26 July 2024

„Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“ meets Grundrechte

Content Moderation durch Kartellrecht, der Fall „Filmwerkstatt Düsseldorf“

Wo wirtschaftliche Macht im Wettbewerb missbraucht wird, greift das Kartellrecht ein. Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen – kurz GWB –, das der damalige Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard einst als „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“ bezeichnete, dient einzig dem Schutz des Wettbewerbs. Dass der Missbrauch wirtschaftlicher Macht neben Einschränkungen des Wettbewerbs auch zu Grundrechtsverletzungen führen kann, hat im deutschen Kartellrecht bisher selten eine Rolle gespielt. In den 67 Jahren seit seinem Inkrafttreten wurde kaum auf die Grundrechtsrelevanz materieller Fragen im GWB eingegangen. Dennoch hat das LG Düsseldorf in seiner jüngsten Entscheidung Grundrechte in die Wertung des Kartellrechts einbezogen. Das ist bemerkenswert und zeigt, dass das Kartellrecht im Rahmen seines Anwendungsbereichs sehr wohl Grundrechten zur Durchsetzung verhelfen kann. Grundrechtsfragen stellen im Kartellrecht jedoch weiterhin lediglich einen Nebenschauplatz der Beurteilung dar. Anders als teilweise aus dem öffentlichen Recht gefordert, findet keine ‚direkte‘ Bindung privater Akteure an öffentlich-rechtliche Mechanismen und Rechtsinstitute statt. Der Anknüpfungspunkt des Kartellrechts ist und bleibt Macht im und deren Auswirkungen auf den Wettbewerb. Auswirkungen auf die Grundrechte sind lediglich im Wege der sog. mittelbaren Drittwirkung zu beachten.

Der Fall „Filmwerkstatt Düsseldorf“

Ende 2021 geriet der gemeinnützige Verein Filmwerkstatt Düsseldorf in Konflikt mit dem Internetgiganten Facebook. Dieser sperrte die Seite des Vereins für mehrere Monate wegen vermeintlicher Verstöße gegen die sog. Gemeinschaftsstandards. Der Verein, der sich dem Austausch und der Auseinandersetzung mit Filmen widmet, sah sich in seiner Arbeit und in der Ausübung seiner Grundrechte stark eingeschränkt: Die Facebook-Seite war der zentrale Kommunikationskanal für die Bewerbung von Veranstaltungen. Der Verein klagte beim Landgericht (LG) Düsseldorf gegen Facebook. Die Besonderheit: Die Klage wurde strategisch von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unterstützt. Die GFF hat sich auf die Fahnen geschrieben mit Musterentscheidungen den Schutz von Grundrechten und demokratischen Werten durchzusetzen und zu festigen. Sie feiert das Urteil in der Sache 14d O 1/23, das der Verein jetzt vor dem Landgericht Düsseldorf erstritten hat, als „wegweisendes Urteil für die Kunstbranche“ und „wichtigen Erfolg für die Kunstfreiheit“.

Was war vorgefallen? Die Filmwerkstatt hatte bei Facebook etwa 4.000 Nutzerinnen und Nutzer. Doch das Konto wurde gesperrt. Grund dafür war offenbar die Werbung für den Film „Der Schamane und die Schlange“ (FSK 12) mit einem Foto, auf dem der Regisseur Ciro Guerra und traditionell mehr oder weniger bekleidete indigene Menschen aus dem Amazonas-Gebiet gezeigt wurden. Der Amazonas-Film war 2016 für einen Oscar nominiert. Die Facebook-Sperre ging mutmaßlich auf Nutzungsbedingungen zurück, die die Gemeinschaftsstandards festschrieben. In diesen waren alle möglichen Bedingungen festgelegt, z.B. zur Darstellung von Nacktheit bei Minderjährigen. Facebook sperrte das Konto offenbar ohne vorherige Anhörung des Vereins und ohne Begründung. Ein Fall fürs Kartellrecht?

Ausrichtung und Ziele des Kartellrechts

Das Kartellrecht ist nicht zur Überwachung der Content Moderation großer Digitalplattformen und der Durchsetzung der Grundrechte ausgelegt. Schutzzweck des Kartellrechts ist viel mehr die Sicherung des Bestehens von Wettbewerb als zentralen Steuerungsmechanismus der Wirtschaft um Innovationskraft, Effizienz und Verbraucherwohlfahrt. Das Kartellrecht stellt so die einfachrechtliche Ausformung des Schutzes wirtschaftlicher Grundrechte, wie der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1 GG), der Vereinigungs- und Koalitionsfreiheit (Art. 9 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und der Eigentumsfreiheit (Art. 14 GG) dar. Basierend auf den Theorien des sog. Ordoliberalismus soll das deutsche Kartellrecht lediglich einen Ordnungsrahmen schaffen, in denen die freie Marktwirtschaft ihre positiven Wirkungen entfalten kann. Direkte Eingriffe des Staates in die Marktprozesse sind im Kartellrecht nur in Ausnahmefällen möglich, viel mehr soll der Staat lediglich den Rahmen festsetzen und dessen Einhaltung kontrollieren. Darauf basierend beinhaltet das Kartellrecht drei Kernregelungen: das Kartellverbot, die Fusionskontrolle und das Verbot des Missbrauchs markbeherrschender Stellungen.

Kartellrecht und Content Moderation?

Das Kartellrecht ist seinen Grundzielen entsprechend grundsätzlich nicht darauf ausgelegt, spezifische Inhalte oder Moderationspraktiken zu regulieren. Dafür gibt es heute insbesondere den Digital Services Act (DSA). Das Kartellrecht kann trotzdem eine Rolle spielen: Es greift ein, wenn der Wettbewerb beschränkt wird.

Das LG Düsseldorf stellt richtigerweise klar, dass die Sperrung des Kontos der Filmwerkstatt „kartellrechtliche Relevanz“ hat und eine Behinderung gem. § 19 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 GWB (Konditionenmissbrauch) darstellt: „Die Sperrung der Facebook-Seite des Klägers betrifft […] Marktbeziehungen und berührt die Position des Klägers im Wettbewerb“. So beschränkt das LG Düsseldorf im Ergebnis mit kartellrechtlichen Instrumenten die inhaltlichen Vorgaben von Facebook an seine Nutzerinnen und Nutzer. Das LG bejaht für Facebook recht knapp Marktbeherrschung auf dem nationalen Markt für soziale Netzwerke.
§ 19 GWB zielt darauf ab, die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs sicherzustellen, daher liegt der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung in solchen Fällen nur vor, wenn die Position des Beeinträchtigten im Wettbewerb durch die inhaltliche Vorgabe berührt oder jedenfalls gefährdet wird. Damit der Fall kartellrechtlich relevant wird, muss es sich bei dem gesperrten Konto um das Konto eines im Wettbewerb stehenden Akteurs handeln.
Zwar ist die Filmwerkstatt ein gemeinnütziger Verein, der folglich nicht primär wirtschaftlich tätig ist. Aus kartellrechtlicher Sicht ist der Verein dennoch ein relevanter Akteur im Wettbewerb. Die Filmwerkstatt befindet sich bei der Ausrichtung ihrer Veranstaltungen im direkten Wettbewerb mit anderen Film- und Kultureinrichtungen. Durch diese Position im Wettbewerb ist im vorliegenden Fall der Anwendungsbereich des Kartellrechts eröffnet und eine Überprüfung der Content Moderation anhand von § 19 GWB möglich. Maßstab dieser Prüfung ist sodann die Auswirkung von Facebooks Handlung – der Kontosperrung – auf die Position der Filmwerkstatt im Wettbewerb. Die Sperrung stellt eine erhebliche Beeinträchtigung der Werbekanäle der Filmwerkstatt für ihre Veranstaltungen dar und betrifft daher die Position des Vereins im Wettbewerb mit anderen Veranstaltern.

Dass Kontensperrungen von Unternehmen einen Missbrauch gem. § 19 GWB darstellen können, haben bereits mehrere Gerichte in Fällen der Sperrung von Händlerkonten auf Amazon bestätigt. Die Sperrung des Kontos der Filmwerkstatt stellt einen vergleichbaren Fall dar.

  • 19 GWB sieht die Möglichkeit einer sachlichen Rechtfertigung des Missbrauchs vor. Für eine Rechtfertigung müssten die Anforderungen an die Content Moderation gem. DSA und P2B-VO erfüllt sein. Im Falle der Sperrung des Kontos der Filmwerkstatt wurden deren Voraussetzungen jedoch mangels vorheriger Information und Überprüfungsmöglichkeit der Sperrung nicht erfüllt.

Darin liegt ein wesentlicher Punkt: Das LG hat nicht geprüft, ob die Inhaltsbeschränkungen falsch sind und dadurch möglicherweise Grundrechte verletzt wurden. Es kritisiert das Vorgehen von Facebook – die Anmaßung des Plattformbetreibers, ohne jede Information und Begründung ein Nutzerkonto vom Netz zu nehmen. Das ist pure Macht im Wettbewerb, die daher zurecht kartellrechtlich geprüft wird.

Kartellrecht und Digital Constitutionalism?

Wie im Rahmen der Auslegung jeder sonstigen zivilrechtlichen Generalklausel entfalten die Grundrechte auch im Rahmen der von § 19 GWB vorgesehenen sachlichen Rechtfertigung ihre Ausstrahlungswirkung als sog. mittelbare Drittwirkung. Kann das Kartellrecht so einen Beitrag zum sog. Digital Constitutionalism leisten?

Digital Constitutionalism beschreibt die Bestrebung fundamentale Verfassungsprinzipien wie die Gewaltenteilung, Demokratie und auch die Grundrechte in der digitalen Gesellschaft zu sichern, die durch die Macht großer privater Digitalkonzerne gefährdet erscheint. Das kartellrechtliche Missbrauchsverbot wirkt mit seinem Adressatenkreis marktmächtiger Unternehmen zunächst wie ein passend zugeschnittenes Instrument, um genau diese mächtigen Unternehmen im Digitalsektor zu mehr Grundrechtsschutz anhalten zu können. Das Kartellrecht verlangt aber immer die Bezugnahme auf Auswirkungen auf den Wettbewerb. So war es dem Kartellrecht lange fremd, Faktoren zu berücksichtigen, die über wettbewerbliche und wirtschaftliche Erwägungen hinausgehen. Das Ökonomische steht ganz im Vordergrund, grundrechtliche Aspekte spielten bisher in materiellrechtlichen Fragestellungen keine Rolle.

Der BGH legte jedoch bereits 2020 in seiner Entscheidung im Verfahren Facebook/Bundeskartellamt dar, dass eine Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Rahmen von § 19 GWB zu berücksichtigen sei. Das LG Düsseldorf arbeitete im vorliegenden Fall daran anschließend heraus, dass im Rahmen der sachlichen Rechtfertigung die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Wege der mittelbaren Drittwirkung zu berücksichtigen sei. Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG), Filmfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 Var. 2 GG), Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 i. V. m. der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1, Art. 2 Abs. 1 GG) sowie das Willkürverbot (Art. 3 Abs. 1 GG) seien für die Filmwerkstatt mit den unternehmerischen Grundrechten von Facebook in Ausgleich zu bringen.

Dabei sind die vom Bundesverfassungsgericht in den Entscheidungen Recht auf Vergessen I, Fraport und Stadionverbot entwickelten Kriterien anzuwenden, wonach die Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen sind und zu einer unterschiedlichen Gewichtung der jeweiligen entgegenstehenden Grundrechte der Bürger führen können. So sind insbesondere „die Unausweichlichkeit von Situationen, das Ungleichgewicht zwischen sich gegenüberstehenden Parteien, die gesellschaftliche Bedeutung von bestimmten Leistungen oder die soziale Mächtigkeit einer Seite“( BVerfG, Beschl. v. 11.04.2018, Az. 1 BvR 3080/09, Rn. 33 – Stadionverbot) zu berücksichtigen. „Je nach Umständen, insbesondere wenn private Unternehmen in eine staatsähnlich dominante Position rücken oder etwa die Bereitstellung schon der Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation selbst übernehmen, kann die Grundrechtsbindung Privater einer Grundrechtsbindung des Staates im Ergebnis vielmehr nahe- oder auch gleichkommen.“ (BVerfG, Beschl. v. 06.11.2019, 1 BvR 16/13, Rn. 88 – Recht auf Vergessen I; BGH, Beschl. v. 23.06.2020, KVR 69/19, Rn. 105 – Facebook/BKartA).

Grundvoraussetzung des Missbrauchsverbots gem. § 19 GWB ist, dass der Normadressat eine marktbeherrschende, mithin dominante Position innehat. Plattformbetreiber im Bereich Social Media stellen zudem die Rahmenbedingungen öffentlicher Kommunikation bereit. Die Anwendung der Grundsätze der mittelbaren Drittwirkung führt in Fällen von Betreibern marktmächtiger Digitalplattformen folglich dazu, dass die Grundrechte der vom Missbrauch betroffenen Personen seitens des Digitalkonzerns verstärkt zu berücksichtigen sind und somit in kartellrechtlichen Beurteilungen relevant werden. Ein Novum im Kartellrecht und ein Schritt in Richtung Digital Consitutionalism?

Es ist stets im Blick zu behalten, dass die Grundsätze der mittelbaren Drittwirkung und so die Grundrechte nur im Rahmen eines Tatbestandsmerkmals des § 19 GWB, der sachlichen Rechtfertigung, Ausstrahlungswirkung entfalten. Die sonstigen Voraussetzungen des § 19 GWB müssen parallel erfüllt sein. Dafür muss insbesondere ein wettbewerblich relevanter Missbrauch der Marktstellung vorliegen. Im Falle der Filmwerkstatt war dies aufgrund der Relevanz der Facebook-Seite als Werbe- und Informationskanal für die wettbewerbliche Aktivität des Vereins der Fall. Löschungen von Postings oder Kontosperren von Privatpersonen, die ihre Meinungs- und Kunstfreiheit auf Social Media entfalten, unterfallen somit nicht § 19 GWB.

Das Kartellrecht ist daher kein Instrument des Digital Constitutionalism, kann jedoch in Sonderfällen, wie dem Vorliegenden, faktisch den gleichen Werten zur Durchsetzung verhelfen. Die zentralen Ansatzpunkte des Kartellrechts sind jedoch die Auswirkungen und Gefahrenlagen für den Wettbewerb und nicht fundamentale Verfassungsprinzipien.

Fazit

Das Urteil des Landgerichts Düsseldorf zeigt, dass das Kartellrecht, insbesondere das Missbrauchsverbot gem. § 19 GWB, im Lichte der Grundrechte auszulegen ist. Als Durchsetzungshebel ist das Kartellrecht dafür attraktiv, nicht zuletzt, da die großen Digitalkonzerne als Gefahr für den Wettbewerb – und für die Grundrechte! – durchaus erkannt werden.

Nichtsdestotrotz unterfallen dem Anwendungsbereich des Kartellrechts nur Sachverhalte, die Einschränkungen des Wettbewerbs betreffen. Der Schutz des Kartellrechts erstreckt sich nicht auf die Sperrung von Privatkonten oder sonstige grundrechtsrelevante Sachverhalte ohne wettbewerbliche Relevanz. Es ist die rücksichtslose Machtausübung in der Wirtschaft, die Gegenstand des Kartellrechts ist. Wo diese Macht Grundrechte unterpflügt, kann das Kartellrecht ein interessanter Hebel sein.


SUGGESTED CITATION  Wondracek, Elisabeth: „Grundgesetz der Sozialen Marktwirtschaft“ meets Grundrechte: Content Moderation durch Kartellrecht, der Fall „Filmwerkstatt Düsseldorf“, VerfBlog, 2024/7/26, https://verfassungsblog.de/grundgesetz-der-sozialen-marktwirtschaft-meets-grundrechte/, DOI: 10.59704/492f8b12e15d5882.

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