Full House in Karlsruhe
Tag 1 der mündlichen Verhandlung des BVerfG über die Wahlrechtsreform
Gestern begann die mit Spannung erwartete mündliche Verhandlung des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition. Zwei Tage verhandelt der Zweite Senat über die Frage, ob die Einführung der Zweitstimmendeckung und der Wegfall der Grundmandatsklausel mit dem Grundgesetz vereinbar sind oder nicht. Viel Prominenz aus Politik und deutscher Staatsrechtlehre1) sorgen für – so hat es Vizepräsidentin Doris König ausgedrückt – „Full House“ in Karlsruhe. Nach einem humorvollen Auftakt dürften die Beteiligten versuchen, am heutigen zweiten Tag ihre Asse auszuspielen: Verstößt die Zweitstimmendeckung gegen die Gleichheit der Wahl? Lässt sich die Sperrwirkung der 5%-Sperrklausel noch rechtfertigen?
Prozessuale Gemengelage
Gleich drei verschiedene Verfahrensarten werden gleichzeitig verhandelt: zwei abstrakte Normenkontrollverfahren, drei Organstreitverfahren und zwei Verfassungsbeschwerdeverfahren. In der Zulässigkeit wurden im Wesentlichen der Fristbeginn und das Rechtsschutzbedürfnis erörtert. Offenbar hatte die Linksfraktion für ihren Organstreitantrag einen (zu) späten Schriftsatz eingereicht. Den Versuch, insoweit auf das Inkrafttreten des Gesetzes abzustellen, konnte Sophie Schönberger mit dem Wortlaut des § 64 Abs. 3 BVerfGG („bekannt geworden“) erfolgreich parieren. Mit Blick auf das Rechtsschutzbedürfnis dürfte der Organstreitantrag der inzwischen aufgelösten Linksfraktion unzulässig sein, auch wenn Christian Kirchberg eine originelle, aber abwegige Anleihe zur intertemporalen Freiheitssicherung anführte. Ebenfalls wurde thematisiert, inwieweit Parteien von der Zweitstimmendeckung unmittelbar betroffen sind und wann die Beschwerdefrist nach § 93 Abs. 3 BVerfGG in Bezug auf die Überprüfung der 5%-Sperrklausel beginnt. Im Kontext der Organstreitverfahren der Parteien CSU und Die Linke wurde zudem problematisiert, inwiefern in diesen Verfahren nur Rechte aus Art. 21 GG eine Rolle spielen und nicht etwa auch Mängel im Gesetzgebungsverfahren. Einer „Elfes-Konstruktion über Art. 21 GG“ konnte der Zweite Senat aber wohl nichts abgewinnen.
Für die Entscheidung werden die Zulässigkeitsfragen im Ergebnis nur von begrenzter (materieller) Relevanz sein: Das abstrakte Normenkontrollverfahren ermöglicht dem Zweiten Senat eine – vorbehaltlich des bisher noch nicht konkretisierten Prüfungsmaßstabs – umfassende verfassungsrechtliche Überprüfung des neuen Wahlrechts.
Überraschend oder gar überhastet?
So überraschend wie der Wegfall der Grundmandatsklausel im Gesetzgebungsverfahren entwickelte sich auch die Länge der Diskussion zur formellen Verfassungsmäßigkeit. Der Zweite Senat schien sich in seinen Fragen erkennbar zu bemühen, seine Ausführungen zum Ablauf des Gesetzgebungsverfahrens aus zwei Verfahren des letzten Jahres2) als restriktive Missbrauchsgrenze zu verstehen. Denn die Antragsteller und Beschwerdeführer rekurrierten wiederholt darauf, sie seien von der Streichung der Grundmandatsklausel erst in der Abstimmungswoche überrumpelt worden und hätten sich insbesondere mit den weitreichenden Folgen nicht in hinreichender Ausführlichkeit befassen können. Dagegen wiesen die Antragsgegner unbestritten darauf hin, das Wahlrecht sei geschäftsordnungskonform beschlossen und das Verfahren nicht missbräuchlich gestaltet worden.
Einig waren sich alle Verfahrensbeteiligten jedenfalls darin, dass sich der Verfassung keine starren (Mindest-)Fristen in Form von einer konkreten Anzahl an Tagen oder Stunden entnehmen lasse. Während die Vertreter des Bundestages und der Bundesregierung die verfassungsrechtlich – in Art. 40 Abs. 1 S. 2 GG – verbriefte Verfahrensautonomie betonten, hielt dem die Gegenseite mit Blick auf ein zeitliches Beratungsmoment zweierlei entgegen: Zum einen erfordern die Rechte des einzelnen Abgeordneten aus Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG einen ausreichenden Beratungszeitraum, damit sich jeder einzelne (auch und insbesondere: fraktions- und gruppenlose) Abgeordnete in die neue Materie einarbeiten könne. Zum anderen wurde diskutiert, inwiefern von Verfassungs wegen über die inhaltliche Meinungsbildung des Abgeordneten hinaus auch weitere Zeit für eine Rückkopplung mit der Öffentlichkeit einzuräumen sei.
Neben diesem zeitlichen Aspekt gingen die Meinungen auch darüber auseinander, wie eine inhaltliche Auseinandersetzung auszusehen habe, um eine hinreichende Beratung annehmen zu können, die einer „Überrumpelung“ entgegenstehe. Vizepräsidentin Doris König wies darauf hin, dass die allgemeine Diskussion um die Wahlrechtsreform jedenfalls nicht ausreichen könne. Insofern müsse es auf die konkrete Diskussion mit Blick auf die Grundmandatsklausel ankommen. Ob dazu die Diskussion zur Grundmandatsklausel per se ausreichen könne oder erst konkrete Überlegungen zu den Folgen der Streichung der Grundmandatsklausel im Detail eine hinreichende Beratung darstellen könnten, wurde jedoch nicht übereinstimmend geklärt. Bernd Grzeszick wies zutreffend darauf hin, dass die Grundmandatsklausel in den Sachverständigenanhörungen nur systemqualifizierend, nicht aber ihre Abschaffung diskutiert wurde.
Richterin Christine Langenfeld stellte die Erwägung an, das Änderungsvorhaben bilde mit Blick auf den Wegfall der Grundmandatsklausel aus Anlass der Sachverständigenanhörung doch geradezu den Idealfall der Ausschussarbeit. Die Überlegung, ob die Koalitionsfraktionen im Reformprozess nicht mit der Zusicherung dahingehend, sie würden die Grundmandatsklausel nicht antasten, einen relevanten Vertrauenstatbestand geschaffen hätten, der jedenfalls einer übereilten (Um-)Entscheidung entgegenstehe, trat Jelena von Achenbach mit dem Argument entgegen, der naturgemäß ergebnisoffene und auf Veränderung angelegte Gesetzgebungsprozess, in dem Änderungen funktionsnotwendig seien, sei das genaue Gegenteil von Vertrauen.
Wie bedeutend ist die Wahlkreiswahl?
Nach der Mittagspause kamen die drei Sachverständigen aus der Politikwissenschaft zum Zuge. Während Hans Vorländer (TU Dresden) allgemein zu den Aspekten der Repräsentation, Integration und Legitimation der Wahl ausführte, die schließlich in seinem Postulat eines lesbaren, dauerhaften und fairen Wahlrechts mündeten, zweifelte Frank Decker (Universität Bonn) die hervorgehobene Bedeutung der Wahlkreiswahl aus politikwissenschaftlicher Sicht an. So hätten auch Listenabgeordnete eine starke Wahlkreisbindung, eine Empirie für eine größere Unabhängigkeit der Wahlkreisabgeordneten lasse sich gerade nicht erkennen und meist sei bei der Erststimme eben nicht die Persönlichkeit, sondern die Parteizugehörigkeit ausschlaggebend. Zudem genügen den Wahlkreisbewerbern immer schmalere Siege für einen Mandatsgewinn.
Auf die vermeintlich geringere Legitimation durch schwächere Erststimmenergebnisse verwies auch Thorsten Faas (FU Berlin). Er gestand dem bisherigen Erfolgsmodell der personalisierten Verhältniswahl zwar ein hohes Ansehen zu, sodass Neuseeland dieses System sogar übernommen habe. Gleichwohl könne der Zielkonflikt zwischen Proportionalität, Garantie der Wahlkreiszuteilung und Sollgröße des Bundestages auch anders aufgelöst werden. Nach dem bisherigen System wurden Abstriche bei der Sollgröße und im Fall von nicht ausgeglichenen Überhangmandaten auch bei der Proportionalität hingenommen. Nun sei das Modell quasi entgegengesetzt, indem lediglich die Wahlkreiszuteilung nicht garantiert werde, die beiden anderen Ziele aber erfüllt werden.
Klingt plausibel, aber fühlt sich nicht so an
Mit Blick auf den doppelten Boden der Grundmandatsklausel vermochten die Sachverständigen nicht zu begründen, warum nur die Region, nicht aber andere deskriptive oder soziokulturelle Merkmale berücksichtigt werden. Ulrich Maidowski sprach insofern wohl vielen aus der Seele: „klingt plausibel, aber fühlt sich nicht so an“. Der zweite Verhandlungstag dürfte der Frage nachgehen, wie dieses Gefühl in ein rechtliches Fundament gegossen werden kann. Insofern bieten sich z.B. die Integrationsfunktion der Wahl oder das Bundesstaatsprinzip an. Denn wenn die CSU bei der letzten Wahl an der 5%-Sperrklausel gescheitert wäre, hätte nicht nur sie keine Abgeordneten in den Bundestag geschickt, sondern wäre ganz Bayern überhaupt nur mit 65 statt 98 Abgeordneten vertreten.
Art. 38 Abs. 3 GG zwischen Gestaltungsfreiheit und -grenze
Schließlich wendete sich die mündliche Verhandlung am späten Nachmittag erstmals der Prüfung der materiellen Verfassungsmäßigkeit zu. Kern der Auseinandersetzung war die Frage, wie weit der Gestaltungsauftrag des Art. 38 Abs. 3 GG reicht. Markus Möstl führte zu der vom BVerfG in ständiger Rechtsprechung betonten gesetzgeberischen Freiheit aus Art. 38 Abs. 3 GG aus, das Grundgesetz enthalte an dieser empfindlichen Stelle eine missbrauchsanfällige Lücke, die im Interesse des Gebotes der Resilienz der demokratischen Grundordnung zu schließen sei. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers mit Blick auf das Wahlrecht stelle sich demnach als gebundene Freiheit dar. Sie sei insbesondere durch die Integrationsfunktion begrenzt, der nur ein möglichst beständiges Wahlrecht gerecht werde. Der bereits vom VerfGH NRW geforderte sachliche Grund, dem eine Änderung des Wahlrechts dienen müsse, reiche jedoch nicht aus. Vielmehr gelte für Änderungen des Bundeswahlrechts eine gleitende Hürde: Je gravierender die Auswirkungen der Änderungen und je weniger konsensual sie beschlossen worden seien, desto schwerer müssten die Gründe für eine Änderung des Wahlrechts wiegen. Die Nachfrage der Vizepräsidentin Doris König zur normativen Verortung dieser Hürden spielte Markus Möstl an den Zweiten Senat zurück: „Das ist jetzt Ihre Aufgabe.“
Heinrich Lang versuchte, den Zweiten Senat von einem vollkommen neuen dogmatischen Konzept zu überzeugen. Danach sei die Gleichheit der Wahl aus Art. 38 Abs. 1 S. 1 GG nur der Maßstab für einfache Wahlrechtsmodifikationen. Im Falle eines Systemwechsels könne dieser Gleichheitsmaßstab für eine derart grundlegende Änderung gerade nicht bemüht werden. Diese Maßstabslücke müsse unter Zuhilfenahme der aus Art. 21 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 3 Abs. 1 GG folgenden Chancengleichheit der Parteien geschlossen werden. Dieser Maßstab enthalte – nur, aber immerhin – das Verbot einer den politischen Wettbewerb beeinträchtigenden Gegnerbenachteiligung. Trotz des argumentativen Aufwands komme es darauf hier aber nicht an, weil schon kein (echter) Systemwechsel vorliege.
Dem zeigten sich nicht nur die Prozessvertreter der Antragsgegner skeptisch gegenüber, die darauf verwiesen, es sei gerade die in Art. 38 Abs. 3 GG adressierte Aufgabe des Gesetzgebers, durch Operationalisierung und Konkretisierung der Wahlrechtsgrundsätze die Wettbewerbsbedingungen innerhalb einer vielfältigen Parteienlandschaft auszugestalten. Auch die Mitglieder des Zweiten Senats hinterfragten die wenig konkreten und besonders auslegungsbedürftigen Topoi des dogmatischen Konzepts.
Gleichwohl wurde verschiedentlich von der Richterbank aus die Erwägung aufgegriffen, ob die Integrationsfunktion eine Grenze des Gestaltungsspielraums darstellen könne. Dem trat insbesondere Sophie Schönberger unter Hinweis auf die Rechtsprechung des BVerfG entgegen, die dem Gesetzgeber (sogar) eine Systemwahlentscheidung zubillige. Wenn man einen rechtfertigenden Grund für die Änderung fordere, müsse man erklären, was der Wert der Rechtfertigung sei, also was genau der sachliche Grund rechtfertigen müsse. Diese Annahme liefe mithin auf eine „politische Totalkontrolle des BVerfG“ hinaus.
Entscheidend ist die Subsumtion
Der erste Verhandlungstag dürfte noch keine Entscheidung vorzeichnen. Der Zweite Senat neigt wohl dazu, weder seine Rechtsprechung bei (vermeintlich) überhasteten Gesetzgebungsverfahren auszuweiten noch eine neue Maßstabsbildung im Kontext des Art. 38 Abs. 3 GG vorzunehmen. Entscheidend wird die Subsumtion der Zweitstimmendeckung und der 5%-Sperrklausel unter die bereits bekannten Maßstäbe der Wahlrechtsgrundsätze sein.
In einer früheren Version dieses Textes war von einer „Lüth-Konstruktion über Art. 21 GG“ anstatt von einer „Elfes-Konstruktion” die Rede. Die Stelle wurde entsprechend korrigiert.
References
↑1 | Professor Markus Möstl für die bayerische Staatsregierung, Professor Bernd Grzeszick und Professor Heinrich Lang für die 195 Abgeordneten der CDU-/CSU-Bundestagsfraktion sowie die CDU, Professor Kyrill-Alexander Schwarz für die CSU, Professor Florian Meinel, Professor Christoph Möllers und Professorin Jelena von Achenbach für den Deutschen Bundestag, Professorin Sophie Schönberger für die Bundesregierung sowie Professor Thorsten Kingreen für 4242 Beschwerdeführer im Wege der Verfassungsbeschwerde. Professor Christian Kirchberg und Dr. Gregor Gysi MdB vertreten sowohl die (inzwischen aufgelöste) Fraktion Die Linke im Deutschen Bundestag und die Partei Die Linke als auch 202 Beschwerdeführer im Wege der Verfassungsbeschwerde. |
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↑2 | Zum erfolgreichen Eilantrag gegen die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens zum Gebäudeenergiegesetz BVerfG NJW 2023, 2561 ff. Zuvor schon offengelassen bei der Anhebung der „absoluten Obergrenze“ für die staatliche Parteienfinanzierung, siehe BVerfG NVwZ 2023, 407 (409 Rn. 97 ff.). |
Noch einige Ergänzungen zum ersten Verhandlungstag:
In seinem humorvollen Auftritt hat Gregor Gysi auf einen Mangel hingewiesen, mit dem der gewünschte Effekt der Wahlreform ausgehebelt und ad absurdum geführt werden kann. Unabhängigen Direktkandidaten droht nicht das Streichen des Direktmandats, wenn “ihre Partei” nicht 5% der Zweitstimmen erhält. Dies bedeutet einen starken Anreiz gerade für Direktkandidaten kleiner Parteien (bis zur CSU Größe) nicht als Parteikandidaten sondern als formal Unabhängige im Wahlkreis zu kandidieren, wenn ihre Partei dort auf eigene Direktkandidaten verzichtet. Nebeneffekt wäre, dass dadurch weiterhin Überhangmandate entstehen können, die im neuen Gesetz nicht einmal mehr ausgeglichen würden.
Bei der mutmaßlich verfristeten Organklage der Linksfraktion hat Gregor Gysi immerhin auf einen Mangel in der Fristenregelung von § 64 Abs. 3 BVerfGG aufmerksam gemacht, die zu einer Klage oder Klagevorbereitung zwingen kann, bevor das Gesetz Gesetz geworden ist.
Die mögliche Verfristung erklärt aber auch, warum neben Fraktion und Partei auch eine Gruppe linker Wahlberechtigter klagt. Ein weiteres Eisen im Feuer. Immerhin befinden wir uns auch heute noch innerhalb der Jahresfrist für Verfassungsbeschwerden.
Erstaunlich fand ich die Diskussion über die Verfristung (Jahresfrist) bei der Verfassungsbeschwerde von Mehr Demokratie. Eine Sperrklausel mit zwei Oder-verknüpften Eingangsmöglichkeiten wurde durch das Streichen einer der Möglichkeit verschärft und führt nun zu einer neuen, effektiv höheren Sperrklausel, gegen die geklagt wurde.
Zur Überrumpelung durch die 180° Wendung mit der Streichung der Grundmandatsklausel hat Friedrich Merz an einer Stelle seine Überraschung etwas unabsichtlich ziemlich deutlich gemacht. Er wollte über eine Verschärfung der Grundmandatsklausel von einer Dreisitz- zu einer Fünfsitzerfordernis verhandeln, also auf ein Maß, dass die Linkspartei nicht und die CSU ohne Probleme erfüllen kann. Die Ampel ist hier über das Ziel hinausgeschossen indem Sie auch der CSU diese Möglichkeit genommen hat.
Positiv zu werten dürfte schließlich der Auftritt der unabhängigen Dritten, alles Politikwissenschaftler sein, die empirisch die angeblich herausragende Rolle der Wahlkreisabgeordneten auf Normalmaß zurechtgerückt haben.
Interessant waren auch die Ausführungen, dass Sperrklauseln nicht mehr wie früher, die Ränder schwächen und die demokratische Mitte stärken, sondern im Gegensatz Randparteien stärken.
Die Umstellung des Wahlrechts immer stärker in Richtung Verhältniswahl gefährdet perspektivisch die Möglichkeit von Abgeordneten, ihr Mandat im Sinne des Artikels 38 GG (1) auszuüben.
Grundgesetz
Artikel 38
(1) Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
Bundeswahlgesetz
Wahlsystem
§ 1 Zusammensetzung des Deutschen Bundestages und Wahlrechtsgrundsätze
(1) Der Deutsche Bundestag besteht … aus … Abgeordneten. Sie werden … nach den Grundsätzen einer mit der Personenwahl verbundenen Verhältniswahl gewählt.
(2) Von den Abgeordneten werden … nach Kreiswahlvorschlägen in den Wahlkreisen und die übrigen nach Landesvorschlägen (Landeslisten) gewählt.
Abgeordnete stehen in einem Spannungsverhältnis der Loyalität zu Parteien und zu Wählerinnen und Wählern.
Zur Zeit haben wir Abgeordnete, die zum Teil (idealerweise jeweils zur Hälfte) in Mehrheitswahl und zum anderen Teil nach Verhältniswahl gewählt werden. Abgeordneten, die anhand einer Parteiliste in den Bundestag gewählt werden, wird von Parteiführungen vorgehalten, dass sie nur/hauptsächlich aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit ihr Mandat erhalten und deshalb die Fraktionsdisziplin einhalten müssten. Die Ausübung ihres Mandates im Sinne von Artikel 38 wird aufgrund dessen, dass sie als Parteimitglieder gewählt wurden – begründet – eingeschränkt. Abgeordnete, die in einem Wahlkreis ein Direktmandat durch Mehrheitswahl errungen haben, können dagegen mit guten Argumenten für sich beanspruchen, aufgrund ihrer Persönlichkeit von den Wählerinnen und Wählern bestimmt worden zu sein und dadurch ein stärkeres Maß an Wählerbindung als an Parteienbindung zu haben. Der Grad, indem sich Abgeordnete des Deutschen Bundestages auf ihr unabhängiges und ihrem Gewissen verpflichtetes Entscheiden berufen können, hängt von ihrem Status als durch Mehrheitswahl oder durch Parteienliste bestimmt worden zu sein ab.
Wenn Parteien das Wahlrecht in immer stärkerer Weise in Richtung Verhältniswahl umstellen, sorgen sie dafür, dass immer weniger Abgeordnete ihr Mandat frei und alleine ihrem Gewissen unterworfen ausüben können. Die Ausübung des Mandates im Sinne des Grundgesetzes erfordert, dass es eine ausgewogenes Verhältnis von Abgeordneten nach Verhältniswahl und nach Mehrheitswahl gibt.
Die Aufblähung des Bundestages durch eine Umstellung auf ein stärkeres Verhältniswahlsystem zu verhindern, ist kein adäquates und auch kein notwendiges Mittel. Es führt zur Nivellierung, Angepasstheit und verhindert die Entwicklung charismatischer Persönlichkeiten und deren Bereicherung der Politik. Der Gesetzgeber kann die Größe des Bundestages auch durch eine Änderung der Größen/Zuschnitte der Wahlkreise regeln.
Frank Decker (Universität Bonn) ignoriert, dass es in der Tat Abgeordnete gibt, die aufgrund ihrer Persönlichkeit und nicht aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit gewählt wurden. Dass eine Tendenz zur stärkeren Betonung der Parteizugehörigkeit besteht, kann empirisch zutreffend sein, es läuft aber den Zielen des Artikel 38 entgegen. Um diese Tendenz abzumildern, ist es umso wichtiger, gegenzusteuern.
Die Rolle der direkt gewählten Abgeordneten wird mMn. komplett überhöht dargestellt. Befrage 1000 Wähler und die Mehrheit wird nicht einmal den Namen „ihres“ Abgeordneten kennen, selbst wenn sie ihn gewählt haben.
Ich möchte mal das Beispiel Siegfried Kauder erwähnen: Er hat 2005 und 2009 sehr gute Ergebnisse im Bereich um die 50% erzielt. Als er 2013 als Unabhängiger antratt, erreichte er nur noch 3%.
Ich stelle deswegen auch die These in den Raum, dass, würden die CSU-Kandidaten in Bayern als Unabhängige kandidieren, sie würden erheblich weniger Stimmen erhalten würden, als derzeit. Einfach weil der „durchschnittlich uninformierte“ Wähler nicht den Wahlzettel bis nach unten durchliest und er spätestens dann durcheinander kommen würde, wenn andere Parteien den gleichen Trick anwenden.
Dass die Wähler nur selten die Direktkandidaten bzw. Abgeordneten kennen, und das kaum eine Entscheidungsgrundlage bei der Erststimmenwahl ist, war eines der vorgestellten Ergebnisse der Sachverständigen.
Aber dass unabhängige CSU Kandidaten (oder Gregor Gysi) ähnlich schlecht wie Siegfried Kauder als Unabhängiger abschneiden werden, glaube ich aber nicht. Denn im Gegensatz zum echten Unabhängigen, treten diese Kandidaten nicht gegen einen Kandidaten ihrer Partei an, sondern sind dies de facto weiter selbst, wenn auch mit ungewohntem Platz auf dem Stimmzettel, auf die die Partei die Wähler im Wahlkampf hinweisen wird.
Die Ungleichbehandlung der Unabhängigen führt hier zu einem starken Anreiz zu einer solchen Kandidatur.