Gegen obrigkeitsstaatliche Tendenzen in der Krise
Massive Freiheitseingriffe und deren Grundrechtliche Rechtfertigung
I. Der massiv eingreifende Staat unter grundrechtlichem Rechtfertigungsdruck
Die Grundentscheidung vor über vier Wochen, der Corona-Pandemie mit einem weitgehenden Lockdown zu begegnen, war trotz der für die Nachkriegszeit präzedenzlosen Grundrechtseinschränkungen – bei aller berechtigter Kritik an Formalitäten (siehe hier und hier) und auch einiger Einzelmaßnahmen (siehe hier und hier) – grundsätzlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Mehr noch, hätten die Bundes-und Landesregierungen einen Kurs verfolgt, der auf Grundrechtsbeschränkungen verzichtet hätte und der Pandemie freien Lauf gewährt hätte, um schnellstmöglich weitreichende Immunität und damit das relativ schnelle Ende der Pandemie bei möglichst geringem wirtschaftlichen Schaden zu erreichen, wäre eine solche Lösung auf der Basis der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Datenlage möglicherweise eine verfassungswidrige Verletzung der staatlichen Schutzplicht gegenüber dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit potentieller Opfer der Krankheit. Eine Fundamentalkritik des eingeschlagenen Kurses auf verfassungsrechtlicher Grundlage ist insoweit nicht nur verfehlt, es ist sogar umgekehrt so, dass jedenfalls die Grundrichtung des eingeschlagenen Weges verfassungsrechtlich geboten war. Das soll der folgenden Kritik als Prämisse vorausgeschickt sein. Generell geht es im Folgenden nicht darum, die Vornahme oder das Unterlassen der einen oder anderen Maßnahme der Regierung zu kritisieren, sondern eine grundsätzliche verfassungsrechtlich bis jetzt nicht im Vordergrund stehende dynamische Dimension des Grundrechtsschutzes hervorzuheben und einen für die Rechtfertigung von Regierungshandeln in Krisenzeiten angemessenen Rahmen zu entwickeln, auch um gefährlichen obrigkeitsstaatlichen Tendenzen entgegenzuwirken.
Die These ist die Folgende: Sofern die Exekutive in außergewöhnlichen Situationen ermächtigt ist, massive Grundrechtseingriffe vorzunehmen, dann ergeben sich aus den Grundrechten der Verfassung nicht nur negativ allgemein anerkannte materiellrechtliche Grenzen für jeden dieser Eingriffe (diese müssen insbesondere verhältnismäßig sein). Die Exekutive ist auch positiv verpflichtet alles tun, was erforderlich und verhältnismäßig ist, um die bestehende Situation möglichst zeitnah so zu verändern, dass die außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr oder nicht mehr in gleicher Intensität erforderlich sind und verantwortbar aufgehoben werden können. Als Korrelat zur krisenbedingten Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ergibt sich aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte eine Schutzpflicht des Staates, im Rahmen des Möglichen und nach Maßgabe dessen, was erforderlich und verhältnismäßig ist, eine Situation herbeizuführen, in der die Beschränkungen wieder aufgehoben werden können. Wenn das richtig sein sollte, hat das auch wichtige Konsequenzen für die Art und Weise, in der Diskussionen über die Lockerung der Coronamaßnahmen geführt werden sollten und nach welchen Maßstäben die Arbeit der Regierung/en sinnvollerweise beurteilt wird.
II. Gegen obrigkeitsstaatliche Attitüden
Die grundrechtliche Rechtfertigung der mit einer Lahmlegung öffentlichen Lebens verbundenen massiven Freiheitseingriffe mit Hinweis auf die besondere durch die Coronavirus-Pandemie herbeigeführt Situation hat als ihr Korrelat die grundrechtliche Pflicht des Staates, im Rahmen seiner Möglichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Grundrechtseingriffe auch unter Berücksichtigung des vom Staat zu schützenden Rechts auf Leben und Gesundheit anderer möglichst schnell aufgehoben oder gelockert werden können. Es ist zwar nicht so, dass es verfassungsrechtlich eine absolute Befristung für die vorgenommenen Freiheitseinschränkungen gäbe (so aber Papier). Natürlich bedürfen länger andauernde massive Freiheitbeeinträchtigungen außerordentlich gewichtiger Gründe, um verhältnismäßig zu sein. Es sind aber durchaus tragische Umstände denkbar, in denen auch massive Einschränkungen wie die gegenwärtig in der Bundesrepublik in allen Ländern verhängten über viele Monate hinweg rechtfertigbar wären. Aber die krisenbedingte Breite und Intensität der Freiheitseinschränkungen verlangt eine proportionale massive Mobilisierung des Staates, im Rahmen seiner Möglichkeiten die Voraussetzungen für eine möglichst zeitnahe verantwortbare Lockerung dieser Freiheitseinschränkungen zu schaffen.
Wenn das so ist, fällt eine eigentümliche strukturelle Verzerrung öffentlicher Rechtfertigungsdiskurse um das Thema der Lockerung von Freiheitseingreifenden Maßnahmen in entsprechenden Rechtsverordnungen der Länder auf. In der öffentlichen Diskussion – insbesondere in regierungsamtlichen Kommunikationen – geht es einerseits um empirische Daten: Es sei gelungen, aufgrund der erheblichen freiheitseinschneidenden Maßnahmen die Reproduktionsrate des Virus auf etwa 1 zu reduzieren. Es gäbe zurzeit noch Kapazitäten für 10.000 Intensivbetten für Coronapatienten. Das disziplinierte Wohlverhalten der Bürger vorausgesetzt, gäbe es jetzt eine Grundlage für die vorsichtige Lockerung der Maßnahmen, aber natürlich müsse man vorsichtig sein usw… Es ist eine obrigkeitsstaatliche Engführung der Diskussion, die zeitliche Abstimmung und Reichweite der Lockerungen ausschließlich als Funktion regeltreuen bürgerlichen Wohlverhaltens einerseits und empirisch festzustellender Entwicklungen von relevanten Variablen andererseits zu beschreiben (z.B. effektive Reproduktionszahlen und noch zur Verfügung stehende Krankenhauskapazitäten). In einer solchen Welt erscheinen dann Regierungen als vorsichtig abwägende Richter, die verantwortungsvoll, immer wieder das Wohlverhalten der Bevölkerung beschwörend, Freiheiten und deren Einschränkungen neu justieren. Die Exekutive tritt so nur als das Verhalten der Bürger regelnder Verordnungsgeber in Erscheinung. Ein solches Verständnis zeichnet ein viel zu passives Bild von der Rolle der Exekutive in einer Krisensituation. Was vollkommen fehlt in diesem Bild ist die Verantwortung der Regierungen, selbst Bedingungen herbeizuführen, die es nicht mehr erforderlich machen, Leben und Gesundheit durch massive Freiheitseinschränkungen schützen zu müssen.
Konkret hieße das, dass eine Regierungserklärung nach vier Wochen Lockdown nicht nur die epidemologische Entwicklung skizziert („wir konnten die Reproduktionsrate auf etwa 1 reduzieren“), das Wohlverhalten der Bevölkerung lobt („das ist uns gelungen, weil Ihr Euch an die Regeln gehalten habt“) und vorsichtig staatsmännisch versucht, Erwartungen zu dämpfen und dabei vorsichtige Lockerungen verspricht. Ein zentrales Element einer solchen Erklärung hätte es sein müssen, Rechenschaft darüber abzulegen, was die Regierungen während der Zeit getan haben, um Voraussetzungen für schnellere und weitere Lockerungen zu schaffen. Hier sind nur ein paar Beispiele für Fragen, die allesamt relevant sind für Beantwortung der Frage, ob die Regierungen ihren freiheitsgrundrechtlichen Schutzpflichten nachgekommen sind und weiter nachkommen:
- Da für die Stabilisierung der Reproduktionsrate bei zunehmender Wiederherstellung des öffentlichen Lebens zur Verfügung stehende Tests, Tracing Apps und Mundschutz eine wichtige Rolle spielen: Was tut die Regierung, um sicherzustellen, dass die relevante medizinisch-technologische Infrastruktur in möglichst kurzer Zeit bereit steht? Warum wird das Pflegepersonal in Altersheimen und Krankenhäusern noch nicht flächendeckend regelmäßig getestet? Wie kann es sein, dass es nicht gelungen ist, innerhalb eines Monats wenigstens die flächendeckende Bereitstellung von Schutzmasken zu gewährleisten, um eine Gesichtsmaskenpflicht in öffentlich zugänglichen geschlossenen Räumen einführen zu können? Dass das nicht auf dem üblichen Beschaffungswege während einer globalen Pandemie funktioniert, liegt nahe. (Wie kann es sein, dass in Berlin volle U-Bahnen fahren, deren Passagiere nicht mit Mundschutz ausgestattet sind, wenn es allgemein nachgewiesen ist, dass Covid 19 auch und in hohem Maße von asymptomatischen Trägern verbreitet wird und selbst einfache von Infizierten getragene Masken nützlich sind, die Verbreitung von Viren in der näheren Umgebung zu reduzieren?)
- Da trotz geringer gegenwärtiger Auslastung höhere Krankenhauskapazitäten größeren Spielraum für Freiheitslockerungen bedeuten: Wieviel der extra 10.000 vom Gesundheitsminister ursprünglich in Aussicht gestellten Intensivbetten stehen inzwischen zur Verfügung? Warum stehen zurzeit nur 10.000 Betten zur Verfügung, wenn es 28.000 Intensivbetten schon vor der Coronakrise gegeben hat und derzeit nur etwa 4000 Betten mit Coronapatienten belegt sind? Ist im übrigen für die Ausrüstung und das notwendige Personal gesorgt? Was genau ist hier geleistet worden, was ist schon passiert, wann soll das passieren, was noch nicht geschehen ist?
- Grundlage für eine möglichst gezielte, freiheitsschonende Bekämpfung der Pandemie unter angemessener Berücksichtigung der Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit ist ein möglichst gutes Verständnis der epidemologischen Zusammenhänge. Auch hier spielen öffentliche Institutionen nicht nur eine passive, wissenschaftliche Ergebnisse rezipierende Rolle.
Einerseits ist es unvermeidlich, dass Regierungshandeln in diesem Bereich durch hohe Unsicherheiten geprägt ist. Viele für die Bekämpfung von Covid 19 höchst relevante Variablen sind noch nicht wissenschaftlich belastbar spezifiziert. Das betrifft z.B. die Übertragungswege. Kenntnis der genauen Übertragungswege erlaubt es, gezielte Verhinderungsmaßnahmen zu ergreifen und umgekehrt andere weniger spezifische und weniger effektive Maßnahmen zu lockern. Welche Rolle spielen Kinder hier? Welche Rolle spielen asymptomatische Infizierte, spielen Aerosole eine wichtige Rolle oder nur Tröpfchen? Welche Form der Flächenübertragung findet statt? Noch grundlegender: Wie hoch ist die Letalität? Wie hoch ist die Dunkelziffer der Infizierten? Es macht einen maßgeblichen Unterschied zur Beurteilung getroffener Maßnahmen, ob die Letalitätsrate von Covid 19 Infektionen 0,3% oder 3% beträgt. Und gibt es zurzeit nur etwa doppelt so viele Infizierte wie offiziell bestätigt, oder gibt es 20 Mal so viele? Je geringer die Letalität und je höher die Dunkelziffer der Infizierten, desto plausibler ist es, die Kapazitäten der Intensivbetreuung massiv auszubauen, um eine kontrollierte Beschleunigung des gemeinschaftlichen Immunisierungsvorgangs vorzunehmen. Je höher die Letalität und je geringer die Dunkelziffer der Infizierten, desto mehr muss es das Ziel öffentlichen Handelns sein, die Infektionen insgesamt zu minimieren, bis ein Medikament bzw. ein Impfstoff zur Verfügung steht.
Hinsichtlich all dieser wissenschaftlich Fragen spielen öffentliche Institutionen nicht nur eine passive Rolle. Sie werten nicht nur wissenschaftliche Ergebnisse aus und legen sie der Rechtfertigung ihrer Politik zugrunde. Sie sind auch in der Verantwortung, eine aktive Rolle zu spielen: Welche Anstrengungen unternehmen die Regierung und das RKI – idealerweise in Abstimmung und Kooperation mit Europäischen und globalen Partnern –, um hier durch breiter angelegte Tests von repräsentativen Populationen Klarheit zu gewinnen? Was wird getan, um Forschungskooperation – innerhalb und außerhalb Deutschlands – sicherzustellen, und so kontraproduktiven Wettbewerb, bei dem wichtige Teilergebnisse nicht allgemein zur Verfügung gestellt werden, zu verhindern? Gibt es verantwortliche Stellen im Gesundheitsministerium des Bundes oder der Länder, die in Verbindung mit den maßgeblichen Forschungsinstituten stehen und fragen, ob sie etwas tun können, um die Forschung zu beschleunigen? Was wird getan um sicherzustellen, dass die Prüfung und Zulassung eines neuen Impfstoffs möglichste schnell, aber zuverlässig erfolgen kann? Was wird vorbeugend getan, um sicherzustellen, das ein gefundener Impfstoff schnell in entsprechendem Umfang produziert und verteilt werden kann?
III. Positive Pflichten: Exit-Perspektiven und Mobilisierung der Exekutive
Auf diese Fragen und viele andere dieser Art haben die Bundes- und Landesregierungen zum Teil sehr gute, zum Teil jedenfalls vertretbare Antworten, auch wenn es umgekehrt – wie kann es anders sein – auch genügend Ansatz zur Kritik gibt. Der Punkt ist nicht, dass die, die uns regieren schlecht regieren, weil sie diese Fragen nicht ernst nehmen. In der Regel werden diese Fragen ernst genommen und insgesamt wird man im internationalen Vergleich nicht sagen können, dass wir schlecht regiert werden. Aber es entsteht dennoch der Eindruck, als ob die getroffenen außergewöhnlichen Maßnahmen vor allem solche sind, die die Einschränkung der Freiheiten der Bürger betreffen oder die Mobilisierung öffentlicher Ressourcen zur Kompensation der durch diese Freiheitsbeschränkungen bewirkten wirtschaftlichen Nachteile. In beiden Fällen sind es letztlich die Bürger, die die Last zu tragen haben. Es ist weniger erkennbar, dass die Exekutive selbst eine der außergewöhnlichen Lage vergleichbare Mobilisierungsanstrengung unternommen hat, deren Ausrichtung darin besteht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, ein verantwortliches Leben mit dem Virus möglichst freiheitskompatibel gestalten zu können, ohne Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung unverhältnismäßig zu belasten. Wenn die Regierung ihre Bürger wie unmündige Kinder behandelt und sich darauf beschränkt, Wohlverhalten und Solidarität anzumahnen oder bußgeld- und strafbewährt einzufordern und im Übrigen auf schwierige Abwägungen verweist, dann wird sie nicht ihrer freiheitlichen Schutzverantwortung gerecht. Eine Regierung, die auch den aus den Freiheitsgrundrechten ableitbaren Schutzpflichten gerecht wird, ist eine die sich nicht davor scheut, Rechenschafft darüber abzugeben, was sie getan hat und was sie tun wird, um auch das Leben mit dem Virus möglichst schnell möglichst freiheitskompatibel zu gestalten. Und ein mündiger Bürger in einer liberalen Demokratie tut gut daran, nicht nur quengelnd zu fragen, wann Mutti endlich wieder die Zügel locker lässt. Er sollte fragen, ob die Exekutive alles in ihrer Macht getan hat und was genau sie tut und tun wird, um einen solchen Zustand möglichst schnell verantwortlich herbeizuführen. Die Exit-Perspektive – von der Exekutive zu konkretisieren nicht in Form eines Datums, sondern eher in Form von Maßstabsvorgaben und Beschreibungen von plausiblen Strategien und antizipierten Zeithorizonten – ist eine, die den Grundrechten eingeschrieben ist.
Gestaltungspflichten der Regierung, die rechenschaftspflichtig ist, ist die Folgerung der Schutzpflichten.
Vielleicht kann man diese wirklich verstärken und besser realisieren, wenn man diese in der Pandemie den Freiheitsrechten zuordnet.
In dieser Form ist die Gestaltungsverpflichtung auch leichter ins Europarecht zu übertragen, dass durch Grundfreiheiten und Diskriminierungsverbote geprägt ist, und in dem soziale Schutzpflichten nur als Rechtfertigung dür die Einschränkung dieser Freiheitsrechte vor kommen. Es ist schwierig, rechtsdogmatisch ein Gestaltungshandeln des EU Ministerrates zu verlangen. Mit aus den Freiheitsrechten folgenden Schutzpflichten ist dieser Gestaltungsauftrag effektiver sowohl für die nationale Regierung BRD als auch den EU Ministerrat zu begründen.
Ich habe über dieses Thema Schutzpflichten geforscht und wurde damit promoviert.
Aber bitte sehen Sie @ Mattias Klum es mir und @ Fabian Michel nach, wenn wir doch etwas erstaunt sind über die Schutzpflichten der Freiheitsrechte.
Lieber Mattias,
für Deine Betonung der aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte folgenden positiven Verantwortung des Staates zur Minimierung auch der Eingriffe in Abwehrrechte bin ich Dir dankbar. Unter dem Gesichtspunkt des Parlamentsvorbehalts als eines auch formellen Prinzips sehe ich allerdings auch die Legislative gefordert, dies zu strukturieren. Man kann den Gesetzgeber durchaus als gehalten ansehen, Blankett-Ermächtigungen zu so weitreichenden Eingriffen mit Befristungen / Sunset-Klauseln zu versehen und über dies die Anstrengungen der Exekutive auch legislatorisch festzuschreiben, wie wir es beispielsweise vom Klimaschutz kennen.
Bestens, Marius
Der Artikel verdient Zustimmung und Beachtung. Er leitet – nachvollziehbar und abgewogen – aus den Grundrechten so etwas wie eine Lockerungsvorbereitungspflicht und -begleitungspflicht ab. Vor diesem Hintergrund erscheint die heutige Kritik der Bundeskanzlerin an “Lockerungsdiskussionsorgien” in einem besonders schrillen Licht; schon der Begriff verschlägt einem die Sprache!
Danke für den Beitrag! Ich bin mir in zwei Punkten nicht so sicher. Einmal frage ich mich, ob man primär wohl verfahrensrechtlich gemeinte Schutzpflichten wirklich braucht, wenn (massiv) in Abwehrrechte eingegriffen wird. Würde nicht schon das Abwehrrecht selbst (Stichwort: “Erforderlichkeit”, die ja auch angesprochen wird) danach verlangen, sich so aufzustellen, dass Grundrechtseingriffe möglichst nicht notwendig werden?
Der andere Punkt ist die umfassende Informations- und Dokumentationspflicht, die hier statuiert wird. Einmal angenommen, eine solche Pflicht ließe sich grundrechtsdogmatisch, von mir aus auch grundrechtstheoretisch, begründen: Wer muss sie wem gegenüber wie erfüllen? Kann das RKI durch eine Pressekonferenz (Neben-)Pflichten gegenüber einzelnen in ihren Freiheiten eingeschränkten Bürger*innen erfüllen? Und in welchem Turnus müssen sich die Ministerpräsident*innen in die (Bundes-?)Pressekonferenz setzen und über ihr Handeln Rechenschaft ablegen, um keinen Verfahrensverstoß gegen die Grundrechte zu begehen? Meinem in dieser Frage zum Ausdruck kommenden Zweifel geht es nicht darum, die Pflichten, der Situation Herr zu werden, zu bestreiten, als um eine weitere Facette der mir nicht einleuchtenden Verschleifung von Grundrechten und Demokratie. Ist die Rechenschaft der Regierenden gegenüber den Bürger*innen jetzt auch freiheitsgrundrechtlich zu denken oder reicht dafür das Organisationsverfassungsrecht vielleicht aus?
Vielen Dank für diesen sehr treffenden Beitrag.
Ich teile Ihre Einschätzung, dass das Krisenmanagement in Deutschland – soweit dies zum jetzigen Zeitpunkt beurteilt werden kann – im internationalen Vergleich sehr besonnen ausfällt und glücklicherweise nur selten (Bayern…) für politische Inszenierung zweckentfremdet wird.
Angesichts der momentanen Grundrechtseingriffe schuldet die Politik den Bürgern ein Maximum an Transparenz! Vor diesem Hintergrund waren die “Lockerungen” vergangener Woche enttäuschend: Es wurde weder ein Programm vorgelegt, wann und wie welche Maßnahmen gelockert werden können noch wurde offengelegt, unter welchen epidemiologischen Voraussetzungen (R0-Ziffer, Verdoppelungsrate etc.) mit einer Lockerung gerechnet werden darf.
Es drängt sich damit auch der Verdacht auf, dass die jetzige Verlängerung der Exekutive weitere Zeit verschaffen soll, um etwa die Projekte Corona-App, Maskenbeschaffung und Hygienekonzepte für Schulen voranzubringen. Daran wäre grundsätzlich auch nichts auszusetzen, soweit hier mit offenen Karten gespielt (und eine kritische Debatte zugelassen) würde. Werden dagegen die Maßnahmen mit dem generischen Hinweis, wir seien noch am Anfang der Krise (was zutreffend sein mag), verlängert, können die Befristungen der Verordnungen und Verfügungen im Rahmen der Verhältnismäßigkeit kaum noch ernsthaft berücksichtigt werden.
Das Abkanzeln solcher Debatten und Rufen nach Transparenz als “Öffnungsdiskussionsorgien” durch die Bundeskanzlerin (vgl. https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/corona-pandemie-merkel-veraergert-ueber-lockerungsdebatte-16733098.html) ist nach alledem nicht hinzunehmen. Gerade in Krisenzeiten bedarf es einer Debattenkultur, die hinterfragt und auf Missstände aufmerksam macht.
Vielen Dank für diesen Beitrag Herr Prof. Kumm. Die Ausführungen sind wirklich sehr relevant auch hinsichtlich des Aspekts einer fortlaufenden Evaluierungspflicht der Exekutive, auf die der BayVGH bereits mit Beschluss vom 30.03.2020 hingewiesen hat (Beschl. v. 30.03.2020, Az. 20 NE 20.632, Rn. 63).
Ich würde allerdings gerne ganz zu Anfang einhaken, und bereits hier anhand der Datenlage eine ergebnisoffene Betrachtungsweise anregen. Eingangs äußern Sie sich dahingehend, die grundlegende Entscheidung des Lockdowns sei als verfassungsrechtlich gerechtfertigt anzusehen.
Sie erwähnen weiter unten im Text auch die Reproduktionsrate, von der behauptet wird, man habe sie aufgrund der getroffenen Maßnahmen auf einen Wert von etwa 1 reduzieren können. Nun möchte ich gerne auf folgende Veröffentlichung des RKI aufmerksam machen, in der auf den Seiten 13 ff. die Schätzung der effektiven Reproduktionszahl R im zeitlichen Verlauf der Epidemie dargestellt wird.
https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Archiv/2020/Ausgaben/17_20_SARS-CoV2_vorab.pdf?__blob=publicationFile
Die Reproduktionszahl R stieg demnach Anfang März auf einen Wert im Bereich von R=3, sank daraufhin ab und stabilisierte sich etwa seit dem 22. März um den Wert R=1. Der bundesweite Lockdown trat am 23. März in Kraft und damit zu einem Zeitpunkt, nachdem die Reproduktionszahl bereits auf R=1 gesunken war. Fraglich erscheint damit doch bereits, ob der Lockdown zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch einen nennenswerten Einfluss auf den Verlauf einer bereits abklingenden epidemischen Entwicklung haben konnte.
Der Blick nach Schweden muss ebenso den effektiven Nutzen des Lockdowns als Mehrwert im Vergleich zu weniger eingriffsintensiven Maßnahmen in Frage stellen. In Schweden haben differenzierte und deutlich weniger invasive Maßnahmen offensichtlich den gleichen Erfolg gebracht. Es bestehen somit aus meiner Sicht erhebliche Zweifel, ob der Lockdown im Rahmen der juristischen Verhältnismäßigkeitsprüfung erforderlich war.
Um den Kreis zum eigentlichen Thema Ihres Aufsatzes zu schließen eine kurze Anmerkung zum politischen Entscheidungsprozess, der ja bis heute völlig undurchsichtig ist. Was von der Exekutive als medizinischer Sachzwang dargestellt wurde unterschlägt eine umfängliche Abbildung des relevanten Meinungsspektrums in der Medizin. Man hat sich sehr monothematisch auf wenige Spezialisten und mathematische Modellrechnungen fokussiert, ohne sich jedenfalls um einen fachübergreifenden wissenschaftlichen Diskurs zu bemühen. Genau dies wäre jedoch notwendig gewesen, um den von Ihnen thematisierten Schutzpflichten gerecht zu werden. Aus den Fachgebieten der Virologie und Epidemiologie gab es von Anfang an Stimmen, die einem Lockdown sehr zurückhaltend gegenüberstanden. Hätte man das zur Verfügung stehende Fachwissen und die laufend hinzukommenden neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse als Grundlage politischer Entscheidungen herangezogen, so wären sachgerechte und differenziere Ergebnisse möglich gewesen. Ein Lockdown in dieser Form wäre uns wohl erspart geblieben.
Aus meiner Sicht wird die Exit-Perspektive, nicht zuletzt auf Druck der verfassungsrechtlichen Diskussion, jetzt durchaus auch seitens der Politik “formuliert”. Und sei es auch nur, indem einzelne Bundesländer vorangehen und andere dann oft folgen. Wie auch jetzt mit dem Wegfall der strengen Ausgangssperre “gegen” teilweise Maskenpflicht in Sachsen.
Ich habe ein Problem mit dem Problem, das der Autor sieht. Nach seiner Auffassung sind die Maßnahmen verfassungsmäßig und sogar geboten, aber trotzdem irgendwie problematisch, weil “obrigkeitlich”. Und dem soll Abhilfe geschaffen werden, indem die Regierung “sich erklärt”. Aber Ordnungsrecht ist nicht per se “obrigkeitlich”, was auch immer das heißen soll, und vor allem dann nicht, wenn es eingestandenermaßen den Freiheits- und Schutzpflichten der Verfassung genügt. Auch bleibt der primäre Gehalt von Schutzpflichten das Handeln, und nicht sein Handeln zu erklären. Ganz abgesehen davon, dass die Behörden sich schon ständig erklären, über “plausible Strategien und antizipierte Zeithorizonten”, so gut es halt unter den Bedingungen von Unsicherheit und Handlungszwang geht. Ultra posse nemo obligatur. Am Schluss bleibt von der Obrigkeitlichkeitsthese vor allem Rhetorik a la “Mutti” und “wie unmündige Kinder behandeln” und ein schräger Gestus der Kritik, der im Grunde gleichzeitig akzeptieren und nicht akzeptieren will, dass weitgehende Freiheitsbeschränkungen sinnvoll sein können. Ich habe meine Zweifel, ob dieses Dilemma erträglicher wird, wenn die Behörden sich ständig und zu allem erklären. Oder um es mit Frank Zappa zu sagen, Shut Up ‘n Play Yer Guitar.
Sehr geehrter Herr Kumm,
ich denke, Ihren Ausführungen ist wirklich nichts hinzu zu fügen. Man kann als zwar kritischer, aber immer bejahend zu dieser Republik stehender Bürger und Wähler nur darauf hoffen, dass in den Regierungen zügig Einsicht einkehrt. Und falls dies nicht der Fall sein sollte, zumindest die höheren Gerichte die Regierungen handfest daran erinnern, dass sie nicht die Aufsicht und Erziehungsgewalt über die Bürger dieses Landes haben, sondern ihre Handlungen auch abwägen und erläutern müssen. Es ist zwar elegant, aber wenig hilfreich, wenn in ein paar Jahren dann das BVerfG urteilt, dass die Maßnahmen verfassungswidrig waren. Ein Ministerpräsident wie Markus Söder, der seit Jahr und Tag rechtskräftige Urteile ignoriert und die Gerichte mehr oder weniger verspottet, hat den Vorschuss an Vertrauen, den man ihm wie allen öffentlichen Funktionsträgern als Bürger entgegen bringen sollte, bereits verbraucht.
Herzlichen Dank!
Ulrich Demlehner
Der Beitrag geht zwar in die richtige Richtung, erreicht sein Ziel aber schon deshalb nicht ganz, weil 1. wichtige Forderungen fehlen, und 2. es eben immer auch darum geht, wie man berechtigte Forderungen überhaupt durchsetzt, wenn ihnen die Politik nicht von sich aus freiwillig folgt.
Um es auf den Punkt zu bringen: Ein Notstandsagieren ist nur solange berechtigt, wie die Notstandskompetenz nicht ausgenutzt wird. Und letzteres ist leider auch bei uns Realität. Nur – wie sich dagegen wehren? Man kann die bisherige demokratische Entwicklung bei uns auch so zusammenfassen, dass vieles gar nicht erreicht worden wäre, ohne starke Opposition. Der Autor geht von einem Bild der Pandemiebekämpfung aus, was zwar schön wäre, aber völlig übersieht, dass das “Schöne” durchgesetzt werden muss.
Was ich vor allem fordern würde: Keine Gesetze, die sich nicht mit Pandemieschutz rechtfertigen lassen. Auch der Gesetzgeber muss auf bestimmte Freiheiten verzichten. Er darf nicht die Freiheitsbeschränkungen der anderen ausnutzen. Widerstand dagegen würde für mich ggf. sogar vor Pandemieschutz vorgehen, weil der Schutz der Demokratie das zentrale Bindeglied ist.