24 November 2022

Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“?

Die Proteste der Klimaschutzgruppe der „Letzten Generation“ sind momentan aufgrund ihrer gewählten Protestformen ein vieldiskutiertes Thema. Eine der umstrittenen Protestformen besteht darin, sich mit den Händen auf der Straße festzukleben.

In München wurden am 3. November 2022 die an einem Protest Beteiligten, die sich auf der Fahrbahn festgeklebt hatten, festgenommen und wegen Nötigung und Verstößen gegen das Versammlungsgesetz angezeigt. Nachdem sie ihre Protestaktion wiederholten, wurden sie in Gewahrsam genommen. Vor dem Ermittlungsrichter gaben sie an, ihre Aktionen fortsetzen zu wollen. Mehrere Ermittlungsrichter bestätigten die gegen insgesamt ein Dutzend Protestierende angeordnete Gewahrsamsdauer von 30 Tagen.

Auch wenn nicht alle Einzelheiten der Proteste und Ingewahrsamnahme bekannt sind und insofern bei der Bewertung des polizeilichen Vorgehens natürlich Zurückhaltung geboten ist, drängt sich hier aber auch die Rechtswidrigkeit der Maßnahmen auf. Zum einen stößt bereits die in Bayern gesetzlich vorgesehene Dauer des Gewahrsams von bis zu zwei Monaten auf verfassungs- und konventionsrechtliche Bedenken. Zum anderen spricht vieles dafür, dass auch die Voraussetzungen nicht vorliegen, die § 17 bayPAG für eine entsprechende Haftdauer verlangt.

Die umstrittene Rechtsgrundlage des bayerischen PAG für den Gewahrsam

Mit der Novelle des bayerischen Polizeiaufgabengesetzes im Jahr 2017 wurden hinsichtlich des Gewahrsams neue Befugnistatbestände aufgenommen und die bis dahin geltende, absolute gesetzliche Obergrenze von 14 Tagen aufgehoben. Nach der Novelle von 2017 war auch ein unbegrenzter Präventivgewahrsam nicht mehr ausgeschlossen. Aufgrund der breiten öffentlichen Kritik an der Novelle wurde das Polizeiaufgabengesetz 2021 erneut geändert und die Regelung des Gewahrsams wieder entschärft. Die Freiheitsentziehung darf nun nicht mehr als einen Monat betragen und kann nur für eine Dauer von insgesamt zwei Monaten verlängert werden. Unabhängig von einer richterlichen Entscheidung ist die festgehaltene Person zu entlassen, sobald der Grund für die Maßnahme weggefallen ist. Trotz der Reduzierung der Haftdauer bestehen gegen die Regelung auch weiterhin verfassungs- und konventionsrechtliche Bedenken.

Verfassungs- und Konventionswidrigkeit der Regelung des bayerischen PAG aufgrund der Gesamtdauer

Insbesondere ist die zulässige Gesamtdauer, die über derjenigen der meisten anderen Bundesländer liegt, aus verfassungsrechtlicher und konventionsrechtlicher Sicht bedenklich. Ein präventiver Gewahrsam, der Monate dauert, kann – auch wenn er richterlich angeordnet wird – verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt werden. Der polizeiliche Gewahrsam fällt unter den verfassungsrechtlichen Begriff der Freiheitsentziehung gemäß Art. 104 Abs. 2 GG. Zwar folgt die Verfassungswidrigkeit eines einen oder mehrere Monate andauernden Gewahrsams nicht aus Art. 104 Abs. 2 S. 3 GG, der eine Höchstdauer von 48 Stunden für Freiheitsentziehungen vorsieht, die die Polizei „aus eigener Machtvollkommenheit“ anordnet. Ein längerfristiger präventiver Gewahrsam verstößt aber gegen das Grundrecht der Freiheit der Person i.V.m. dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (BVerfGE 109, 190/220). Denn für keines der Schutzgüter des Gewahrsams ist erforderlich, dass sich dieser über mehr als wenige Tage erstreckt. Weder für die Beseitigung einer hilflosen Lage noch für die Durchsetzung von Maßnahmen wie einer Identitätsfeststellung oder eines Platzverweises sind mehr als wenige Tage erforderlich. Dies gilt auch für den Sicherheitsgewahrsam zur Unterbindung befürchteter Straftaten. Während eines mehrtätigen Gewahrsams ist es möglich, mildere Maßnahmen, wie etwa solche zur Aufenthaltsüberwachung oder Observation, bereitzustellen. Zudem lässt sich für den in der bayerischen Regelung vorgesehenen Zeitraum von 30 oder gar 60 Tagen keine solche zeitliche Nähe des befürchteten Schadenseintritts bejahen, dass die Freiheitsentziehung noch in angemessenem Verhältnis zu dem mit ihr bezweckten Ziel steht. Sollte sich nach dem Ende eines zeitlich angemessen beschränkten Gewahrsams herausstellen, dass die Betroffene erneut einen Entschluss zur Begehung einer Straftat fasst, kann allenfalls eine erneute Ingewahrsamnahme zulässig sein. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zwingt so dazu, die Voraussetzungen einschließlich der Erforderlichkeit, regelmäßig neu zu beurteilen. Dies wird durch die Möglichkeit eines ein- oder sogar zwei-monatigen Gewahrsams, wie sie das bayPAG vorsieht, unterlaufen.

Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betont regelmäßig, dass die Dauer des Präventivgewahrsams in der Verhältnismäßigkeitsprüfung berücksichtigt werden muss. In seiner neueren Rechtsprechung hat er bereits bei einer Haftdauer von wenigen Stunden deren Verhältnismäßigkeit eingehend thematisiert (EGMR, Urteil vom 22.10.2018, S., V. u. A. ./. DEN, Nr. 35553/12 u. a., Rn. 161 ff.). Damit wird nochmals der enge zeitliche Rahmen betont, den der Gerichtshof dem Präventivgewahrsam zieht. Eine Haftdauer von mehreren Wochen oder gar Monaten wird diesen Rahmen kaum wahren können.

Wahrung der Anforderungen an die erforderliche Gefahr

Das Vorgehen gegen die Protestierenden aus München ruft aber selbst dann rechtliche Bedenken hervor, wenn man die Regelung für verfassungs- und konventionskonform hielte. Als Grundlage für die Anordnung des 30-tägigen Gewahrsams gegen die Klimaaktivistinnen kommen nur zwei Tatbestandsalternativen in Betracht: Nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 a) bayPAG kann eine Person in Gewahrsam genommen werden, wenn dies unerlässlich ist, um die unmittelbar bevorstehende Begehung oder Fortsetzung einer Ordnungswidrigkeit von erheblicher Bedeutung oder einer Straftat zu verhindern, wobei sich die Annahme nach lit. a) insbesondere darauf stützen kann, dass die Person die Begehung der Tat ankündigt. Die Voraussetzung der unmittelbaren bevorstehenden Begehung verlangt eine besondere zeitliche Nähe der befürchteten Straftat oder Ordnungswidrigkeit. Bei der Ankündigung weiterer Protestaktionen für denselben Tag, die möglicherweise ebenfalls Straftatbestände erfüllen, könnte eine solche als gegeben angesehen werden. Von einer unmittelbar bevorstehenden Begehung kann aber keinesfalls für einen mehrtätigen oder gar mehrwöchigen Zeitraum ausgegangen werden.

Damit bleibt nur ein Rückgriff auf Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG, der den polizeilichen Gewahrsam erlaubt, wenn dies zur Abwehr einer Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut unerlässlich ist. Die Vorschrift wurde durch das Gesetz zur effektiveren Überwachung gefährlicher Personen 2017 (GVBl. 2017 S. 388) als Reaktion auf die Bedrohungslage durch Personen aus dem terroristischen Spektrum eingefügt. Sie soll einen Präventivgewahrsam auch dann ermöglichen, wenn anzunehmen ist, dass von einer Person eine konkrete Gefahr für ein bedeutendes Rechtsgut ausgeht, weil zwar bestimmte gefährliche Handlungen prognostiziert werden können, aber noch unklar ist, welche Straftatbestände dadurch im Einzelnen erfüllt werden. Die Vorschrift verlangt das Vorliegen einer konkreten Gefahr und damit ein konkretes Wahrscheinlichkeitsurteil hinsichtlich eines konkreten Schadensereignisses.

Die in Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG gesteigerten Anforderungen an die Bedeutung des Rechtsguts nehmen Einfluss auf den erforderlichen Grad der Wahrscheinlichkeit. Er bestimmt sich nach der befürchteten Schadenshöhe und damit nach dem geschützten Rechtsgut. Bei den durch Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG geschützten bedeutenden Rechtsgütern sind die Anforderungen an den Wahrscheinlichkeitsgrad daher grundsätzlich nicht zu überspannen.

Keinen Einfluss hat die Bedeutung des Rechtsguts hingegen auf die nach Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG geforderte Konkretisierung des Schadensereignisses, die sich auch nach dem Willen des Gesetzgebers gerade von der drohenden Gefahr absetzen soll, bei der die Anforderungen an die Konkretisierung des Schadensereignisses abgesenkt werden. Das bayPAG hat die drohende Gefahr als Tatbestandsvoraussetzung mit der Novelle von 2017 für zahlreiche Maßnahmen eingeführt, aber gerade nicht für den Gewahrsam. Für den Präventivgewahrsam ist daher stets eine Prognose hinsichtlich eines konkretisierten Schadens erforderlich.

Die Konkretisierung des befürchteten Schadensereignisses kann in mehreren Dimensionen erfolgen. Es lassen sich sachliche, zeitliche und personelle Dimensionen unterscheiden, die jedenfalls ansatzweise konkretisiert sein müssen. In der sachlichen Dimension muss das Schadensereignis – im Unterschied zu Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 bayPAG – nicht bereits so konkretisiert sein, dass bereits feststeht, welche Straftaten befürchtet werden. Aber auch bei Nr. 3 muss die sachliche Dimension, also etwa die Protestform, jedenfalls soweit bestimmt sein, dass die konkret bedrohten bedeutenden Rechtsgüter benannt werden können. Der Aussage der Aktivistinnen allein, dass sie ihren Protest fortsetzen wollen, lässt ich indes nicht entnehmen, ob und welche bedeutenden Rechtsgüter gefährdet sind.

Anders als Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 bayPAG verlangt Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG nicht, dass die Verwirklichung der Gefahr unmittelbar bevorsteht. Dies betrifft allerdings nicht die zeitliche Konkretisierung des befürchteten Schadens, sondern dessen zeitliche Nähe. Befürchtete Ausschreitungen beim nächsten Heimspiel des FC Bayern München in zwei Wochen sind zeitlich auf den Tag genau konkretisiert, aber nicht unmittelbar bevorstehend. Die von den Behörden in den Münchner Klimaprotestfällen befürchteten Verletzungen nicht konkretisierter bedeutender Rechtsgüter sind hingegen weder unmittelbar bevorstehend – sonst käme keine 30-tägige Gewahrsamsdauer in Betracht –, noch sind sie – wie das Heimspiel – zeitlich konkretisiert. Vielmehr erweckt die pauschale Ausschöpfung der gesetzlichen Höchstdauer des Gewahrsams den Eindruck, dass die Behörde lediglich irgendwann Gefahren durch erneute Klimaproteste erwartet und diese durch einen möglichst langen Gewahrsam möglichst lange ausschließen möchte. Einzig in der personellen Dimension nimmt die Behörde eine Konkretisierung vor, allerdings auch insoweit nicht hinsichtlich potentieller Geschädigter, sondern lediglich im Hinblick auf die Aktivistinnen. Von ihnen nimmt die Behörde an, dass sie zu einem noch nicht konkretisierbaren Zeitpunkt noch nicht konkretisierbare, aber bedeutende Rechtsgüter gefährden werden. Die Konstellation, in der einzig die Person des Gefährders konkretisiert werden kann, ist hingegen genau die der drohenden Gefahr. Bei ihr hat das bayerische Polizeigesetz jedoch aus guten, verfassungsrechtlich hinterlegten Gründen gerade keine Gewahrsamsbefugnisse eingeräumt, hat doch das Bundesverfassungsgericht bei bloß drohenden Gefahren selbst in Fällen des internationalen Terrorismus lediglich Gefahrerforschungseingriffe für verhältnismäßig (BVerfGE 141, 220/272 f.) erachtet.

Da es bereits an der konkreten Gefahr fehlt, kann auch dahinstehen, ob die gesteigerten Anforderungen an das Schutzgut erfüllt sind. Dass bedeutende Rechtsgüter gem. Art. 17 Abs. 1 Nr. 3 bayPAG betroffen sind, kann aber sicherlich nicht bei jeder Form des Protests angenommen werden.

Verhältnismäßigkeit eines 30-tägigen Gewahrsams

Lägen die Tatbestandsvoraussetzungen vor, dann könnten durch einen Gewahrsam kurzfristig Proteste unterbunden und konkrete Gefahren abgewehrt werden, nötigenfalls auch durch mehrfache Ingewahrsamnahme falls sich nach dem Abschluss der Maßnahme aus einem neuen konkreten Protestentschluss eine neue konkrete Gefahr ergeben sollte. Auch ist aber der in Art. 4 bayPAG niedergelegte Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten, der in Art. 17 Abs. 1 Nr. 2 und 3 bayPAG für den Gewahrsam mit dem Verweis auf dessen notwendige Unerlässlichkeit noch einmal betont wird. Danach muss die Ingewahrsamnahme besonders auch erforderlich sein. Hingegen kommen eine ganze Reihe milderer Mittel in Betracht: Von der Gefährderansprache über die polizeiliche Beobachtung bis hin zur elektronischen Aufenthaltsüberwachung. Dass solche Mittel gegenüber Klimaprotestierenden genauso effektiv wie ein Gewahrsam sind, lässt sich jedenfalls nicht pauschal verneinen. Ferner müssen die Anforderungen an die Angemessenheit gewahrt werden, die mit zunehmender Dauer des Gewahrsams steigen. Für einen Zeitraum von 30 Tagen kann die Angemessenheit ebenso wenig angenommen werden wie eine konkrete Gefahr.

Fazit

Die pauschale Ausschöpfung der Höchstgrenze des Gewahrsams im Fall des Vorgehens gegen Aktivistinnen der Münchener Klimaproteste ist von der – ohnehin rechtlich bedenklichen – Rechtsgrundlage im bayerischen Polizeigesetz nicht gedeckt.


SUGGESTED CITATION  Poscher, Ralf; Werner, Maja: Gewahrsam als letztes Mittel gegen die „Letzte Generation“?, VerfBlog, 2022/11/24, https://verfassungsblog.de/gewahrsam-als-letztes-mittel-gegen-die-letzte-generation/, DOI: 10.17176/20221125-001637-0.

69 Comments

  1. Christian Mai Fr 25 Nov 2022 at 05:36 - Reply

    Stellt das nicht eine so erhebliche Gefahr dar, dass das BVerfG von sich aus tätig werden müsste?

    • Raven Kirchner Fr 25 Nov 2022 at 11:01 - Reply

      Das Bundesverfassungsgericht kann nur auf Antrag tätig werden, getreu dem Motto: Wo kein Kläger, da kein Richter. Eine verfassungsgerichtliche Klärung erscheint angesichts der nachvollziehbaren Argumente von Poscher/Werner aus meiner Sicht dringend geboten.

    • Dr. Ho Mi 30 Nov 2022 at 11:33 - Reply

      2020 kamen in Bayern 484 und 2021 443 Menschen durch Verkehrsunfälle ums Leben, im Mittel der vergangenen 10 Jahre wurden in Deutschland jährlich rund 10 Personen durch die Polizei erschossen und es kamen in Polizeigewahrsam (z.B. Wuppertal, Dessau, Berlin) Menschen unter fragwürdigen Umständen ums Leben. Da geht statistisch gesehen die größere Gefahr von anderer Seite als der Letzten Generation aus.

  2. ErmR Fr 25 Nov 2022 at 12:54 - Reply

    Die Autoren scheinen bewusst zu ignorieren, dass gleich sechs (!) unabhängige Ermittlungsrichter mit der Sache befasst waren/sind. Das schiene mir ein erheblicher Zufall zu sein, dass alle sechs Ermittlungsrichter hier Recht und Gesetz falsch anwenden oder sogar ignorieren.
    Vielmehr ist es, entgegen der Ansicht der Autoren, eines der Stärken der bayerischen Justiz, dass sehr oft hart durchgegriffen wird. Dies dient richtigerweise auch der Abschreckung. Denn eins ist klar: Abschreckung durch hartes Durchgreifen von Polizei und Justiz ist das einzige, was diese, mit einer kämpferisch-aggressiven Grundhaltung versehenen, ultralinken schwerkriminellen Straftäter in die Schranken des Rechtsstaats weisen kann.

    • Ben Davy Sa 26 Nov 2022 at 06:14 - Reply

      Ultralinks und schwerkriminell wurde die Weiße Rose auch genannt. Heute sind viele froh, daß diese jungen Menschen so mutig waren.

      • Josef Mitterrer Mi 30 Nov 2022 at 09:50 - Reply

        Was für ein vollkommen überzogener Vergleich.

      • Martin Frank Mi 30 Nov 2022 at 10:37