23 April 2024

Gewalt als körperliche Zwangswirkung

Eine Kritik der Zweite-Reihe-Rechtsprechung

Sitzblockaden gelten gemeinhin als Form des friedlichen Protests. Die Strafgerichte sehen in der Störung der freien Fahrt der Autofahrer:innen jedoch eine Nötigung durch „Gewalt“ nach § 240 StGB. Der Strafbarkeit kann dann nur noch die fehlende Verwerflichkeit nach § 240 Abs. 2 StGB entgegenstehen. Allein um diesen Aspekt, einschließlich der Einwirkung der Versammlungsfreiheit, geht es aktuell in den Verfahren gegen die Aktivist:innen der „Letzten Generation“ (wobei die Verurteilung selten daran scheitert). Dass nach der Rechtsprechung für Gewalt i.S.d. § 240 StGB irgendeine physische Wirkung ausreicht, konkret: die Blockade der Fahrzeuge ab der zweiten Reihe durch die physische Barriere der vor ihnen stehenden Fahrzeuge, hat Florian Slogsnat mit Hinweis auf den Schutzzweck der Norm als überzeugende Auslegung verteidigt. Aus unserer Sicht setzt Gewalt dagegen eine Einwirkung auf den Körper des Opfers voraus. Der Gewaltbegriff der Zweite-Reihe-Rechtsprechung verstößt (entgegen einem Kammerbeschluss des BVerfG von 2011) gegen Art. 103 Abs. 2 GG und führt auch strafrechtsintern zu gravierenden Unstimmigkeiten.

Widerspruch zur Alltagssprache

Die Zweite-Reihe-Rechtsprechung bedient sich einer alltagssprachlich nicht mehr nachvollziehbaren Auslegung des Wortes „Gewalt“. Dass das Sitzen auf der Straße und damit die bloße körperliche Anwesenheit Gewalt darstellen soll, will angesichts der etablierten Unterscheidung von friedlichem und gewaltsamem Protest nicht einleuchten. Siegmar Lengauer hat darauf hingewiesen, dass es bei Gewalt nach dem allgemeinen Sprachgebrauch um körperliche Aggression, nicht um passiven Widerstand gehe. Bei der Zweite-Reihe-Rechtsprechung kommt ein weiterer Aspekt hinzu: Nicht nur erscheint das Verhalten auf Täter:innenseite wenig charakteristisch für Gewalt – auch die Auswirkungen auf das Opfer passen nicht dazu, wie der Begriff üblicherweise verwendet wird. So verzichtet die Zweite-Reihe-Rechtsprechung für die Bejahung von Gewalt auf jedwede Einwirkung auf den Körper des Opfers. Dass der BGH weiterhin das Erfordernis einer körperlichen Zwangswirkung betont, gerät zum bloßen Lippenbekenntnis, wenn es hierfür ausreichen soll, dass irgendwelche Körper (namentlich die Fahrzeuge der ersten Reihe) irgendwelche anderen Körper (die Fahrzeuge der hinteren Reihen) an der Fortbewegung hindern. Die von der Sitzblockade betroffenen Menschen, d.h. die Fahrzeuginsassen, sind körperlich in keiner Weise beeinträchtigt. Der Gewaltbegriff ist damit zwar nicht mehr wie in der früheren Rechtsprechung, die vom BVerfG 1995 verworfen wurde, „vergeistigt“ (schließlich sind handfeste physische Wirkungen im Spiel). Er verliert aber seinen spezifischen Bezug auf den menschlichen Körper. Dies erscheint aus alltagssprachlicher Sicht befremdlich und nicht mehr vorhersehbar. Wie wir im Folgenden erläutern, schützt Art. 103 Abs. 2 GG gerade davor.

Rechtliches Gewicht der Alltagssprache

Slogsnat ist dagegen der Meinung, dass ein von der Alltagssprache losgelöster nötigungsspezifischer Gewaltbegriff zu entwickeln sei – eine Position, die sich möglicherweise auf sprachphilosophische Zweifel an der Existenz feststehender Bedeutungen stützen lässt. Wenn, wie wir seit Wittgenstein wissen, Bedeutung erst im Gebrauch entsteht, warum sollte die juristische Praxis dann nicht ihre eigenen Begriffsverwendungen entwickeln? Ausreichend wäre dann, dass sich die Auslegung mit den juristischen Methoden rechtfertigen lässt. Schon diese Anforderung verfehlte laut BVerfG der „vergeistigte“ Gewaltbegriff, da dieser das Merkmal der Gewalt gegenüber der in § 240 StGB ohnehin verlangten Zwangsausübung bedeutungslos machte. Eine solche methodisch nicht zu plausibilisierende Verschleifung von Tatbestandsmerkmalen verstößt immer auch gegen Art. 103 Abs. 2 GG. Dass der Kammerbeschluss von 2011 die Zweite-Reihe-Rechtsprechung billigte, ist möglicherweise damit zu erklären, dass es hier nicht in derselben Weise zu einer Verschleifung kommt. Slogsnat weist darauf hin, dass hier Fälle strafloser Zwangsausübung verbleiben, etwa das „Freihalten“ einer Parklücke.

Begriffe in der juristischen Praxis losgelöst vom alltagssprachlichen Wortlautverständnis zu definieren, würde aber zentrale rechtsstaatliche Anforderungen an die Vorhersehbarkeit der Rechtsanwendung unterlaufen. In der juristischen Methodenlehre wird zurecht daran festgehalten, dass dem Wortlaut eine eigenständige Relevanz im Auslegungsvorgang zukommt. Ginge es allein um die bestmögliche Zweckverwirklichung, wäre fraglich, warum der Gesetzgeber konditionale Normen formulieren sollte, die bestimmten Tatbestandsmerkmalen eine Rechtsfolge zuordnen. Dass Regelungen gegenüber den damit verfolgten Zwecken „unter- und überinklusiv“ sein, also zu kurz greifen, aber auch über das Ziel hinausschießen können, prägt für Frederick Schauer gerade ihren Regelcharakter. Der rechtsstaatlich zentrale Grund dafür, Regelungen als Konditionalprogramme auszugestalten, liegt gerade darin, dass die Adressat:innen die Bedeutung der verwendeten Begriffe aus dem alltäglichen Sprachgebrauch erschließen können.

Wie eingangs dargelegt, ist ein alltäglicher Sprachgebrauch zum Begriff der Gewalt im Zusammenhang mit Protestaktionen durchaus vorhanden. Dass soziale Konventionen zur Verwendung von Begriffen im Lauf der Zeit Veränderungen unterliegen können und sie für einzelne Sprecher:innen nicht in einem strengen Sinn normativ verbindlich sind, ändert nichts daran, dass es solche Konventionen gibt. Im Übrigen sind Unsicherheiten infolge der Vagheit von Begriffen nur in Grenzfällen ein Problem, sie stehen einer ansonsten sicheren Begriffsverwendung nicht entgegen. Neben den schwierigen „neutralen Kandidaten“ im „Begriffshof“ (Philipp Heck) gibt es auch klar „positive Kandidaten“ im Bereich des „Begriffskerns“ und jenseits des „Begriffshofs“ liegende „negative Kandidaten“. Das heißt dann aber auch, dass es juristische Begriffsverwendungen geben kann, die für die in der Alltagssprache sozialisierten Bürger:innen sehr unwahrscheinlich sein können. Die rechtsstaatliche Bedeutung des Wortlauts lässt sich gerade als Verbot unvorhersehbarer Begriffsbestimmungen verstehen. Christian Becker und Jule Martenson haben das am Beispiel eines BGH-Urteils deutlich gemacht, das den Begriff „Asche“ in § 168 StGB in einer Weise ausgeweitet hat, dass darunter auch Zahngold fällt.

Rechtsprechung konfligiert mit Art. 103 Abs. 2 GG

Im Strafrecht kommt dem Wortlaut bekanntlich eine besondere Bedeutung zu. Lassen sich in anderen Rechtsgebieten Abweichungen vom Wortlaut – etwa im Wege der Analogie oder teleologischen Reduktion – durchaus rechtfertigen, ist dies im Strafrecht zu Lasten der Täterin untersagt. Der Wortlaut bildet hier wegen Art. 103 Abs. 2 GG die äußerste Grenze richterlicher Interpretation. Verboten sind damit nicht nur Analogien im technischen Sinn, sondern auch Auslegungen, die sich zwar mit den juristischen Methoden begründen lassen, aber aus der Perspektive des alltagssprachlich etablierten Begriffsverständnisses überraschend sind. Dabei kann es auch nicht genügen, dass sich ein zunächst unerwartetes juristisches Begriffsverständnis im Lauf der Zeit in der Rechtsprechung festigt. Art. 103 Abs. 2 GG zielt darauf ab, dass der Bereich des Strafbaren schon aus dem Normtext hinreichend vorhersehbar ist. Das hat auch die Senatsmehrheit des BVerfG in der Sitzblockaden-Entscheidung von 1995 gegenüber dem damaligen Sondervotum betont. Begriffsauslegungen in der Rechtsprechung sind zwar insoweit unverzichtbar, als dadurch Vagheiten gesetzlicher Begriffe ausgeräumt werden können. Das ermächtigt die Gerichte aber nicht dazu, auch alltagssprachlich klar „negative Kandidaten“ aufgrund teleologischer Erwägungen einzubeziehen. Aus den genannten Gründen, insbesondere aufgrund der Passivität auf Täter:innenseite sowie der Aufgabe jedweden Bezugs auf den Körper des Opfers, ist der Gewaltbegriff der Rechtsprechung ein solcher „negativer Kandidat“.

Strafrechtsinterne Unstimmigkeiten

Dass es für eine Nötigung durch Gewalt nicht um eine nur irgendwie physisch vermittelte Zwangswirkung geht, sondern um eine solche, die sich auf den Körper des Opfers auswirkt, war früher auch in der Rechtsprechung selbstverständlich (BGHSt 1, 145). Diese Rechtsprechungslinie hält sich bis heute in einer Fallgruppe, die unter dem Schlagwort „Gewalt gegen Sachen“ – präziser wäre die Bezeichnung „durch Sachen vermittelte Gewalt“ – bekannt ist (s. Rengier, BT II, 24. Aufl., § 23 Rn. 30). Klassische Beispiele sind Fälle, in denen eine Vermieterin die Fenster aushängt oder die Heizung abdreht, um eine missliebige Mieterin aus der Wohnung zu vertreiben. Weil sich die dadurch bewirkte Abkühlung der Wohnung auf den Körper des Opfers auswirkt, wird die erforderliche körperliche Zwangswirkung in diesen Fällen bejaht. Es fehlt hier zwar an einem unmittelbaren körperlichen Kontakt zwischen Täter und Opfer (was mit Blick auf den Wortlaut nicht zweifelsfrei erscheint1)), immerhin wird aber das körperliche Element der Zwangswirkung deutlich.

Uns will nicht einleuchten, warum nicht auch die Fälle der Sitzblockade nach diesen Grundsätzen behandelt werden. Nach herrschender Meinung ist der erforderliche Bezug auf den Körper des Opfers zwar auch beim Einschließen gegeben, da hierdurch die körperliche Fortbewegungsfreiheit aufgehoben werde. Bei Sitzblockaden ist die Situation aber eine andere: Hier sind es die im Rückstau befindlichen Fahrzeuge, die als „eingeschlossen“ erscheinen. Die in den Fahrzeugen befindlichen Personen sind in keiner Weise eingeschlossen: Wie Slogsnat selbst feststellt, steht es den Autofahrer:innen frei „auszusteigen oder im Auto zu warten, bis die Blockade samt Kleber (auf-)gelöst ist.“ Die nach den Grundsätzen der „Gewalt gegen Sachen“ zu fordernde Auswirkung auf den Körper des Opfers ist hier nicht vorhanden.

Gewalt ist nicht nur ein „Sichbemächtigen light“

Slogsnat möchte das Erfordernis einer Auswirkung auf den Körper des Opfers dagegen ganz über Bord werfen. So verlange der Gewaltbegriff des Nötigungstatbestands „eine Art ‚Sichbemächtigen light‘, das nicht auf den Körper, sondern auf den Willen des Opfers bezogen ist“. Die erforderliche körperliche Zwangswirkung liege schon dann vor, wenn das Opfer – etwa durch ein unüberwindbares Hindernis – physisch daran gehindert sei, eine gewollte Handlungsoption zu ergreifen. Konsequenterweise müsste man dann aber auch die Grundsätze der „Gewalt gegen Sachen“ über Bord werfen. Stellt die Vermieterin die Heizung ab und versperrt die Tür des Heizraums, ist die Mieterin durch ein unüberwindbares Hindernis (die abgeschlossene Tür) daran gehindert, berechtigterweise den Heizraum zu betreten: Schon hiermit läge also Gewalt i. S. d. § 240 StGB vor. Meine Erzfeindin E, die vor mir in der Schlange am Einlass steht, lässt unbemerkt ihr Konzertticket fallen. Anstatt es E zurückzugeben, stecke ich es ein, um zu verhindern, dass sie aufs Konzert geht. Da mir das Verhalten der Security-Personen, die E ohne ihr Konzertticket berechtigterweise abweisen und für sie ein unüberwindbares physisches Hindernis bedeuten, im Wege der mittelbaren Täterschaft zuzurechnen ist, müssten Slogsnat und die Rechtsprechung konsequenterweise Gewalt i. S. d. § 240 StGB bejahen.

Wenn es nur darauf ankommen soll, dass das Opfer an einer gewollten Handlungsoption physisch gehindert ist, stellt sich ferner die Frage, warum nicht auch die Vernichtung, die Wegnahme oder letztlich jede Form der unberechtigten Entziehung von Sachen, die im Zusammenhang mit irgendeinem Willensprojekt stehen, eine Nötigung durch Gewalt darstellt. Werfe ich das Handy meiner Erzfeindin E ins Feuer, obwohl sie es gerne benutzen wollte, ist ihr die Ausführung dieses Willensentschlusses physisch unmöglich. „Leiht“ A sich (ohne zu fragen) das Skateboard von B, obwohl B gerne damit fahren wollte, dann ist B die Ausführung dieses Willensentschlusses physisch unmöglich. Das letztgenannte Beispiel zeigt, dass sich eine nach den Eigentumsdelikten straflose (weil von § 248b StGB nicht erfasste) Sachentziehung bei konsequenter Verfolgung von Slogsnats Ansatz ohne weiteres unter § 240 StGB subsumieren ließe. Hier wird die ganze Problematik deutlich: Versteht man erstens den Schutzzweck der Norm so weit, dass er – wie es etwa bei Rengier (BT II, § 23 Rn. 1) explizit heißt – mit dem Schutzbereich des Auffanggrundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG zusammenfällt, und vertritt zweitens einen an diesem Schutzzweck orientierten weiten Gewaltbegriff, dann wird § 240 StGB zum „Auffangstraftatbestand“, mit dem sich sehr viele missliebige Strafbarkeitslücken schließen lassen.

Systematische Überlegungen

Warum soll aber für Gewalt i.S.d. § 240 StGB ein Zugriff auf den Körper des Opfers erforderlich sein, wenn doch die Norm nicht den Körper, sondern die Freiheit der Willensbildung und Willensbetätigung schützt? Dass dieser Einwand fehlgeht, zeigt ein Blick auf andere Delikte: Der Diebstahltatbestand schützt nicht den Gewahrsam, sondern das Eigentum – gleichwohl erfasst er nur einen gewahrsamsbrechenden Zugriff auf dieses. Der Betrug schützt nicht die Freiheit von Irrtümern, sondern das Vermögen – dennoch erfasst er nur einen täuschenden Zugriff auf dieses. Es entspricht dem fragmentarischen Charakter des Strafrechts, dass Rechtsgüter nicht umfassend vor fremdem Zugriff geschützt sind, sondern nur vor bestimmten Angriffsarten.

Wie mit den Fällen der Sitzblockade überzeugend umzugehen ist, zeigt ein Blick ins Zivilrecht. Im berühmten „Fleet-Fall“ (BGHZ 55, 153) verlangte die Klägerin Schadensersatz, weil ihr Motorschiff durch Baumstämme in einem Kanal „eingeschlossen“ worden war. Der BGH bejahte einen Eigentumseingriff, da der Klägerin der Gebrauch ihres Motorschiffs faktisch entzogen worden sei. Mit dieser Überlegung lassen sich auch die Sitzblockaden-Fälle korrekt einordnen: Sind Fahrzeuge (nicht aber die hierin befindlichen Personen) durch die Sitzblockade im Stau „eingeschlossen“, ist dies als eine nicht strafbare Gebrauchsentziehung hinsichtlich der Fahrzeuge einzuordnen. Hier eine Nötigung anzunehmen, würde die Straflosigkeit bloßer Sachentziehungen unterlaufen.

Fazit

Ebenso wie Lengauer halten wir es mit Blick auf den Wortlaut bereits für problematisch, beim Gewaltbegriff des § 240 StGB auf jedes aktive, aggressive Element auf Täter:innenseite zu verzichten. In jedem Fall ist für Gewalt i.S.d. § 240 StGB eine Auswirkung auf den Körper, genauer auf die körperliche Integritäts- und Freiheitssphäre des Opfers zu fordern. Die gegenteilige Rechtsprechung zu den Sitzblockaden verstößt gegen Art. 103 Abs. 2 GG und läuft Gefahr, den Nötigungstatbestand auch über diese Fallgruppe hinaus uferlos auszuweiten.

References

References
1 Während bei einem unmittelbaren körperlichen Kontakt zweifelsfrei Gewalt vorliegt („positiver Kandidat“), handelt es sich hier um einen Grenzfall („neutraler Kandidat“). Insoweit mag man die Interpretation der Rechtsprechung für noch mit Art. 103 Abs. 2 GG vereinbar halten.