Gegen obrigkeitsstaatliche Tendenzen in der Krise
Massive Freiheitseingriffe und deren Grundrechtliche Rechtfertigung
I. Der massiv eingreifende Staat unter grundrechtlichem Rechtfertigungsdruck
Die Grundentscheidung vor über vier Wochen, der Corona-Pandemie mit einem weitgehenden Lockdown zu begegnen, war trotz der für die Nachkriegszeit präzedenzlosen Grundrechtseinschränkungen – bei aller berechtigter Kritik an Formalitäten (siehe hier und hier) und auch einiger Einzelmaßnahmen (siehe hier und hier) – grundsätzlich verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Mehr noch, hätten die Bundes-und Landesregierungen einen Kurs verfolgt, der auf Grundrechtsbeschränkungen verzichtet hätte und der Pandemie freien Lauf gewährt hätte, um schnellstmöglich weitreichende Immunität und damit das relativ schnelle Ende der Pandemie bei möglichst geringem wirtschaftlichen Schaden zu erreichen, wäre eine solche Lösung auf der Basis der zum Entscheidungszeitpunkt vorliegenden Datenlage möglicherweise eine verfassungswidrige Verletzung der staatlichen Schutzplicht gegenüber dem Recht auf Leben und körperlicher Unversehrtheit potentieller Opfer der Krankheit. Eine Fundamentalkritik des eingeschlagenen Kurses auf verfassungsrechtlicher Grundlage ist insoweit nicht nur verfehlt, es ist sogar umgekehrt so, dass jedenfalls die Grundrichtung des eingeschlagenen Weges verfassungsrechtlich geboten war. Das soll der folgenden Kritik als Prämisse vorausgeschickt sein. Generell geht es im Folgenden nicht darum, die Vornahme oder das Unterlassen der einen oder anderen Maßnahme der Regierung zu kritisieren, sondern eine grundsätzliche verfassungsrechtlich bis jetzt nicht im Vordergrund stehende dynamische Dimension des Grundrechtsschutzes hervorzuheben und einen für die Rechtfertigung von Regierungshandeln in Krisenzeiten angemessenen Rahmen zu entwickeln, auch um gefährlichen obrigkeitsstaatlichen Tendenzen entgegenzuwirken.
Die These ist die Folgende: Sofern die Exekutive in außergewöhnlichen Situationen ermächtigt ist, massive Grundrechtseingriffe vorzunehmen, dann ergeben sich aus den Grundrechten der Verfassung nicht nur negativ allgemein anerkannte materiellrechtliche Grenzen für jeden dieser Eingriffe (diese müssen insbesondere verhältnismäßig sein). Die Exekutive ist auch positiv verpflichtet alles tun, was erforderlich und verhältnismäßig ist, um die bestehende Situation möglichst zeitnah so zu verändern, dass die außergewöhnlichen Maßnahmen nicht mehr oder nicht mehr in gleicher Intensität erforderlich sind und verantwortbar aufgehoben werden können. Als Korrelat zur krisenbedingten Rechtfertigung von Grundrechtseingriffen ergibt sich aus dem Prinzipiencharakter der Grundrechte eine Schutzpflicht des Staates, im Rahmen des Möglichen und nach Maßgabe dessen, was erforderlich und verhältnismäßig ist, eine Situation herbeizuführen, in der die Beschränkungen wieder aufgehoben werden können. Wenn das richtig sein sollte, hat das auch wichtige Konsequenzen für die Art und Weise, in der Diskussionen über die Lockerung der Coronamaßnahmen geführt werden sollten und nach welchen Maßstäben die Arbeit der Regierung/en sinnvollerweise beurteilt wird.
II. Gegen obrigkeitsstaatliche Attitüden
Die grundrechtliche Rechtfertigung der mit einer Lahmlegung öffentlichen Lebens verbundenen massiven Freiheitseingriffe mit Hinweis auf die besondere durch die Coronavirus-Pandemie herbeigeführt Situation hat als ihr Korrelat die grundrechtliche Pflicht des Staates, im Rahmen seiner Möglichkeiten Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass diese Grundrechtseingriffe auch unter Berücksichtigung des vom Staat zu schützenden Rechts auf Leben und Gesundheit anderer möglichst schnell aufgehoben oder gelockert werden können. Es ist zwar nicht so, dass es verfassungsrechtlich eine absolute Befristung für die vorgenommenen Freiheitseinschränkungen gäbe (so aber Papier). Natürlich bedürfen länger andauernde massive Freiheitbeeinträchtigungen außerordentlich gewichtiger Gründe, um verhältnismäßig zu sein. Es sind aber durchaus tragische Umstände denkbar, in denen auch massive Einschränkungen wie die gegenwärtig in der Bundesrepublik in allen Ländern verhängten über viele Monate hinweg rechtfertigbar wären. Aber die krisenbedingte Breite und Intensität der Freiheitseinschränkungen verlangt eine proportionale massive Mobilisierung des Staates, im Rahmen seiner Möglichkeiten die Voraussetzungen für eine möglichst zeitnahe verantwortbare Lockerung dieser Freiheitseinschränkungen zu schaffen.
Wenn das so ist, fällt eine eigentümliche strukturelle Verzerrung öffentlicher Rechtfertigungsdiskurse um das Thema der Lockerung von Freiheitseingreifenden Maßnahmen in entsprechenden Rechtsverordnungen der Länder auf. In der öffentlichen Diskussion – insbesondere in regierungsamtlichen Kommunikationen – geht es einerseits um empirische Daten: Es sei gelungen, aufgrund der erheblichen freiheitseinschneidenden Maßnahmen die Reproduktionsrate des Virus auf etwa 1 zu reduzieren. Es gäbe zurzeit noch Kapazitäten für 10.000 Intensivbetten für Coronapatienten. Das disziplinierte Wohlverhalten der Bürger vorausgesetzt, gäbe es jetzt eine Grundlage für die vorsichtige Lockerung der Maßnahmen, aber natürlich müsse man vorsichtig sein usw… Es ist eine obrigkeitsstaatliche Engführung der Diskussion, die zeitliche Abstimmung und Reichweite der Lockerungen ausschließlich als Funktion regeltreuen bürgerlichen Wohlverhaltens einerseits und empirisch festzustellender Entwicklungen von relevanten Variablen andererseits zu beschreiben (z.B. effektive Reproduktionszahlen und noch zur Verfügung stehende Krankenhauskapazitäten). In einer solchen Welt erscheinen dann Regierungen als vorsichtig abwägende Richter, die verantwortungsvoll, immer wieder das Wohlverhalten der Bevölkerung beschwörend, Freiheiten und deren Einschränkungen neu justieren. Die Exekutive tritt so nur als das Verhalten der Bürger regelnder Verordnungsgeber in Erscheinung. Ein solches Verständnis zeichnet ein viel zu passives Bild von der Rolle der Exekutive in einer Krisensituation. Was vollkommen fehlt in diesem Bild ist die Verantwortung der Regierungen, selbst Bedingungen herbeizuführen, die es nicht mehr erforderlich machen, Leben und Gesundheit durch massive Freiheitseinschränkungen schützen zu müssen.
Konkret hieße das, dass eine Regierungserklärung nach vier Wochen Lockdown nicht nur die epidemologische Entwicklung skizziert („wir konnten die Reproduktionsrate auf etwa 1 reduzieren“), das Wohlverhalten der Bevölkerung lobt („das ist uns gelungen, weil Ihr Euch an die Regeln gehalten habt“) und vorsichtig staatsmännisch versucht, Erwartungen zu dämpfen und dabei vorsichtige Lockerungen verspricht. Ein zentrales Element einer solchen Erklärung hätte es sein müssen, Rechenschaft darüber abzulegen, was die Regierungen während der Zeit getan haben, um Voraussetzungen für schnellere und weitere Lockerungen zu schaffen. Hier sind nur ein paar Beispiele für Fragen, die allesamt relevant sind für Beantwortung der Frage, ob die Regierungen ihren freiheitsgrundrechtlichen Schutzpflichten nachgekommen sind und weiter nachkommen:
- Da für die Stabilisierung der Reproduktionsrate bei zunehmender Wiederherstellung des öffentlichen Lebens zur Verfügung stehende Tests, Tracing Apps und Mundschutz eine wichtige Rolle spielen: Was tut die Regierung, um sicherzustellen, dass die relevante medizinisch-technologische Infrastruktur in möglichst kurzer Zeit bereit steht? Warum wird das Pflegepersonal in Altersheimen und Krankenhäusern noch nicht flächendeckend regelmäßig getestet? Wie kann es sein, dass es nicht gelungen ist, innerhalb eines Monats wenigstens die flächendeckende Bereitstellung von Schutzmasken zu gewährleisten, um eine Gesichtsmaskenpflicht in öffentlich zugänglichen geschlossenen Räumen einführen zu können? Dass das nicht auf dem üblichen Beschaffungswege während einer globalen Pandemie funktioniert, liegt nahe. (Wie kann es sein, dass in Berlin volle U-Bahnen fahren, deren Passagiere nicht mit Mundschutz ausgestattet sind, wenn es allgemein nachgewiesen ist, dass Covid 19 auch und in hohem Maße von asymptomatischen Trägern verbreitet wird und selbst einfache von Infizierten getragene Masken nützlich sind, die Verbreitung von Viren in der näheren Umgebung zu reduzieren?)
- Da trotz geringer gegenwärtiger Auslastung höhere Krankenhauskapazitäten größeren Spielraum für Freiheitslockerungen bedeuten: Wieviel der extra 10.000 vom Gesundheitsminister ursprünglich in Aussicht gestellten Intensivbetten stehen inzwischen zur Verfügung? Warum stehen zurzeit nur 10.000 Betten zur Verfügung, wenn es 28.000 Intensivbetten schon vor der Coronakrise gegeben hat und derzeit nur etwa 4000 Betten mit Coronapatienten belegt sind? Ist im übrigen für die Ausrüstung und das notwendige Personal gesorgt? Was genau ist hier geleistet worden, was ist schon passiert, wann soll das passieren, was noch nicht geschehen ist?
- Grundlage für eine möglichst gezielte, freiheitsschonende Bekämpfung der Pandemie unter angemessener Berücksichtigung der Gefährdung von Leben und körperlicher Unversehrtheit ist ein möglichst gutes Verständnis der epidemologischen Zusammenhänge. Auch hier spielen öffentliche Institutionen nicht nur eine passive, wissenschaftliche Ergebnisse rezipierende Rolle.
Einerseits ist es unvermeidlich, dass Regierungshandeln in diesem Bereich durch hohe Unsicherheiten geprägt ist. Viele für die Bekämpfung von Covid 19 höchst relevante Variablen sind noch nicht wissenschaftlich belastbar spezifiziert. Das betrifft z.B. die Übertragungswege. Kenntnis der genauen Übertragungswege erlaubt es, gezielte Verhinderungsmaßnahmen zu ergreifen und umgekehrt andere weniger spezifische und weniger effektive Maßnahmen zu lockern. Welche Rolle spielen Kinder hier? Welche Rolle spielen asymptomatische Infizierte, spielen Aerosole eine wichtige Rolle oder nur Tröpfchen? Welche Form der Flächenübertragung findet statt? Noch grundlegender: Wie hoch ist die Letalität? Wie hoch ist die Dunkelziffer der Infizierten? Es macht einen maßgeblichen Unterschied zur Beurteilung getroffener Maßnahmen, ob die Letalitätsrate von Covid 19 Infektionen 0,3% oder 3% beträgt. Und gibt es zurzeit nur etwa doppelt so viele Infizierte wie offiziell bestätigt, oder gibt es 20 Mal so viele? Je geringer die Letalität und je höher die Dunkelziffer der Infizierten, desto plausibler ist es, die Kapazitäten der Intensivbetreuung massiv auszubauen, um eine kontrollierte Beschleunigung des gemeinschaftlichen Immunisierungsvorgangs vorzunehmen. Je höher die Letalität und je geringer die Dunkelziffer der Infizierten, desto mehr muss es das Ziel öffentlichen Handelns sein, die Infektionen insgesamt zu minimieren, bis ein Medikament bzw. ein Impfstoff zur Verfügung steht.
Hinsichtlich all dieser wissenschaftlich Fragen spielen öffentliche Institutionen nicht nur eine passive Rolle. Sie werten nicht nur wissenschaftliche Ergebnisse aus und legen sie der Rechtfertigung ihrer Politik zugrunde. Sie sind auch in der Verantwortung, eine aktive Rolle zu spielen: Welche Anstrengungen unternehmen die Regierung und das RKI – idealerweise in Abstimmung und Kooperation mit Europäischen und globalen Partnern –, um hier durch breiter angelegte Tests von repräsentativen Populationen Klarheit zu gewinnen? Was wird getan, um Forschungskooperation – innerhalb und außerhalb Deutschlands – sicherzustellen, und so kontraproduktiven Wettbewerb, bei dem wichtige Teilergebnisse nicht allgemein zur Verfügung gestellt werden, zu verhindern? Gibt es verantwortliche Stellen im Gesundheitsministerium des Bundes oder der Länder, die in Verbindung mit den maßgeblichen Forschungsinstituten stehen und fragen, ob sie etwas tun können, um die Forschung zu beschleunigen? Was wird getan um sicherzustellen, dass die Prüfung und Zulassung eines neuen Impfstoffs möglichste schnell, aber zuverlässig erfolgen kann? Was wird vorbeugend getan, um sicherzustellen, das ein gefundener Impfstoff schnell in entsprechendem Umfang produziert und verteilt werden kann?
III. Positive Pflichten: Exit-Perspektiven und Mobilisierung der Exekutive
Auf diese Fragen und viele andere dieser Art haben die Bundes- und Landesregierungen zum Teil sehr gute, zum Teil jedenfalls vertretbare Antworten, auch wenn es umgekehrt – wie kann es anders sein – auch genügend Ansatz zur Kritik gibt. Der Punkt ist nicht, dass die, die uns regieren schlecht regieren, weil sie diese Fragen nicht ernst nehmen. In der Regel werden diese Fragen ernst genommen und insgesamt wird man im internationalen Vergleich nicht sagen können, dass wir schlecht regiert werden. Aber es entsteht dennoch der Eindruck, als ob die getroffenen außergewöhnlichen Maßnahmen vor allem solche sind, die die Einschränkung der Freiheiten der Bürger betreffen oder die Mobilisierung öffentlicher Ressourcen zur Kompensation der durch diese Freiheitsbeschränkungen bewirkten wirtschaftlichen Nachteile. In beiden Fällen sind es letztlich die Bürger, die die Last zu tragen haben. Es ist weniger erkennbar, dass die Exekutive selbst eine der außergewöhnlichen Lage vergleichbare Mobilisierungsanstrengung unternommen hat, deren Ausrichtung darin besteht, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, ein verantwortliches Leben mit dem Virus möglichst freiheitskompatibel gestalten zu können, ohne Leben und körperliche Unversehrtheit der Bevölkerung unverhältnismäßig zu belasten. Wenn die Regierung ihre Bürger wie unmündige Kinder behandelt und sich darauf beschränkt, Wohlverhalten und Solidarität anzumahnen oder bußgeld- und strafbewährt einzufordern und im Übrigen auf schwierige Abwägungen verweist, dann wird sie nicht ihrer freiheitlichen Schutzverantwortung gerecht. Eine Regierung, die auch den aus den Freiheitsgrundrechten ableitbaren Schutzpflichten gerecht wird, ist eine die sich nicht davor scheut, Rechenschafft darüber abzugeben, was sie getan hat und was sie tun wird, um auch das Leben mit dem Virus möglichst schnell möglichst freiheitskompatibel zu gestalten. Und ein mündiger Bürger in einer liberalen Demokratie tut gut daran, nicht nur quengelnd zu fragen, wann Mutti endlich wieder die Zügel locker lässt. Er sollte fragen, ob die Exekutive alles in ihrer Macht getan hat und was genau sie tut und tun wird, um einen solchen Zustand möglichst schnell verantwortlich herbeizuführen. Die Exit-Perspektive – von der Exekutive zu konkretisieren nicht in Form eines Datums, sondern eher in Form von Maßstabsvorgaben und Beschreibungen von plausiblen Strategien und antizipierten Zeithorizonten – ist eine, die den Grundrechten eingeschrieben ist.