01 May 2020

Gleichheit im Rausch

Cannabis, Alkohol und eine Chance für das Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) kommt seiner Aufgabe im Regelfall auf gesellschaftlich und politisch umkämpftem Terrain nach. Dass es dabei auch mal Widerspruch erfährt, liegt in der Natur der Sache: Komplexe Abwägungen haben kein determiniertes, einzig richtiges Ergebnis. Sie leben deshalb von der Stringenz ihrer Begründung: Das Ergebnis des BVerfG kann und muss nie alle überzeugen; aber seine Argumentation muss für alle rational nachvollziehbar sein, getragen von intensiver und gewissenhafter Beschäftigung mit den zugrunde liegenden Tatsachen und einschlägigen rechtlichen Aspekten. Karlsruhe darf sich nicht auf reine „Machtsprüche“ beschränken, nicht auf ein apodiktisches „So ist es“. Das gelingt dem BVerfG bemerkenswert regelmäßig. Daher überrascht es kaum, dass es in der Bevölkerung ein höheres Ansehen genießt als jedes andere Staatsorgan. 

Doch auch Karlsruhe greift mal daneben.

Seit einigen Tagen nun hat das BVerfG die Chance, einen seiner seltenen „Machtsprüche“ zu korrigieren: Das Amtsgericht Bernau bei Berlin (AG Bernau) möchte im Wege der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1  GG (unter anderem) wissen, „ob § 29  Abs. 1  Nr. 1  BtMG in der Alternative des Erwerbens von Cannabis i.V.m. Anlage I zu § 1  Abs. 1  BtMG verfassungswidrig ist“ (Az. 2 Cs 226 Js 7322/19 (346/19)). Hierzu hat sich das BVerfG 1994 in seinem sogenannten „Cannabis-Beschluss“ (Az. 2 BvL 43/92) geäußert. Konzentriert hat sich Karlsruhe darin auf die Frage, ob Art. 2 Abs. 1 GG ein „Recht auf Rausch“ gewährt und inwieweit die allgemeine Handlungsfreiheit eingeschränkt werden darf. Es kam dabei zu dem Ergebnis, dass der Grundrechtseingriff durch die maßgeblichen Strafvorschriften (gerade noch) gerechtfertigt war. Gerettet hatten den Gesetzgeber insbesondere die gesetzlich vorgesehenen Möglichkeiten (vgl. § 29 Abs. 5, § 31a BtMG), bei nur geringen Mengen Cannabis für den Eigenverbrauch von einer Bestrafung abzusehen. Solange hiervon in der Zukunft bundesweit einheitlich Gebrauch gemacht werde, sei der Eingriff in die betroffenen Freiheitsrechte verhältnismäßig (vgl. Rn. 164 ff.). Das mochte man in dieser Allgemeinheit schon damals widersprüchlich finden, weil ein Verhalten so erst für strafbar erklärt und im gleichen Atemzug für „nicht so schlimm“ befunden wurde. Doch immerhin hatte sich das BVerfG des Themas insoweit – und das ist das Entscheidende – mit der gebotenen Sorgfalt angenommen: Mit Blick auf Art. 2 Abs. 1 GG war es mit einer gewissenhaften Begründung (Rn. 118-175) zu einem zumindest vertretbaren Ergebnis gekommen.

Die Diskussion um Art. 2 Abs. 1 GG und das „Recht auf Rausch“ dominiert seitdem die öffentliche Debatte – und wird dies mutmaßlich auch anlässlich der Vorlage des AG Bernau wieder tun. Dabei droht ein anderer Aspekt unterzugehen, hinsichtlich dessen es 1994 an einer nachvollziehbaren Begründung fehlte – und aus dem die Verfassungswidrigkeit der Cannabisprohibition schon damals hätte gefolgert werden müssen: der vom BVerfG völlig unzureichend behandelte Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG mit Blick auf die Ungleichbehandlung von Cannabis im Verhältnis zu Nikotin und Alkohol (Rn. 181-187). 

 Vor 26 Jahren – Der Fehlgriff

Erst einmal zutreffend ist die Beobachtung des BVerfG, dass es sich bei Cannabis und Nikotin sowie bei Cannabis und Alkohol jeweils um „wesentlich Gleiches” im verfassungsrechtlichen Sinne handelt, das im Lichte des Art. 3 Abs. 1 GG nicht ohne sachlichen Grund ungleich behandelt werden darf (Rn. 182 f.). Warum wird trotzdem ungleich behandelt?

Dazu äußert sich das Gericht in Bezug auf Nikotin mit einem einzigen Satz (Rn. 185): „Was den Vergleich zwischen Cannabisprodukten und Nikotin angeht, liegt ein hinreichender Grund für die unterschiedliche Behandlung schon darin, daß Nikotin kein Betäubungsmittel ist.“Zur Erinnerung: „Betäubungsmittel“ sind gemäß § 1 BtMG die in dessen Anlagen I bis III aufgeführten Stoffe und Zubereitungen. Frei nach dem Motto: Nikotin ist erlaubt, weil es nicht illegal ist (vgl. hier). Nun sollte man dem BVerfG natürlich nicht einfach unterstellen, hier einen plumpen Zirkelschluss fabriziert zu haben. Vermutlich verwendet das Gericht den Begriff „Betäubungsmittel“ also nicht als terminus technicus. Es erklärt aber auch nicht, was es sonst darunter versteht. Eine nachvollziehbare Begründung bleibt es damit schuldig.

Immerhin ausführlicher widmet sich das BVerfG der Ungleichbehandlung von Cannabis und Alkohol. Hierzu stellt es zunächst fest (Rn. 184), dass der Gleichheitssatz es nicht gebiete, „alle potentiell gleich schädlichen Drogen gleichermaßen zu verbieten oder zuzulassen.“ Denn es sei nicht geboten,

 „daß das Maß der Gesundheitsgefährdung das einzig maßgebliche Kriterium für die Aufnahme in die Positivliste [der Anlagen zu § 1 BtMG] bildet. Neben den unterschiedlichen Wirkungen der Stoffe kann der Gesetzgeber etwa auch deren verschiedenartige Verwendungsmöglichkeiten (man denke an den Mißbrauch der verschiedensten Chemikalien wie Klebstoffe, Lösungsmittel Benzin als „Schnüffelstoffe“), die Bedeutung der verschiedenen Verwendungen für das gesellschaftliche Zusammenleben, die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten, einem Mißbrauch mit Aussicht auf Erfolg entgegenzutreten, sowie die Möglichkeiten und Erfordernisse einer internationalen Zusammenarbeit bei der Kontrolle und der Bekämpfung von Betäubungsmitteln und der mit diesen handelnden kriminellen Organisationen berücksichtigen“ (Rn. 184).

In gewissem Widerspruch dazu steht allerdings, was das BVerfG mit Blick auf die zuvor erfolgten Ausführungen zum Zweck des BtMG offenbart (Rn. 125):

„Der Gesetzgeber verfolgt mit dem derzeit geltenden Betäubungsmittelgesetz ebenso wie mit dessen Vorläufern den Zweck, die menschliche Gesundheit sowohl des Einzelnen wie der Bevölkerung im ganzen vor den von Betäubungsmitteln ausgehenden Gefahren zu schützen und die Bevölkerung, vor allem Jugendliche, vor Abhängigkeit von Betäubungsmitteln zu bewahren.“

Wenn es dem Gesetzgeber primär darum geht, die Gesundheit zu schützen, braucht er schon gewichtige Gründe, um bei zwei gleichermaßen gesundheitsschädlichen Genussmitteln eins zuzulassen, ein anderes aber zu verbieten. Erst recht gilt das natürlich, wenn man das schädlichere Genussmittel praktisch unreglementiert erlauben, das harmlosere aber unter Androhung von „Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder Geldstrafe“ verbieten will. Dass dies auf das Verhältnis von Alkohol und Cannabis zutrifft, ist mittlerweile weitgehend unbestritten und das ahnte 1994 auch schon das BVerfG (Rn. 186): „[Es ist] anerkannt, daß der Mißbrauch von Alkohol Gefahren sowohl für den Einzelnen wie auch die Gemeinschaft mit sich bringt, die denen des Konsums von Cannabisprodukten gleichkommen oder sie sogar übertreffen.“

Warum es dennoch nicht primär auf die „Schädlichkeit“ ankommen soll, begründet das BVerfG nicht weiter. Gespannt wartet man also auf die Anwendung der (zumindest zweifelhaften) Grundsätze – und wird auch da enttäuscht. Die vollständige Subsumtion des BVerfG beschränkt sich auf die folgenden zwei Randnummern (Rn. 186 f.): 

„Für die unterschiedliche Behandlung von Cannabisprodukten und Alkohol sind ebenfalls gewichtige Gründe vorhanden. So ist zwar anerkannt, daß der Mißbrauch von Alkohol Gefahren sowohl für den Einzelnen wie auch die Gemeinschaft mit sich bringt, die denen des Konsums von Cannabisprodukten gleichkommen oder sie sogar übertreffen. Gleichwohl ist zu beachten, daß Alkohol eine Vielzahl von Verwendungsmöglichkeiten hat, denen auf Seiten der rauscherzeugenden Bestandteile und Produkte der Cannabispflanze nichts Vergleichbares gegenübersteht. Alkoholhaltige Substanzen dienen als Lebens- und Genußmittel; in Form von Wein werden sie auch im religiösen Kult verwandt. In allen Fällen dominiert eine Verwendung des Alkohols, die nicht zu Rauschzuständen führt; seine berauschende Wirkung ist allgemein bekannt und wird durch soziale Kontrolle überwiegend vermieden. Demgegenüber steht beim Konsum von Cannabisprodukten typischerweise die Erzielung einer berauschenden Wirkung im Vordergrund.

Weiterhin sieht sich der Gesetzgeber auch vor die Situation gestellt, daß er den Genuß von Alkohol wegen der herkömmlichen Konsumgewohnheiten in Deutschland und im europäischen Kulturkreis nicht effektiv unterbinden kann. Art. 3 Abs. 1 GG gebietet nicht, deswegen auf das Verbot des Rauschmittels Cannabis zu verzichten.“

Das sind die „gewichtige[n] Gründe“, die das BVerfG ausgemacht zu haben glaubt. Das ist das Niveau, auf dem gerechtfertigt wird, dass Cannabiskonsumenten mit Gefängnis bedroht werden. Obwohl das BVerfG selbst erkennt, dass die Gefahren des Alkohols denjenigen von Cannabis „gleichkommen oder sie sogar übertreffen“, und damit die Messlatte für die Rechtfertigung der Privilegierung des Alkohols noch höher legt, liefert es statt einer juristischen Argumentation eine lebensfremde Schüttung schwer nachvollziehbarer Gedankenfetzen einerseits und offenkundiger Falschbehauptungen andererseits. Mit gutem Willen lassen sich darin vier Argumentationsansätze erkennen.

Erstens: Alkohol hat als Genussmittel viele Verwendungsmöglichkeiten, Cannabis nicht. Großzügig gezählt kommt man bei Alkohol auf drei: Trinken, Kochen, Backen. Zu Cannabis war dem BVerfG im selben Beschluss zuvor (Rn. 145) noch Folgendes eingefallen: „Cannabisprodukte werden in Deutschland üblicherweise mit Tabak vermischt geraucht. Daneben kann man Cannabis auch als ‚Tee’ trinken oder es aufgelöst in Tee, als Gewürz im Essen oder als Gebäck zu sich nehmen.“ Schon das BVerfG sieht also vier Verwendungsmöglichkeiten: Trinken, Kochen, Backen – und Rauchen. Freilich fragt man sich, was das überhaupt für eine Relevanz haben soll, aber das ist nun mal der Maßstab, den das BVerfG anlegt. 

Zweitens: Es gibt Messwein. Darin erschöpft sich die Aussage zur Verwendung von Alkohol „im religiösen Kult”. Etwas mehr argumentative Einkleidung wäre natürlich hilfreich gewesen, um einschätzen zu können, wie das BVerfG gedenkt, diese zweifelsohne zutreffende Beobachtung verfassungsrechtlich zu werten. Aber ganz abgesehen davon, ob die Verwendung von Alkohol „im religiösen Kult“ überhaupt ein taugliches Argument für die betäubungsmittelrechtliche Bevorzugung gegenüber Cannabis ist: Auch Cannabis wird – und wurde schon 1994 – im religiösen Kult verwendet, etwa in dem der Rastafari (die im Übrigen ihren rituellen Cannabiskonsum, wie auch das Christentum die Verwendung von Messwein, auf die Bibel zurückführen).

Drittens: „In allen Fällen dominiert eine Verwendung des Alkohols, die nicht zu Rauschzuständen führt; seine berauschende Wirkung ist allgemein bekannt und wird durch soziale Kontrolle überwiegend vermieden. Demgegenüber steht beim Konsum von Cannabisprodukten typischerweise die Erzielung einer berauschenden Wirkung im Vordergrund“. Die Behauptung, es dominiere „in allen Fällen“ (sic!) eine Alkoholverwendung, die nicht zu Rauschzuständen führt und die berauschende Wirkung des Alkohols werde durch soziale Kontrolle überwiegend vermieden, ist schlicht falsch. Sie ignoriert neben dem Oktoberfest auch alle sonstigen Starkbier-, Wein- und Volksfeste der Republik, steht in scharfem Kontrast zur Erfahrung der Strafgerichte, die täglich mit alkoholbedingten Gewaltdelikten konfrontiert sind – und verleugnet Zehntausende Alkoholtote pro Jahr.

Viertens: Alkoholkonsum lässt sich nicht unterbinden – also braucht man es gar nicht erst versuchen. Die Prämisse ist zutreffend, gilt aber für Cannabis genauso, wie sämtliche Statistiken zum Konsumverhalten in der deutschen Bevölkerung seit Jahrzehnten belegen. Auch das BVerfG ging schon 1994 von bis zu vier Millionen Cannabiskonsumenten in Deutschland aus (vgl. Rn. 143). Die Karlsruher Logik zugrunde gelegt, drängt sich die Frage auf: Wie viele Deutsche müssen illegal kiffen, bis man es für legal hält?

Dass diese Ausführungen zur Gleichheit kein einmaliger Aussetzer waren, stellte sich 2004 in einem Beschluss (Az. 2 BvL 8/02) heraus, mit dem das BVerfG einen Normenkontrollantrag des (auch heute wieder vorlegenden) AG Bernau als unzulässig zurückwies. Dabei konnte Karlsruhe sich auch einige Ausführungen zur Sache nicht verkneifen: „Die unterschiedliche Behandlung von Cannabis und Alkohol durch den Gesetzgeber verstößt – wie das Bundesverfassungsgericht entschieden hat – nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG  (Rn. 49).

2020 – Die Chance

Der erneute Antrag des AG Bernau bietet dem BVerfG die Chance, dies richtig zu stellen – falls er die traditionell sehr hohen Zulässigkeitshürden der Art. 100 Abs. 1 GG, § 80 BVerfGG nimmt. Dabei wäre es keine wirkliche Überraschung, wenn sich Karlsruhe nach 2004 ein weiteres Mal wegducken würde: Zulässigkeitsrechtlich unangreifbar ist auch die jetzige Vorlage des AG Bernau sicherlich nicht.  

Und doch sollte die Hoffnung auf eine baldige Sachentscheidung nicht aufgegeben werden. Kaum aussichtsreich ist zwar der Hauptantrag des AG Bernau, in dem es dem BVerfG alle cannabisbezogenenRegelungen des BtMG zur Kontrolle vorlegt: Insoweit fehlt es jedenfalls an der Entscheidungserheblichkeit vieler der vorgelegten Regelungen. Bessere Chancen dürfte aber der Hilfsantrag haben, der sich auf den im Ausgangsverfahren entscheidungserheblichen „§29 Abs.1  Nr.1 BtMG in der Alternative des Erwerbens von Cannabis i. V. m. Anlage I zu § 1 Abs. 1 BtMG“ bezieht. Kein Hindernis sollte dabei die (im Ablehnungsbeschluss von 2004 ins Feld geführte) Rechtskraft des Cannabis-Beschlusses von 1994 sein; denn der Vorlagebeschluss trägt zahlreiche im Vergleich zu 1994 neue und damit beachtliche Tatsachen vor.

Als Knackpunkt verbleibt somit das Begründungserfordernis des § 80 Abs. 2 BVerfG: Die Anforderungen an die Begründung hat Karlsruhe in der Vergangenheit „bis an die Grenze der Unerfüllbarkeit verschärft“ (Lechner/Zuck, BVerfGG § 80 Rn. 31), weshalb auch der Vorlagebeschluss des AG Bernau genügend Angriffsfläche bieten wird, um ihn abzuschmettern und sich einer Sachentscheidung zu entziehen. Diesen Weg sollte das BVerfG aber nicht erneut einschlagen. Denn in der Sache ist die Vorlage überfällig – woran das BVerfG selbst einen gehörigen Anteil hat. Und so sollte Karlsruhe nicht die Schwächen des Antrags als Möglichkeit zu einem erneuten Ausweichen, sondern den Mut des AG Bernau als Chance zur Wiedergutmachung begreifen. 

Die Erfahrung zeigt: Wenn Karlsruhe sich äußern möchte, findet es einen Weg, das zu tun. Dafür ist es – vor allem mit Blick auf Art. 3 Abs. 1 GG – längst an der Zeit. Gesetzgeberische Willkür im Strafrecht ist keine Bagatelle.