06 April 2022

Für den Frieden rüsten?

Die Zeitenwende für eine nachhaltige Friedensordnung in Europa

In der politischen Debatte um die ausgerufene Zeitenwende in der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik bilden sich bereits erste Lehrsätze heraus, die für die zukünftige Politik eine veritable Belastung bedeuten könnten: Einer davon ist, dass der Ukrainekrieg zeige, dass Diplomatie und kooperative Sicherheit gescheitert und nur Abschreckung und Wehrhaftigkeit helfen würden, den Frieden in Europa wiederherzustellen bzw. abzusichern. Der andere lautet in etwa, dass Wandel durch Handel (bzw., im Original: durch Annäherung), d.h. die Ideen von Friedensförderung durch wechselseitige Verflechtung, endgültig diskreditiert bzw. durch den Krieg als politischer Mythos entlarvt worden seien.

Aus der Aussage des Bundeskanzlers am 27. Februar 2022, dass veränderte Zeiten auch eine veränderte Politik verlangen, wird so gern ein Plädoyer für eine primär militärische, auf Abschreckung zielende Politik abgeleitet, die sich nun endlich wieder an den politischen Realitäten orientiere könne, ganz wie es Vertreter des Realismus in den Internationalen Beziehungen, wie etwa John Mearsheimer fordern, aber auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler anklingen lässt. Es ist geradezu atemberaubend, wie in kürzester Zeit in dieser Debatte ganze Denktraditionen mit offenkundiger Begeisterung zu Grabe getragen werden, ohne dass kritisch hinterfragt wird, ob dies gerechtfertigt ist: Zeigt der Ukrainekrieg denn wirklich, dass Diplomatie oder der Interdependenzansatz gescheitert ist? Wie klug kann eine Politik sein, die per „Zeitenwende“ einfach das Gegenteil des Vorangegangenen in Szene setzen will? Wer die Strategielosigkeit deutscher Außen- und Sicherheitspolitik beklagt, wie das in dieser blog series so viele tun, dem oder der muss doch genau dies deutlich aufstoßen. Genau hier setzt dieser Beitrag an, um aufzuzeigen, dass Frieden nicht allein auf militärischer Abschreckung und Eindämmung gegründet werden kann, sondern auf Interdependenz und Kooperation in gemeinsamen Institutionen angewiesen ist, wenn er nachhaltig sein soll. Wer Frieden will, muss sich mithin für den Frieden rüsten, militärisch und politisch!

Haben Diplomatie und Kooperation versagt?

Das Versagen von Diplomatie und Kooperation wird gemeinhin an zwei, allerdings eher gegensätzlichen Argumenten festgemacht: Das erste geht davon aus, dass der Westen Putins Aggression jahrzehntelang unterschätzt oder verdrängt habe und mit Appeasement auf die russische Aggression reagiert hätte, wo Abschreckung und Eindämmung nötig gewesen wären, vulgo: Spätestens mit der russischen Annexion der Krim. Dieses Argument verweist auf Putins Texte und Reden über ein neues russisches Imperium und seine Verneinung eines Staatsanspruchs der Ukraine, die alle lang bekannt waren.

Das zweite Argument entspringt eher der geopolitisch argumentierenden Realistischen Denkschule der Internationalen Beziehungen und sieht das Versagen viel grundlegender, denn hier ist es der Glaube an Kooperation per se, der verantwortlich ist: In diesem Argument geht es nicht um die Aggression Putins, sondern des Westens, allen voran der USA, ihren Einflussbereich vermittels der Nato immer weiter in den Osten und damit an die Türschwelle Russlands ausgedehnt zu haben. Der Fehler des Westens liegt demzufolge darin übersehen zu haben, dass Russland als Großmacht keinen an den Westen orientierten Staat an seinen Grenzen dulden würde. Diese Kritik verweist auf die berühmte Brandrede Putins auf der Sicherheitskonferenz 2007, in der er die Nato davor warnte, Georgien oder die Ukraine aufzunehmen. Der Krieg mit Georgien 2008 und die Annexion der Krim 2014 sowie die Destabilisierung im Donbass waren in dieser Perspektive klare Signale, dass rote Linien überschritten würden, die der Westen ignorierte. Der Westen hat insofern die Realitäten von Großmachtpolitik nicht beachtet und dafür zahlt die Ukraine nun den Preis. „It’s not imperialism; this is great-power politics“, wie John Mearsheimer es so prägnant im Interview mit dem New Yorker formulierte.

Je nach Argument war es also entweder das Appeasement gegenüber Russland oder Aggression gegenüber Russland, die diesen Krieg (mit-)hervorgebracht haben. Einig sind sich beide Argumentationslinien darin, dass sie die Idee einer kooperativen Sicherheitsordnung mit Russland in Europa kritisieren als Illusion oder gleich als Fehler. Dabei übersehen beide aber großzügig alle Leistungen dieser Ordnung.

Die verkannten Leistungen der kooperativen Sicherheitsordnung

Mit der Implosion der Sowjetunion bzw. des Ostblocks in den späten 1980er Jahren setzte die strategische Debatte über den Umgang mit der Sowjetunion ein: Containment oder Integration war eine der zentralen Fragen. Letztlich war es nicht zuletzt das Ziel einer raschen Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten, die der Integration und das heißt einer kooperativen Sicherheitsstruktur in Europa den Vorzug gab. Denn ohne die Zustimmung der Sowjetunion wäre das nicht möglich gewesen. Mit der Transformation der Helsinki Schlussakte von 1975 in ein bindendes Vertragssystem, niedergelegt und umgesetzt durch die Charta von Paris von 1990, die OSZE und den Europarat, wurde eine Ordnung etabliert, die auf den Pfeilern territoriale Integrität, souveräne Gleichheit und der Pflicht zur friedlichen Konfliktbeilegung gründet. Diese kooperative Sicherheitsordnung, abgestützt durch gemeinsame Rüstungskontrollabkommen und vertrauensbildende Maßnahmen sowie die Förderung von Demokratie und Menschenrechten, schaffte die Rahmenbedingungen für den Übergang zu einer Friedensordnung in Europa: Sie ermöglichte die Liberalisierungs- und Demokratisierungswellen in Ost- und Mitteleuropa und sie sorgte für die schnelle Wiedervereinigung zwischen DDR und Bundesrepublik. Ohne Bekenntnis zu kooperativer Sicherheit wäre das in dieser Zeitspanne nicht denkbar gewesen.

Die kooperative Sicherheitsordnung hat gleichwohl nicht gehalten. Die Probleme setzten bereits Ende der 1990er Jahre ein und verschärften sich in den 2000er Jahren. Ein Element darin waren auch die sukzessiven Erweiterungen von Nato und EU. In den 1990ern war das noch handhabbar, weil die Nato die Konsultation mit Russland über ihre Erweiterungen suchte und substanzielle Zugeständnisse machte (etwa die Versicherung, keine permanente Truppenstationierung in den osteuropäischen Nato-Staaten vorzunehmen oder später die Einrichtung des Nato-Russland-Rates in Reaktion auf die Aufnahme der baltischen Staaten). Die Rolle der Nato in den Balkankriegen, die immer deutlichere Anlehnung Georgiens und der Ukraine an Westeuropa und Nato sorgten allerdings dafür, dass die Spannungen und Krisen sich zusehends verschärften. Unter Putin als Präsident wurden schließlich die Androhung militärischer Gewalt und ihre Anwendung wieder möglich in Europa, in Tschetschenien, in Georgien und in der Ukraine in 2014 und heute.

Putins Invasion der Ukraine hat die kooperative Sicherheitsordnung in Europa zerstört, aber nicht diese war verantwortlich für diesen Krieg: Putin trägt die Verantwortung. Er wurde von niemandem gedrängt, er wurde nicht bedroht, er glaubte nur, damit durchzukommen. Er nahm an, der Westen sei weitestgehend mit sich selbst beschäftigt: Der überhastete Abzug aus Afghanistan im Sommer 2021, die Corona-wundgescheuerten liberalen Gesellschaften und nicht zuletzt die vielen Konflikte in der Europäischen Union boten eine Gelegenheit, die er willens war zu ergreifen. Mit anderen Worten: Gegen einen Aggressor, der gewillt ist, seine Interessen militärisch durchzusetzen, können Normen und Institutionen nichts ausrichten. So wenig wie innerstaatliche Normen alle und jedes Rechtssubjekt in jeder Situation dazu programmieren können, sie zu befolgen, so wenig können internationale Normen dies erreichen. Für diese „rogues“ existieren innerstaatlich die Sicherheitsbehörden und das Strafrecht, im internationalen Raum gibt es zwar das internationale Recht und das Völkerstrafrecht. Vergleichbare Sicherheitsbehörden aber gibt es nicht, sondern nur die dezentrale Rechtsdurchsetzung durch Sanktion und Gewalt, d.h. militärische und zivile Zwangsmaßnahmen bzw. deren glaubwürdige Androhung.

„Rogues“ in politischen Ordnungen

Worauf sollten nun aber politische Ordnungen gegründet werden? Auf die wenigen „rogues“ oder die durchschnittlichen Regelbefolger? Für innerstaatliche Ordnungen existiert weitgehend Einigkeit, dass es nicht sinnvoll ist, Ordnungen an den wenigen „rogues“ auszurichten. Zu teuer, zu repressiv und dadurch zu instabil wären die daraus resultierenden Ordnungen, von ihrer normativen Qualität ganz zu schweigen. Müssten sich internationale Ordnungen stattdessen, weil potente „rogues“ im Ernstfall über Massenvernichtungswaffen verfügen, stattdessen an diesen „rogues“ ausrichten? Letztlich gilt eine ähnliche Abwägung: Ordnungen, die allein auf Repression, d.h. Abschreckung setzen, sind nicht nur teuer, sondern auch weniger stabil. Die vielen „near misses“ des Kalten Krieges, die bekannteren davon die Berlinblockade von 1948-1949, die Kubakrise von 1961 und die zweite Berlinkrise von 1958-1959, die die Welt an den Rand der nuklearen Vernichtung brachten, führen dies vor Augen. Auch international sind mithin diejenigen Ordnungen besser aufgestellt, die nicht allein auf Repression und Abschreckung setzen, sondern die zugleich ein Netz gemeinsamer Normen, Regeln und Verfahren pflegen, das die Interaktionen zwischen ihren Mitgliedern strukturiert. Dazu zählt auch die Förderung von Verflechtung zwischen ihren Mitgliedern, denn diese sind ein wesentlicher Faktor, um das Interesse an Kooperation zu stabilisieren und zugleich Wirkbedingung wirtschaftlicher Sanktionen bzw. ihrer glaubhaften Androhung.

Für eine zukünftige Friedensordnung wird darum mehr als militärische Abschreckung und Wehrfähigkeit benötigt, auch wenn diese unbedingt geboten sind, um den wenigen, aber potenten „rogues“ Einhalt zu gebieten. Um nachhaltig stabil zu sein, sind auch Verflechtung und gemeinsame Normen und Institutionen vonnöten, um diese zu managen. Angesichts der brutalisierten Kriegsführung des russischen Regimes in der Ukraine, den offensichtlichen Kriegsverbrechen in Mariupol oder jüngst in Butscha, ist diese neue Ordnung kaum mehr als ein Gedanke.

Kontrollierte Entflechtung

Gegenwärtig erleben wir vor allem den weiteren Abbau der alten Ordnung. Politisch lässt sich das im Ausschluss Russlands aus dem Europarat beobachten, in russischen Andeutungen, auch die OSZE oder etwa die verbleibenden Rüstungskontrollabkommen stünden zur Disposition und nicht zuletzt in dem durch die Sanktionspakete beschrittenen Pfad der Entflechtung der Volkwirtschaften voneinander. Mehr und mehr Firmen ziehen sich aus Russland zurück, selbst wenn sie nicht direkt von den Sanktionen betroffen sind, um zukünftigen Sanktionen zuvorzukommen oder eine negative Presse zu vermeiden. Darüber hinaus wird auch an einer längerfristigen Entflechtung, etwa im Bereich kritischer Infrastrukturen und Ressourcen, wie im Energiesektor, gearbeitet. Diese Form der kontrollierten Entflechtung ist notwendig, um zu verhindern, dass Russland die Verflechtung als Druckmittel im Konflikt nutzen kann. Dieses Phänomen von „weaponized interdependence“ tritt dann auf, wenn die wechselseitige Verflechtung extrem asymmetrisch ausgeprägt ist, d.h. dass eine Seite eine so zentrale Position in einem Netzwerk oder in einer Lieferkette einnehmen kann (beispielsweise über die Verfügung über Ressourcen), dass sie die andere Seite erpressen kann. Russland hat genau dies mit Blick auf die Energieversorgung in Europa bereits angedroht. Es ist aber beileibe kein russisches Phänomen, auch China hat dies im Bereich der Hochtechnologie versucht oder die USA im Bereich Finanzmarkttransaktionen: zu denken ist etwa an Europas hilflose Bemühungen, etwas gegen die Finanzsanktionen der USA gegenüber dem Iran zu unternehmen. Verflechtung erzeugt nicht automatisch positive Effekte für internationale Ordnungen, entscheidend sind deren Qualität und Form sowie ihre Absicherung.

Gefährlich wird es, wenn kontrollierte Entflechtung, d.h. der Abbau solcher extrem asymmetrischer Verflechtungen durch den Aufbau alternativer Lieferketten und eigener Redundanzen übergeht in eine unkontrollierte Entflechtung, in der wahllos weitere Verflechtungen zerstört werden. Tendenzen dazu sind gegenwärtig bereits sichtbar, etwa im Bereich der Kultur, Kunst oder der Wissenschaft, in der über die Absage an gemeinsame Programme und Austausch Kanäle in die jeweils andere Gesellschaft abhandenkommen. Dadurch wird die Fähigkeit geringer, Einblick in die jeweils andere Realität zu erhalten und dadurch auch Empathie füreinander zu entwickeln. Niemand muss sich mit Putin aussöhnen oder jenen, die Kriegsverbrechen begangen haben, die Hand reichen, und man kann dennoch konzedieren, dass es wichtig ist, Kontakt zu halten. Dies gilt umso mehr in einer Situation, in der hinlänglich bekannt ist, dass die russische Bevölkerung der pausenlosen Propaganda durch die eigene Führung ausgesetzt ist und nur wenige Möglichkeiten hat, an alternative Informationen zu gelangen.

Nun meinen viele, dass Interdependenz als Friedensstrategie per se diskreditiert sei durch diesen Krieg. Aber auch hier sagen die Erfahrungen etwas anderes. Abgesehen von stark asymmetrischen Interdependenzbeziehungen, in denen Akteure extrem ungleich verletzlich gegenüber einem Abbruch der Interdependenz sind, und insgesamt extrem starken Verflechtungen, die durch ihre Intensität eigene Konfliktherde erzeugen, sind etwa solche Interdependenzbeziehungen zwischen Großmächten, in denen beide Seiten erwarten, zukünftig Gewinne aus der Verflechtung zu ziehen, friedensfördernd, weil keine Seite ein Interesse daran hat, diese Gewinne zu riskieren. Das gilt natürlich nur, wenn dieses Risiko gegeben ist, d.h. ein Ausscheren aus der Kooperation mit der Erwartung signifikanter Vergeltung belegt ist.

Darin liegt der strategische Fehler, den man für die Vergangenheit im Umgang mit Putins Russland markieren könnte: Auf Kosten der Sicherheit wurden stark asymmetrische Interdependenzen zuungunsten des Westens eingegangen und versäumt, dafür Möglichkeiten der Vergeltung miteinzuplanen. Brandts Ostpolitik, die gern als Sinnbild für das Scheitern von Frieden durch Interdependenz herangezogen wird, war sich dessen noch bewusst. Ohne Abschreckung als Rahmen keine Annäherung. Das Ausscheren aus der Kooperation muss effektiv beobachtet und dann auch bearbeitet werden können, so dass alle „Partner“ sicher sein können, dass sie bei Ausscheren schwerwiegende Konsequenzen zu erwarten haben und dass diejenigen, die kooperieren, dabei nicht „ihren Kopf“ riskieren.

Die große strategische Aufgabe der Zeitenwende wird es sein, die Frage zu beantworten, wie beides, militärische Abschreckung und Kooperation, im 21. Jahrhundert, d.h. in einer hochgradig arbeitsteiligen Weltwirtschaft bei gleichzeitig hoher Informationsunsicherheit, zusammengedacht und -gebracht werden müssen.