Rechtsordnung gestellt werden können. Die Taten müssen im Einzelnen oder in ihrer Gesamtheit für das Phänomen von Bedeutung sein.“
Von der „ethnischen Herkunft“ zum „Abstammungsverständnis“: Ein Etikettenschwindel
Auffällig ist, dass der bis vor kurzem für das „Clan“-Konzept noch konstitutive Begriff der „ethnischen Herkunft“ in der neuen „bundeseinheitlichen“ Definition des BKA nicht mehr auftaucht und durch den Begriff des „gemeinsamen Abstammungsverständnis“ der Angehörigen einer sozialen Organisation ersetzt wurde. Hintergrund dieser Umstellung dürfte die vielfach geübte Kritik am Rückgriff auf die Kategorie der Ethnizität sein, der schon allein deshalb zum Scheitern verurteilt ist, weil es sich bei der Ethnie nach der heute vorherrschenden Auffassung in den Sozialwissenschaften um ein dynamisch-fluides Konstrukt handelt, dem eine Person teils von sich selbst, teils von außen zugeordnet wird und das sich im Laufe des Lebens verändern kann.2) Die Vorstellung, man könnte Menschen auf Grund eines Substrats ihrer gemeinsamer Sprache, Kultur und Abstammung aus einer objektiven Perspektive in feste „Ethnien“ aufteilen, geht also fehl.
Entsprechend hilflos sind denn auch die in zahlreichen polizeilichen Publikationen nachlesbaren Versuche gewesen, mit willkürlich zusammengestellten Bindestrich-Konstruktionen aus Begriffen wie „türkisch“, „arabisch“ oder „kurdisch“, die dann oftmals noch mit formal-juristischen Staaten- und Nationalitätsbezeichnungen („libanesisch“, wobei z. T. noch zwischen „echten“ und „unechten“ Libanesen differenziert wird) vermischt werden, „Ethnien“ zu kartographieren. Nicht selten bricht sich hier ein freihändiger Hobby-Orientalismus Bahn, der zu empirisch zumeist unbelegten „Kultur“-Behauptungen3) einlädt und ein Einfallstor für strukturellen Rassismus bietet.
Dieses Problem lässt sich offenkundig nicht beheben, indem man kurzerhand das Wort „Ethnie“ durch „Abstammungsverständnis“ ersetzt. Dass damit nur ein vordergründiger Etikettenwechsel und keine ernsthafte Abkehr von den hinter dem Begriff der „Ethnie“ stehenden Denkmustern verbunden ist, zeigt sich schon allein daran, dass „ethnisch“ aufgeladene Kategorien wie etwa jene der „Mhallamiye“- oder der „arabischstämmigen“ Kriminalität in den einschlägigen Behördenpublikationen aufrecht erhalten werden. Entlarvend ist ferner, dass es in keinem statistischen Werk über die „Clankriminalität“ eine Rubrik für „deutschstämmige“ „Clans“ gibt, obwohl ganz offensichtlich Tätergruppen existieren, die ein „gemeinsames deutsches Abstammungsverständnis“ haben und auch ansonsten die „bundeseinheitliche“ Clan-Definition erfüllen. Ungeschriebenes Merkmal der Definition ist also wohl, dass das „Abstammungsverständnis“ sich auf eine von den Behörden als „fremd“ empfundene „Abstammung“ beziehen muss.
Zur Untauglichkeit der „Ethnie“ bzw. des „Abstammungsverständnis“ als Anknüpfungspunkt repressiven staatlichen Handelns
Es lässt sich damit festhalten, dass das Label „Clankriminalität“ nach herrschendem Begriffsverständnis nur dann angebracht werden kann, wenn zunächst die „Ethnie“ oder „ethnische Abstammung“ bzw. das „Abstammungsverständnis“ der in Betracht kommenden Person festgestellt wird.
Eine sozialwissenschaftlich zumindest nachvollziehbare Methodik zur Feststellung der „Ethnie“ bzw. dem „Abstammungsverständnis“ gibt es jedoch nicht. Die einzig realistische Option, nämlich eine Selbstauskunft der Betroffenen über ihre aktuelle ethnische Verortung bzw. ihr „Abstammungsverständnis“, wäre ebenso unpraktikabel wie datenschutzrechtswidrig. Es nimmt daher nicht Wunder, dass viele Behörden in ihrer Eigendarstellung einräumen, die an den Begriff der „Clankriminalität“ von ihnen angelegten Kriterien bei der statistischen Erfassung dieses Phänomens nur sehr selektiv oder (beim sog. „namensbasierten Ansatz“, bei dem schlichtweg alle Normverstöße von Menschen mit einem behördlich bestimmten Nachnamen als „Clankriminalität“ gewertet werden) überhaupt nicht abzuprüfen.
Viel schwerer wiegt, dass die Erfassung „ethnischer“ Merkmale bzw. des „Abstammungsverständnisses“ von Beschuldigten sowohl für die Prävention als auch für die Repression von Kriminalität wertlos ist. Insbesondere taugt sie jedenfalls dann nicht für die Erforschung der Ursachen von Kriminalität, wenn sie unabhängig von zahlreichen anderen (insbesondere sozio-ökonomischen) Faktoren erhoben wird, deren Auswirkungen auf die Kriminalitätsneigung verhältnismäßig gut erforscht sind, durch „ethnisch“ bzw. auf das „Abstammungsverständnis“ fokussierte Betrachtungen von Kriminalität aber ausgeblendet werden. Die Behauptung, dass es „Ethnien“ bzw. „Gruppen mit gemeinsamem Abstammungsverständnis“ gebe, deren Kriminalitätsneigung im Vergleich zu anderen „Ethnien“ bzw. „Gruppen mit gemeinsamem Abstammungsverständnis“ per se gesteigert sei, ist vielfach naturwissenschaftlich widerlegt worden und steht ideologisch in der Tradition der „Rassenforschung“.4)
Der Schaden, den „ethnisch“ bzw. auf dem „Abstammungsverständnis“ basierte Kriminalpolitik anrichtet, ist dagegen enorm. Er reicht von einem unverhältnismäßigen Schüren rassistisch konnotierter, gruppenbezogener Kriminalitätsfurcht bei der Gesamtbevölkerung über fehlgeleitete, diskriminierende polizeiliche Handlungen bis hin zu den psychisch belastenden und sozial desintegrierenden Folgen der Stigmatisierung bestimmter Bevölkerungsgruppen als „gefährlich“, der einzelne Menschen ohne Rücksicht auf ihr persönliches Verhalten ausgesetzt sind. Auf dem Feld der Ethnologie bzw. der Abstammungsforschung gibt es für die Kriminalwissenschaft und -politik also nichts zu gewinnen, aber viel zu verlieren.
Alternativen
Der Begriff der „Clankriminalität“ kann ohne weiteres durch die (ebenfalls nicht unproblematischen, aber entwicklungsfähigen) Konzepte der Banden- und der Organisierten Kriminalität bzw. der Netzwerk-Kriminalität ersetzt werden. Soweit die Begehung von Straftaten einen funktionalen Bezug zu einer familiären Verbindung hat, (z. B. durch arbeitsteiliges Vorgehen, die Nutzung der Verwandtschaftsbeziehung als Vertrauensbasis oder den Einsatz des Familiennamens als „Marke“), hält die OK-Forschung hierfür Modelle bereit.5) Auch die Neigung, den offenen Konflikt mit der Staatsmacht zu suchen (etwa durch Provokation sog. „Tumultlagen“) oder die Bevölkerung einzuschüchtern, könnte man ohne ethnische Grundierung als präzisierendes Merkmal in Betracht ziehen.
Fazit
Der Begriff der „Clankriminalität“ ist – gleichgültig welche der zahlreichen Definitionsvorschläge man heranzieht – von diffusen und nicht subsumtionsfähigen Merkmalen wie insbesondere jenem der „Ethnie“ oder der „ethnischen Abschottung“ bzw. neuerdings dem „gemeinsamen Abstammungsverständnis“ abhängig und basiert auf wissenschaftlich nicht fundierten Annahmen über „kulturelle Eigenheiten“ bzw. das „Gefahrenpotenzial“ bestimmter „Ethnien“ bzw. „Gruppen mit gemeinsamem Abstammungsverständnis“.
Soweit Definitionen von „Clankriminalität“ Anleihen beim Begriff der „Organisierten Kriminalität“ machen, ist das Verhältnis beider Begriffe ungeklärt6) und der Nutzen des „Clan“-Begriffs – von einer „ethnisch“ bzw. mit dem „Abstammungsverständnis“ konnotierten Abwertung der damit belegten Bevölkerungsgruppen abgesehen – nicht erkennbar. Soweit z. T. gänzlich auf einen Bezug zum Begriff der „Organisierten Kriminalität“ verzichtet und auch Fälle von Alltagskriminalität und sogar Ordnungswidrigkeiten erfasst werden (wie etwa im Lagebild Clankriminalität NRW), ebnet dies den Weg in eine repressive Sonderbehandlung bestimmter ethnischer Minderheitengruppen.
Es wird vor dem Hintergrund der vorstehenden Kritikpunkte empfohlen, auf die Verknüpfung „ethnischer“ bzw. auf das „Abstammungsverständnis“ bezogener Merkmale mit Straftaten sowohl in der Polizei- und Justizarbeit selbst als auch bei deren öffentlicher Darstellung gänzlich zu verzichten und stattdessen kriminologisch fundierte(re) Begriffe zu verwenden. Diese Forderung ist dem erwartbaren Einwand ausgesetzt, die sog. „Clankriminalität“ zu verharmlosen und aus ideologischen Gründen („political correctness“) verschweigen zu wollen. Tatsächlich liegt aber gerade hierin ein ideologischer Reflex – nur unter den umgekehrten Vorzeichen: Für eine bestimmte Strategie der Innenpolitik, deren Effektivität unbewiesen und zweifelhaft ist, wird bedingungslose, unkritische Zustimmung eingefordert. Wer in unsachgemäßer Weise mit dem Begriff der „Clankriminalität“ operiert, sagt eben im Zweifel nicht neutral „Was ist“, sondern schafft dadurch ein verzerrtes (Feind-)Bild der tatsächlichen Sicherheitslage. Dies mag nach den Regeln des politischen Handwerks zur eigenen Profilierung kunstgerecht sein, kann aber nicht auf kriminalwissenschaftlichen Beifall hoffen. Tatsächliche Fortschritte bei der Zurückdrängung krimineller Strukturen setzen eine sorgfältige Koordinierung von präventivem, repressivem und restitutivem (§§ 73 ff. StGB) staatlichem Eingreifen voraus, das durch eine entsprechende Ausstattung, Ausbildung und Besoldung der handelnden Beamt:innen sowie von unterstützenden sozial- und stadtentwicklungspolitischen Anstrengungen unterlegt sein muss. Holzschnittartige „Ethnien“- bzw. „Abstammungs“-Kunde und kriminalbiologisches Budengeläut können hierzu nichts beitragen.
References
↑1 | Auf S. 23 des Bundeslagebilds ist vermerkt, dass in Niedersachsen abweichend von der „Bundes-Definition“ weiter ein eigener Begriff verwendet wird. Z. T. nehmen die Länder bestimmte „Gruppen mit gemeinsamem Abstammungsverständnis“ auch einfach wieder aus der Betrachtung von „Clankriminalität“ heraus, so z. B. Bayern für Italiener:innen (Gemeinsames Lagebild Justiz/Polizei zur Organisierten Kriminalität in Bayern 2021, S. 19.) Noch weiter geht NRW, das im Lagebild Clankriminalität 2021 ausdrücklich ankündigt, die Definition nur auf Menschen „mit türkisch-arabischstämmigen Migrationshintergrund“ und „Bezügen zum Libanon“ anzuwenden, was letztlich einer Nicht-Anwendung der Definition gleichkommt. Ähnlich ist es in Berlin, wo in den Lagebildern zur „Clankriminalität“ lediglich „arabischstämmige“ Menschen in den Blick geraten. |
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↑2 | Einführend Brubaker, |