18 April 2025

Grundlegende Reform oder Schnellschuss?

Zur Änderung des Grundgesetzes vor der konstituierenden Sitzung des 21. Deutschen Bundestages

Im März 2025 haben der Deutsche Bundestag und der Bundesrat einer Änderung des Grundgesetzes zugestimmt. Das am 24. März 2025 im Bundesgesetzblatt verkündete Gesetz sieht unter anderem vor, dass für Bund und Länder in den nächsten Jahren erhebliche neue Gestaltungs- und Verschuldungsspielräume entstehen sollen. Die Änderungen betreffen dabei erstens eine Bereichsausnahme für Ausgaben für die Gesamtverteidigung und für die Erfüllung sicherheitspolitischer Aufgaben. Zweitens wird für die Länder – ähnlich wie bereits für den Bund – eine strukturelle Verschuldungsmöglichkeit geschaffen. Drittens kann auf Bundesebene ein Sondervermögen errichtet werden, durch das zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur sowie Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität finanziert werden dürfen.

Bundestag und Bundesrat folgten den nach der Bundestagswahl zunehmenden Stimmen für eine Reform der Schuldenbremse noch vor der konstituierenden Sitzung des 21. Deutschen Bundestags am 25. März 2025. Neben inhaltlicher Kritik stieß auch das Verfahren der Grundgesetzänderung nicht nur auf Zustimmung. So hatte das Bundesverfassungsgericht über mehrere Eilverfahren zu entscheiden, die es jedoch mit Beschlüssen vom 13. März 2025 / 13. März 2025 sowie vom 17. März 2025 verwarf.

Dieser Text gibt einen Überblick über die beschlossenen Änderungen des Grundgesetzes. Die Änderungen, die nach dem Entwurf des Koalitionsvertrages (ab Zeile 1612) wohl noch nicht das Ende der Reformbemühungen darstellen, weisen einige offene Fragen und sprachliche Ungenauigkeiten auf, die Bund und Länder einfachgesetzlich weiter bearbeiten müssen.

Verteidigungsausgaben

Art. 109 Abs. 3 Satz 5 GG n.F. und Art. 115 Abs. 2 Satz 4 GG n.F. sehen vor, dass von den zu berücksichtigenden Einnahmen aus Krediten der Betrag abzuziehen ist, um den die Verteidigungsausgaben, die Ausgaben des Bundes für den Zivil- und Bevölkerungsschutz sowie für die Nachrichtendienste, für den Schutz der informationstechnischen Systeme und für die Hilfe für völkerrechtswidrig angegriffene Staaten 1 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt übersteigen. Die Beschlussempfehlung (BT-Drs. 20/15117, S. 23) enthält insofern eine Aufzählung derjenigen Ressorteinzelpläne, aus denen Maßnahmen durch Kredit finanziert werden können.

Vor dem Hintergrund der im Entwurf (BT-Drs. 20/15096) und in der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses (BT-Drs. 20/15117) beschriebenen Herausforderungen im Zusammenhang mit der sicherheitspolitischen Situation sind insbesondere die Kreditfinanzierbarkeit der Verteidigungsausgaben – auch und insbesondere zur Erreichung des 2-Prozent-Ziels der NATO – nachvollziehbar. Im Zusammenhang mit dem Zivil- und Bevölkerungsschutz wird man sich die Aufgabenteilung von Bund und Ländern ansehen müssen. Die nach oben hin nicht begrenzte Möglichkeit, die genannten Aufgaben durch Kredit zu finanzieren, wird im Hinblick auf die Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte in der Praxis zu beobachten sein.

Strukturkomponente für die Länder

Die Länder erhalten, wie der Bund bisher schon, eine strukturelle Verschuldungsmöglichkeit. Art. 109 Abs. 3 Satz 6 GG n.F. sieht vor, dass die Gesamtheit der Länder dem in Satz 1 geregelten Nettoneuverschuldungsverbot entspricht, wenn die durch sie erzielten Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. Die Aufteilung der für die Gesamtheit der Länder zulässigen Kreditaufnahme nach Satz 6 auf die einzelnen Länder regelt gem. Satz 7 ein Bundesgesetz mit Zustimmung des Bundesrates. Vorstellbar ist insofern eine Aufteilung auf die einzelnen Länder im Bundesgesetz, zum Beispiel nach Einwohner:innenzahl, nach dem Bruttoinlandsprodukt oder nach dem Königsteiner Schlüssel. Die Auswahl der Verfahren dürfte dabei im Detail Unterschiede der Höhe der Kreditaufnahme des jeweiligen Landes mit sich bringen.

Nach dem Wortlaut des Art. 109 Abs. 3 Satz 7 GG ist in dem Bundesgesetz zu regeln, wie die für die Gesamtheit der Länder zulässige Kreditaufnahme nach Satz 6 auf die einzelnen Länder aufgeteilt wird. Ob und wie die Länder dies für ihre Haushalte im Rahmen ihrer verfassungsrechtlichen Kompetenzen weiter ausgestalten, ist nach Satz 8 durch sie zu regeln. Von Bedeutung und nicht unumstritten ist insofern der neue Satz 9. Danach gilt, dass bestehende landesrechtliche Regelungen, die hinter der gemäß Satz 7 festgelegten Kreditobergrenze zurückbleiben, außer Kraft treten.

Die Strukturkomponente für die Länder ist einer derjenigen Reformvorschläge, der seit längerem in der Diskussion war. Die neue Regelungssystematik in Art. 109 Abs. 3 GG, insbesondere im Zusammenhang mit der konkreten Ausgestaltung durch Bund und Länder, wird im Detail einige rechtliche Fragen mit sich bringen, die in den nächsten Jahren sicherlich wissenschaftlich – insbesondere im Hinblick auf die unterschiedlichen Verfassungsräume – bearbeitet werden dürften. Hierzu zählt das Verhältnis der Normen zueinander, aber auch die in Satz 9 vorgesehene Regelung zum Außerkrafttreten restriktiverer Regelungen im Zusammenhang mit der strukturellen Verschuldungsmöglichkeit für die Länder.

Die Strukturkomponente hat ursprünglich den Sinn, die bestehenden Investitionsbedarfe zu berücksichtigen, ohne jedoch für diese gebunden zu sein (vgl. Siekmann, in Sachs (Hrsg.), GG, 10. Aufl. 2024, Art. 109 Rn. 71). Dass die Länder eine solche strukturelle Verschuldungsmöglichkeit nicht hatten, ist eher auf die damaligen Beratungen zurückzuführen, als dass es sachlich begründet ist. Insofern kann eine Strukturkomponente für die Länder eine sinnvolle Ergänzung des bisherigen Systems der Schuldenbremse sein – über die Höhe ließe sich streiten. In den Ländern führt die Regelung dazu, dass diese ihre bisherigen landesrechtlichen Ausgestaltungen der Schuldenbremse überprüfen und erforderlichenfalls anpassen müssen.

Auf die strukturelle Verschuldungsmöglichkeit der Länder sind die Kredite im Zusammenhang mit finanziellen Transaktionen (also z.B. der kreditfinanzierbare Erwerb von Beteiligungen) nicht anzurechnen. Auch wenn Art. 109 Abs. 3 GG die Bereinigung um finanzielle Transaktionen nicht ausdrücklich vorsieht, handelt es sich hierbei um eine zulässige Ausgestaltungsmöglichkeit der Schuldenbremse für die Länder (vgl. BT-Drs. 16/12410, S. 12).  Während der Bund eine solche Bereinigung in Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG regelt, müssen die Länder dies gem. Art. 109 Abs. 3 Satz 8 GG n.F. weiterhin im jeweiligen Landesrecht ausgestalten.

Auch im Zusammenhang mit dem in Art. 109 Abs. 3 Satz 9 GG vorgesehenen Außerkrafttreten strengeren Verfassungsrechts ist zu beachten, dass nicht jedwede strengere Regelung außer Kraft tritt, sondern sich diese – durchaus streitbare Regelung – auf das Nettoneuverschuldungsverbot bezieht. Soweit in einzelnen Länder beispielsweise keine konjunkturbedingte Kreditaufnahme vorgesehen ist, kann hierdurch keine – nicht vorhandene – Regelung außer Kraft treten. Das Außerkrafttreten bezieht sich insofern nur auf das Nettoneuverschuldungsverbot, bei dem die Länder bisher keine strukturelle Verschuldungsmöglichkeit hatten. Auch Art. 87 Abs. 2 Satz 1 Verfassung von Berlin, der vorsieht, dass Kredite nur aufgenommen werden dürfen, wenn andere Mittel zur Deckung nicht vorhanden sind, ist von der Regelung grundsätzlich nicht betroffen. Das Grundgesetz kennt in Art. 31 und 142 GG Vorschriften (vgl. Meickmann: hier), die einen Durchgriff auf das Landesrecht bedeuten können. Letztlich ließe sich diskutieren, ob nicht durch Satz 9 der Spielraum der Länder erweitert wird. Auch dies hätte Aufgabe der Länder sein können, den Spielraum selbst zu umgrenzen (siehe Tappe).

Spannend ist die neue strukturelle Verschuldungsmöglichkeit auch vor dem Hintergrund aktueller oder geplanter Feststellungen außergewöhnlicher Notsituationen. Unabhängig von der Frage, wie sich die strukturelle Kreditaufnahme und die notsituationsbedingten Kredite zueinander verhalten, sollen die strukturellen Kredite nach der Gesetzesbegründung gerade den Herausforderungen in den Ländern dienen (zum Beispiel die Anpassung an den Klimawandel und der Integration geflüchteter Menschen) und werden diesen danach sogar „gerecht“ (vgl. BT-Drs. 20/15117, S. 2f., 5). Diese Wertung ist in den Ländern zu beachten. Die strukturelle Kreditaufnahme ist im Übrigen eine allgemeine Ausnahme (vgl. Schmidt, Öffentliches Finanzrecht, Tübingen 2023, Rn. 589 f.; Disselbeck, Staatsverschuldung, Berlin 2017, S. 149 ff. und 174; Hinzen, Fiskalresilienz im Budgetparlamentarismus, Tübingen 2025, S. 102 ff.) vom ansonsten geltenden Nettoneuverschuldungsverbot. Denkbar wäre daher, dass sie den notsituationsbedingten Krediten vorgehen.

Sondervermögen Infrastruktur

Die dritte Neuerung betrifft die geschaffene Möglichkeit, ein Sondervermögen mit eigener Kreditermächtigung für zusätzliche Investitionen in die Infrastruktur und für zusätzliche Investitionen zur Erreichung der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 mit einem Volumen von bis zu 500 Mrd. € zu errichten, vgl. Art. 143h Abs. 1 Satz 1 GG. Davon sollen 100 Mrd. € an den Klima- und Transformationsfonds (Satz 5) zugeführt werden und 100 Mrd. € stehen den Ländern für Investitionen in deren Infrastruktur (Abs. 2 Satz 1) zur Verfügung. Sprachlich ist Abs. 2 Satz 1 etwas missglückt. Danach stehen den Ländern 100 Mrd. € auch für Investitionen der Länder in deren Infrastruktur zur Verfügung. Gemeint ist aber nichts anderes, als dass aus dem Sondervermögen – neben dem Bund – auch den Ländern Mittel für Investitionen in deren Infrastruktur zustehen. Wichtig für die Flächenländer dürfte sein, dass die Kommunen hierbei mitgedacht werden, insbesondere da durch das Sondervermögen die Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 erreicht werden soll (vgl. auch Kühl/Scheller).

Bemerkenswert ist die in Satz 2 vorgesehene Legaldefinition der Zusätzlichkeit. Diese liegt nämlich dann vor, wenn im jeweiligen Haushaltsjahr eine angemessene Investitionsquote im Bundeshaushalt erreicht wird. In der Begründung der Beschlussempfehlung des Haushaltsausschusses heißt es hierzu, dass dies dann der Fall ist, „wenn der im jeweiligen Haushaltsjahr insgesamt veranschlagte Anteil an Investitionen 10 vom Hundert der Ausgaben im Bundeshaushalt ohne Sondervermögen und finanzielle Transaktionen übersteigt“ (BT-Drs. 20/15117, S. 23). Der Bund ist insofern gehalten, seine Investitionsquote jedenfalls in der Planung hoch zu halten. Für eine spürbare Verbesserung der Infrastruktur wäre indes eine Durchführung der Maßnahmen und damit ein Mittelabfluss entscheidend.

Das Ausgliedern von Aufgaben und Ausgaben in Sondervermögen (vgl. Meickmann, Schattenhaushalte und parlamentarisches Budgetrecht, NVwZ 2022, 106 ff.), noch zumal solchen, die in den Kernbereich von Bund und Ländern fallen, kann keine Dauerlösung sein. Sie erschweren die Übersichtlichkeit der staatlichen Ausgaben. Die Haushaltsgrundsätze der Einheit und Vollständigkeit (§ 8 HGrG) sollen dies grundsätzlich ermöglichen. Auch das Gesamtdeckungsprinzip (§ 7 HGrG) sollte bei der Errichtung von Sondervermögen nicht aus dem Blick geraten (siehe Tappe; Matuschka, Das Nonaffektationsprinzip, S. 64 ff.).

Ausblick

Insgesamt stellt die Grundgesetzänderung die Verschuldungsmöglichkeit in Bund und Ländern in den nächsten Jahren auf veränderte Grundlagen und schafft sowohl für Bund und Länder erhebliche finanzielle Spielräume. Es ist Aufgabe der künftigen Haushaltsgesetzgebung, die rechtlichen Möglichkeiten mit den Handlungsbedarfen einerseits und den Fragen der Tragfähigkeit des Haushalts sowie der finanziellen Generationengerechtigkeit andererseits in Ausgleich zu bringen.

Der erhebliche Zeitdruck bei der Beratung der Änderungen dürfte noch einige rechtliche Fragen nach sich ziehen. Die nur eingeschränkte Justiziabilität einer nur einfachgesetzlichen Schuldenbremse in den Ländern könnte bei einer späteren Reform einbezogen werden. Eines ist aber festzuhalten: Das Grundgesetz schafft neue Gestaltungs- und Verschuldungsspielräume. Diese werden im weiteren Verlauf sowohl im Bund als auch in den Ländern näher ausgestaltet werden müssen.


SUGGESTED CITATION  Matuschka, Philip: Grundlegende Reform oder Schnellschuss?: Zur Änderung des Grundgesetzes vor der konstituierenden Sitzung des 21. Deutschen Bundestages, VerfBlog, 2025/4/18, https://verfassungsblog.de/grundlegende-reform-oder-schnellschuss/, DOI: 10.59704/64385f6cae2ea2e2.

One Comment

  1. Andreas Bartholomäus Tue 6 May 2025 at 19:50 - Reply

    Vor allem sind die zugrundeliegenden, von der neoklassischen Wirtschaftstheorie hervorgebrachten bzw. unterstützten, Annahmen wie “Hohe Staatsausgaben führen automatisch zu Preisinflation”, “Staatsschulden werden mit Steuergeldern zurück bezahlt” und damit das politische Narrativ der Generationengerechtigkeit, sowie das leider vom BVerfG geurteilte Steuerstaatsprinzip”Der Staat kann nur soviel ausgeben wie er einnimmt” wohlwollend gesagt zumindest äußerst Fragwürdig.

    Staatsschulden und Staatsvermögen sind zwei Seiten der selben Medaille, die in Summe immer Null ergeben (Saldenmechanik)! Die Bundesregierung kann ihr Konto bei der Bundesbank innerhalb eines Geschäftstags „überziehen“. Was das bedeutet, ist technisch entscheidend: Die Bundesregierung gibt erst Geld aus, und bekommt danach ihre Steuererlöse und die Erlöse aus dem Verkauf von Staatsanleihen auf ihr Verrechnungskonto bei der Bundesbank überwiesen.

    Staatsschulden werden nicht mit „Steuergeldern“ zurückgezahlt, sondern überrollt. Das heißt: Man ersetzt alte Staatsanleihen durch neue und ermöglicht so den weiteren Zinsdienst. Das ist ohne weiteres möglich, weil der deutsche Staat nicht auf absehbare Zeit „stirbt“ und daher auch in Zukunft seine Schulden durch Überrollen begleichen kann. Der Staat tätigt seine Ausgaben mittels Zentralbanküberziehungskredit, für dessen Rückzahlung der Staat Kredite des sogenannten Bieterkonsortiums (in etwa 30 Privatbanken) in Zentralbankreserven aufnimmt – soweit die Rückzahlung des Zentralbankkredits nicht durch Steuereinnahmen gedeckt ist. Bereits aus dem Begriff des Schuld- bzw. Zahlungsversprechens folgt, dass der Staat für seine Ausgaben nicht auf deren Rücklauf – sei es als Steuern, sei es als „Staatsverschuldung“ in Form der Begebung von „Schuldpapieren“ – angewiesen sei. Der „Vorrat“ an neuen Schuld/zahlungsversprechen sei definitionsgemäß unbegrenzt. Eigene Schuldversprechen, die an den Staat zurückgelangen, verlieren wegen der sogenannten Konfusion angesichts der Identität von Schuldner und Gläubiger in einer Person ihre Wirksamkeit. Sie sind wertlos. Neue Ausgaben erfordern lediglich neue Versprechen.

    Es ist in höchstem Maße verwunderlich, dass das Argument der Generationengerechtigkeit, die Erwachsenengeneration von heute lebe mit schuldenfinanzierten Leistungen auf Kosten ihrer Kinder und Enkel, seit vielen Jahrzehnten unermüdlich vorgetragen wird, obwohl es nicht einmal einer Theorie bedarf, um diese Behauptung ad absurdum zu führen. Ein kurzer Blick in die Empirie reicht aus. Nehmen wir die USA als Beispiel, das Land, für das die vielleicht umfassendsten und verlässlichsten langen Zeitreihen zur Verfügung stehen. Die USA verzeichneten aufgrund der erforderlichen Staatsausgaben während des Zweiten Weltkrieges immense Budgetdefizite von zum Teil deutlich über 20 Prozent des BIP, woraus nach Angaben des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine Verdreifachung der Staatsverschuldung von 38,6 Prozent des BIP im Jahr 1941 auf 116 Prozent im Jahr 1945 resultierte. In der oben dargestellten Logik hätte ein so massiver Anstieg der staatlichen Schuldenquote zu einer enormen Belastung für die „künftige Generation“ führen müssen, die auf die Kriegsgeneration folgte. Das Gegenteil war der Fall: Weder die „Babyboomer“, die zwischen 1946 und 1964 geboren wurden, noch ihre Eltern wurden von den enormen Staatsschulden erdrückt, die sich während des Zweiten Weltkrieges angehäuft hatten und die nun (angeblich) zurückgezahlt werden mussten. Stattdessen erlebten sie zwischen 1950 und 1973 das später so bezeichnete “Goldene Zeitalter des Kapitalismus” mit hohem Wachstum, steigenden Einkommen, einer niedrigen Arbeitslosigkeit und einer geringen Inflation.

    Möglich war dies deshalb, weil die Staatsschulden eben nicht zurückgezahlt werden und eine höhere Staatsverschuldung nicht zu höheren Steuersätzen führt, die die privaten Einkommen schmälern. Wir wurden nicht mit höheren Steuersätzen belastet, um die zur Zeit unserer Großeltern entstandenen Staatsschulden zurückzuzahlen; umgekehrt werden unsere Kinder und Enkel nicht mit höheren Steuersätzen belastet werden, um die heute entstandenen Staatsschulden zurückzuzahlen. Staaten tilgen ihre Schulden bei Fälligkeit, indem sie auslaufende Staatsanleihen durch neue ablösen (das heißt, diejenigen Staatsanleihen, deren Laufzeit zu Ende ist, durch Neuemissionen ersetzen, wobei die Einnahmen aus den neuen Anleihen zur Rückzahlung der alten Anleihen verwendet werden). Aber sie reduzieren fast nie die Gesamthöhe ihrer ausstehenden Verbindlichkeiten, die mehr oder weniger mit dem Umfang der Volkswirtschaft wachsen. Ein solches fortwährendes Roll-over von Staatsschulden, also der Ersatz alter Anleihen durch neue, ist seit sehr langer Zeit nicht nur in den USA, sondern in allen entwickelten Ländern gang und gäbe. Aber müssen nicht trotzdem all die angehäuften Staatsschulden irgendwann final zurückgezahlt werden, wenn auch vielleicht erst in ferner Zukunft? Hier ist wiederum ein Blick in die USA hilfreich: Dort war die US-Bundesregierung seit 1776 in nahezu jedem Jahr verschuldet. Nur ein einziges Mal in der US-Geschichte, nämlich zu Beginn des Jahres 1835, wurde die Staatsschuld vollständig getilgt und für zwei Jahre ein Budgetüberschuss aufrechterhalten. Im Jahr 1837 stürzte dann die Volkswirtschaft in eine tiefe Depression, die den Haushalt ins Defizit trieb. Die US-Bundesregierung ist seither – also seit dem Jahr 1837 – ununterbrochen verschuldet, hat mithin bereits 185 Jahre lang ihre Schulden nicht zurückgezahlt, ohne dass daraus irgendwelche Probleme entstanden wären. Und man kann mit Sicherheit annehmen, dass sich daran in den nächsten 185 Jahren nichts ändern wird.

    Die Politiker und Wirtschaftsexperten welche auf die Einhaltung der Schuldenbremse pochen, gehen offenkundig von der falschen Vorstellung aus, dass das Budgetergebnis allein – oder jedenfalls primär – vom „Sparwillen“ der Regierung bestimmt wird. Tatsächlich aber ist die Budgetposition nicht diskretionär, da sie von der Wirtschaftsentwicklung und den anderen sektoralen Finanzierungssalden abhängt. Die Abhängigkeit von der Wirtschaftsentwicklung zeigt sich daran, dass die politischen Entscheidungsträger zwar einen Teil der Ausgaben festlegen, die Steuersätze bestimmen und einige Vorhersagen zu den Gesamtausgaben und Steuereinnahmen am Jahresende machen können, aber keine Kontrolle über die Haushaltsdynamik während des Jahres besitzen. Wie die private Gesamtersparnis ist auch der Haushaltssaldo (Überschuss, ausgeglichen oder Defizit) ein Residualergebnis des Wirtschaftsprozesses. Jeder Versuch der Regierung, den Saldo proaktiv zu beeinflussen, hat wenig Erfolgsaussichten. Da der Budgetsaldo somit gar nicht unter der Kontrolle der politischen Entscheidungsträger steht, sondern sich vielmehr weitgehend an die Erfordernisse des Wirtschaftssystems anpasst, lässt er sich nicht einfach vorab als Ziel festlegen. Das heißt, die Verwendung willkürlicher und rigider fiskalischer Regeln (also irgendwelcher Defizitobergrenzen) ist unsinnig. Reduziert der Bund etwa in einem wirtschaftlichen Abschwung seine Ausgaben um die Überschreitung irgendeiner vorher festgelegten Budgetdefizit-Grenze zu vermeiden, führt dies wegen der Rückkoppelungseffekte zu einer Verschärfung und Verlängerung der Rezession. Es entsteht die Gefahr eines ökonomischen Teufelskreises von Ausgabenkürzungen des Bundes, abnehmendem Wachstum, zunehmender Arbeitslosigkeit, sinkenden Steuereinnahmen, wachsenden Sozialausgaben, damit steigenden Budgetdefiziten und neuen Kürzungsprogrammen. Zudem müssen diejenigen, die einen ausgeglichenen Haushalt (oder eine bestimmte Defizitgrenze) anstreben, die daraus resultierenden Veränderungen in den anderen sektoralen Finanzierungssalden berücksichtigen, da eine Abhängigkeit zwischen den sektoralen Salden besteht. Die Finanzierungssalden der volkswirtschaftlichen Sektoren müssen sich immer zu Null addieren, sprich Staatsschulden auf der einen und Staatsvermögen anderen, sind zwei Seiten der selben Medaille die in Summe immer Null ergeben… erhöht der Staatssektor seine Ausgaben (Staatsschulden) in die nicht-Staatssektoren (Private Haushalte, Unternehmen und das Ausland), erhöht das die dortigen Gewinne, genau so entziehen Steuerüberschüsse (Staatsgewinne) des Staatssektors, den nicht-Staatssektoren das nötige Kapital für Konsumausgaben (Nachfrage) oder Investitionen! Also staatliche Budget- bzw. Haushaltsdefizite stützen die private Einkommen, indem sie der Volkswirtschaft mehr Geld zuführen, als sie ihr durch Steuern entziehen. Defizite stärken ebenso die privaten Investitionen, indem sie die erwarteten Umsätze und die Kapazitätsauslastung – die Haupttriebkräfte der Unternehmensinvestitionen – stabilisieren und schlussendlich führen eine so erzeugte steigende Konsumnachfrage ebenfalls wieder zu einem höheren Steueraufkommen. Eine wachsende Staatsverschuldung wird oft als gefährlich angesehen, weil sie angeblich die Zinssätze in die Höhe treibt, das Wirtschaftswachstum bremst und die Inflation anheizt. Diese Einschätzung ist nicht nur unzutreffend, sondern sie unterschlägt auch die Vorteile, die Haushaltsdefizite und Staatsverschuldung für die übrige Volkswirtschaft haben.

    Außerdem sollte man sich mal die Frage stellen, wie eine Rezession mit Insolvenzen von Binnenwirtschaftlichen Unternehmen und eine gleichzeitig stetig steigende Steuereinnahmenvermehrung eigentlich möglich sein kann? Die Priorität von Militärausgaben als Staatsausgaben mit unreproduktiven Charakter wird jedenfalls nicht das Olivgrüne Wirtschaftswunder erzeugen.

    lg

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