Groundhog Day in Karlsruhe: Und täglich grüßt das Murmeltier…
Man liest das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur 3%-Sperrklausel bei Wahlen zum Europäischen Parlament (EP) und fühlt sich unwillkürlich an diesen großartigen Film erinnert, in dem für den Protagonisten wieder und wieder derselbe Tag im Februar (!) stattfindet, der Groundhog Day im abgelegenen Punxsutawney. An diesem Festtag gibt der Auftritt von Punxsutawney-Phil, einem Murmeltier, Aufschluss darüber, ob der Winter noch anhalten wird oder nicht.
In regelmäßigen Abständen öffnet sich auch in Karlsruhe-Waldstadt eine Holztür, auch hier ein Ritual, es erscheinen die farbenfroh gewandeten Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts und erklären dem enttäuschten Gesetzgeber: leider, leider, weitere 5 Jahre Winter, das Europawahlrecht ist schon wieder nicht verfassungskonform ausgestaltet worden, das Bundesverfassungsgericht musste eingreifen. Keine Sperrklausel. Alles noch einmal von vorne – bis das Grundgesetz geändert wird?
Der Reihe nach. Was heute in Karlsruhe geschah, war fast so vorhersehbar wie die Wiederkehr des Groundhog Day in besagtem Film. Wie bereits 2011 die 5%-Klausel, verstößt auch 2014 die 3%-Klausel bei Wahlen zum EP gegen das Grundgesetz (GG), nach demselben Prüfmaßstab. Wieder besteht eine nur knappe Mehrheit von 5 zu 3 im Zweiten Senat, wieder ergeht ein Sondervotum.
Alte Argumente
Die Argumente sind alle schon längst und mehrfach ausgetauscht, eine Übersicht findet sich hier. 1979 hatte das Bundesverfassungsgericht unter der Geltung desselben Grundgesetzes die 5%- Sperrklausel für ein deutlich schwächeres EP noch für zulässig erachtet (BVerfGE 51, 222). Andere Richter, andere Ansichten: seit einiger Zeit werden die Hürden für Sperrklauseln hochgezogen, erst bei den Kommunalwahlen (BVerfGE 120, 82), dann bei den Europawahlen. Die 5%-Klausel für die EP-Wahl wurde 2011 für verfassungswidrig erklärt (BVerfGE 129, 300). Es gab seinerzeit ein detailliertes Sondervotum der Richter Mellinghoff und Di Fabio, dieses Mal gibt es ein Sondervotum des Richters Müller. In all diesen Sondervoten werden alle maßgeblichen Gegenargumente referiert.
Das Kernargument der Mehrheit ist nach wie vor der Test, ob eine „Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit“ des Parlamentes vorliegt. Allein diese würde eine Durchbrechung der Grundsätze der Wahlrechtsgleichheit und der Chancengleichheit der politischen Parteien durch eine Sperrklausel rechtfertigen.
Eine ausreichende Beeinträchtigung vermag die Senatsmehrheit für das EP 2014 wie bereits 2011 nicht zu erkennen. Dabei haben schon 2011 die Sondervoten dazu alles Erforderliche ausgeführt: „Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit“ ist nicht gleich „Blockade in der parlamentarischen Willensbildung“; es besteht keine Grundlage in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht für eine Verengung der Funktionsbeeinträchtigungen auf Funktionsunfähigkeit; der Gesetzgeber kann zudem den Nachweis gar nicht führen, dass mit „einiger” Wahrscheinlichkeit eine Blockade der Willensbildung im EP droht. Und nur weil das EP bisher mit Funktionsbeeinträchtigungen einigermaßen zu Recht kommt, muss ihm nicht noch mehr zugemutet werden.
Neue Argumente?
Es gab indessen für den neuen Anlauf mit einer 3%-Sperrklausel durchaus im Vergleich zu 2011 noch neue oder neu zu vertiefende Argumente und Gesichtspunkte.
Dies war – vor allem aus Sicht der sehr engagierten Europaparlamentarier – zuvörderst eine Entschließung des EP betreffend die Wahlen zum EP im Jahr 2014 und die Festlegung auf einen Zusammenhang zwischen der Aufstellung von Spitzenkandidaten und der Wahl des nächsten Kommissionspräsidenten durch das EP. Damit sollte das Argument entkräftet werden, anders als der Bundestag wähle das EP keinen Regierungschef und brauche daher auch keine stabilen Mehrheiten. Das Bundesverfassungsgericht hat dieses Argument nicht beeindruckt.
Ein weiteres Argument ist das Sonderweg-Argument. Ich persönlich halte den Hinweis auf den deutschen Sonderweg durch Aufhebung der Sperrklausel für wichtig und für bisher zu wenig beachtet. Ich habe alle anderen mitgliedstaatlichen Wahlrechtsordnungen einmal durchgesehen und es stellt sich heraus, dass in allen anderen Mitgliedstaaten – mit Ausnahme Spaniens – entweder de jure oder de facto eine Sperrklausel wirkt. Eine de facto-Sperrklausel ergibt sich daraus, dass eine gewisse Anzahl an Stimmen erforderlich ist, um überhaupt an der Sitzverteilung teilnehmen zu können. Sie kann erheblich höher liegen als 5%. In Luxemburg zum Beispiel betrug die de facto-Sperrklausel über 16%. Es waren bei 198.364 abgegebenen Stimmen zuletzt 6 Sitze zu vergeben. Ein Sitz erforderte damit knapp 33.000 Stimmen, das waren 16,6% der abgegebenen Stimmen. In Deutschland ergibt sich übrigens eine de facto-Sperrklausel von knapp 1%. Das Bundesverfassungsgericht setzt sich mit dem Problem eines deutschen Sonderwegs nicht auseinander.
Das Argument vom deutschen Sonderweg entfaltet seine Bedeutung freilich erst richtig in der Zusammenschau mit dem folgenden weiteren Argument – und dies ist ein Thema, das in den Verfahren nicht prominent diskutiert wurde: Der Wegfall jeglicher Sperrklauseln schadet der deutschen Interessensvertretung im EP. Der deutsche Einfluss innerhalb derjenigen politischen Kräfte, die maßgebliche Fraktionsstärke erreichen, wird spürbar beschnitten, insbesondere bei Wahlen von Funktionsträgern (Beispiel Fraktionsvorstand) kann es auf jede Stimme ankommen. Die Aufsplitterung deutscher Interessen oder von Interessen aus Deutschland wird aller Voraussicht nach zu einer weniger effektiven Interessensvertretung führen.
Dann hätte das Bundesverfassungsgericht der effektiven Vertretung deutscher Belange im europäischen politischen Prozess einen Bärendienst erwiesen. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der dem EP wegen der Euro-Krise weitere Verantwortung auf rechtlicher (s. Art. 13 Fiskalvertrag) und faktischer Ebene (Bsp. Rechtsetzung Bankenunion) zufällt. Die Europaabgeordneten sollen natürlich keine reinen nationalen Interessenvertreter sein, Art. 14 EUV bezeichnet sie als Vertreter der Unionsbürger. Aber es gibt eben ein Land, das sie am besten kennen. Wenn Interessen und Positionen aus dem größten Mitgliedstaat nicht sinnvoll – effektiv – kanalisiert und eingebracht werden können, dann wirkt das als Defizitwahrnehmung auf das Bild des EP in Deutschland zurück.
Die Lösung
Was nun?
Jemand hat berechnet, dass der Protagonist in Groundhog Day mehr als 30 Jahre lang immer wieder denselben Tag erlebt, bis er erlöst wird. Wenn man nicht so lange warten will, bis das Bundesverfassungsgericht das EP ernst nimmt, dann gibt es jedenfalls die folgenden zwei Möglichkeiten.
Die Erste wäre die Europäisierung der Sperrklausel. Eine bedenkenswerte Idee ist dabei im Gesetzgebungsverfahren 2013 die im nationalen Wahlrecht europäisierte Sperrklausel gewesen. Dabei würde grenzüberschreitend bemessen, ob eine politische Kraft eine kritische Masse erreicht oder nicht.
Die umfassende Lösung wäre natürlich die einheitliche Regelung auf europäischer Ebene. Für ein europaweit einheitliches Wahlrecht ist indessen kein Konsens in Sicht, auch nicht für eine europaweit einheitliche Sperrklausel. Die Deutschen werden bei den anderen Mitgliedstaaten auch nicht viel Unterstützung erwarten dürfen, fast alle anderen haben ja de jure oder de facto Sperrklauseln. Dass die Deutschen als solche im EP nicht richtig handlungsfähig sind, wird die anderen nur mäßig stören.
Die zweite Option wäre eine Änderung des Grundgesetzes. Ich sehe die Reaktionen auf einen solchen Vorschlag voraus: „Angriff auf das Bundesverfassungsgericht!“ „Undemokratisch!“ „Schlechte Verlierer!“ usf.
Langsam.
Zwar stimmt es, dass bisher Wahlrechtsdetails nicht im GG geregelt sind. Sie sollen im politischen Raum entschieden werden. Die Verfassung, so heißt es immer, setzt nur den Rahmen. Aber genau das ist nicht mehr möglich, weil das Bundesverfassungsgericht im Wahlrecht – nicht nur dem der EP-Wahl – immer kleinteiligere Vorgaben macht.
Etliche Länderverfassungen haben Sperrklauseln festgeschrieben. Sie finden sich in den Verfassungen von Berlin (Art. 39 Abs. 2, 70 Abs. 2 S. 2), Bayern (Art. 14 Abs. 4), Bremen (Art. 75 Abs. 3), Niedersachen (Art. 8 Abs. 3), Thüringen (Art. 49 Abs. 2); siehe auch die Verfassungen von Baden-Württemberg (Art. 28 Abs. 3 S. 2 und 3), Hessen (Art. 75 Abs. 3) und Rheinland-Pfalz (Art. 80 Abs. 4 Satz 2).
Von den Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts geht in Sachen EP-Wahl mangels klarer Mehrheiten keine befriedende Funktion aus. Deswegen muss der Verfassungsgesetzgeber entscheiden. Sowohl 2011 als auch jetzt 2014 erging das Urteil mit einer knappen 5-zu-3-Mehrheit. Wären durch Zufall zwei Richter aus der Mehrheit von 2011 ausgeschieden und nicht zwei Richter aus der Minderheit, dann hätte man heute möglicherweise eine 5-zu-3-Konstellation für die Verfassungsmäßigkeit von Sperrklauseln bei Europawahlen erlebt. Eine derart wichtige Frage kann doch nicht dem Zufall der Richterbankbesetzung überlassen bleiben.
Man muss dabei auch Folgendes sehen: Etliche Argumente aus den Urteilen von 2011 und 2014 lassen sich sehr wohl auf Landtags- und Bundestagswahl übertragen, vor allem die kontinuierliche Beobachtungspflicht, ob bestehende Sperrklauseln noch zu rechtfertigen sind. Mit einer klarstellenden Verfassungsänderung würde man die absehbare Rechtsunsicherheit bei dortigen Sperrklauseln beseitigen. Ohne Gleichlauf der Sperrregeln zur Bundestagswahl wird die EP-Wahl in Teilen zur Ersatz- und Experimentierwahl für Gruppierungen, die bei der Bundestagswahl gesperrt sind. Das zeigt sich in Spanien, dem einzigen anderen Mitgliedstaat ohne de jure und de facto-Sperrklausel. Auch im Kommunalwahlrecht bereitet die durch das Bundesverfassungsgericht verfügte Abschaffung der Sperrklauseln Probleme. Vorsorglicher Hinweis: Sperrklauseln berühren nicht den unverfügbaren Bereich der Ewigkeitsklausel, so der Verfassungsgerichtshof Berlin in einem Urteil vom 13.5.2013.
Die Verfassung nach einem Verfassungsgerichtsurteil zu ändern ist anderswo Normalität. Ein Beispiel dafür ist Frankreich. Das Urteil zur 3%-Sperrklausel wirkt vergleichsweise unaufgeregt. Man hat da eben seine Meinung. Genauso unaufgeregt sollte der Gesetzgeber nun als verfassungsändernder Gesetzgeber tätig werden und damit sehr wohl auch eine – teils etwas in Vergessenheit geratene – Selbstverständlichkeit in Erinnerung rufen: das Verfassungsgericht hat das vorletzte Wort in der bestehenden Ordnung. Das letzte Wort hat der verfassungsändernde Gesetzgeber, unter Beachtung von Art. 79 Abs. 3 GG und der völkerrechtlichen Verpflichtungen Deutschlands. Es kommt dabei auf den entsprechenden politischen Willen und die erforderlichen Zweidrittelmehrheiten an.
Ausblick
Ob es dazu kommen wird? Meine Beobachtungen beim Gesetzgebungsverfahren zur Einrichtung einer 3%-Hürde machen mich vorsichtig. Das Verfahren im Bundestag hatte viel von einer Pflichtaufgabe, die man abarbeitet. In der Anhörung im Innenausschuss gaben die meisten Sachverständigen – u.a. immerhin der vormalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts Papier – Hinweise dazu, wie man den Entwurf noch hätte stärken können. Man hat uns freundlich zugehört. Viel mehr nicht. Das mag freilich auch mit einer allgemeinen Erschöpfung einer sich dem Ende zuneigenden Wahlperiode im Juni 2013 erklärbar sein.
Aber: Der Bundestag hat ja letztlich kein übermäßiges institutionelles Interesse daran, das EP zu stärken. Und seit heute wissen wir, dass auch das Bundesverfassungsgericht das EP bis auf weiteres nicht stützen will – es bleibt für eine Mehrheit der Richter des Zweiten Senates ganz offenbar näher am Gemeinderat als am Bundestag.
Nichts gegen Gemeindeparlamente, aber dieser Vergleich wird der Rolle und Funktion des EP nicht gerecht. Das EP ist eine einmalige Zivilisationsleistung, das einzige überstaatliche Arbeitsparlament der Welt, ein konkreter Beweis dafür, dass man parlamentarische Demokratie jenseits des Nationalstaates organisieren kann.
Es bleibt indessen, wie die gesamte europäische Integration, ein fragiles Konstrukt. Das oberste deutsche Gericht bzw. eine knappe Mehrheit im Zweiten Senat hat einmal mehr seine Integrationsverantwortung – siehe Präambel des Grundgesetzes: Staatsziel Vereintes Europa –, die auch ihm für die Institutionen der europäischen Integration obliegt, vernachlässigt.
Das macht den heutigen Tag insgesamt dann doch zu einem traurigen Tag für die Demokratie in Europa.
In der Tat, bisher spielten die deutschen MdEPs meist eine wichtige Rolle in ihren jeweiligen Fraktionen im Europäischen Parlament, stellten z.B. in den großen Fraktionen häufig mehr als die Hälfte der Fraktionsvorsitzenden. Deutsche MdEPs hatten auch sonst überproportional viele wichtige Positionen inne (EP-Präsident, Ausschussvorsitzende etc.). Noch wichtiger aber: Die starke Rolle der deutschen MdEPs in den Fraktionen von EVP, SPE, Liberalen und Grünen hat in den häufig sehr heterogenen EP-Fraktionen vielfach stabilisierend gewirkt und damit das Funktionieren des EP insgesamt stabilisiert. Die Funktionszusammenhänge im Europäischen Parlament und in der EU weitgehend zu ignorieren, scheint im BVerfG leider zum guten Ton zu gehören. Auch vorherige Urteile leiden darunter, dass die europäische Verfassungswirklichkeit nicht wahrgenommen wird, sondern man sich eher in theoretischen Ableitungen verirrt – geprägt allein von der deutschen staatsrechtlichen Perspektive. Dabei haben schon die Schöpfer des Grundgesetz, aber auch der verfassungsändernde Gesetgeber das GG ausdrücklich in den europaverfassungsrechtlichen Kontext gestellt. Wann ist das BVerfG endlich bereit, diese Dimension des GG gleichberechtigt zu berücksichtigen?
Soviele Argumentationen und Mannstunden für ein euroäisches Parlament verschwendet, das de facto kastriert und machtlos ist? Hier darf der kleine Wähler also angeblich noch Wähler sein? Mit Nichten. In Europa herrscht schon deshalb keine Demokratie, weil das “One Man One Vote” Prinzip nicht gilt. Eine Deutsche Stimme hat nicht das gleiche Gewicht wie eine maltesische, Luxemburgis