Hat die EU das Kräftemessen mit Polen bereits verloren?
Heute feiert das polnische Verfassungsgericht seinen 30. Geburtstag. Die Stadt Danzig lädt zu einer großen Jubiläumskonferenz ein, vier ehemalige und ein amtierender Verfassungsrichter werden Vorträge halten, und auch aus Europa werden hochrangige Gäste erwartet: EuGH-Präsident Koen Lenaerts wird ein Grußwort sprechen, der Präsident der Venedig-Kommission des Europarats, Gianni Buquicchio, wird vor Ort sein, ebenso die Präsidenten der Verfassungsgerichte mehrerer Nachbarstaaten. Am Abend ist eine öffentliche Podiumsdiskussion geplant.
Ein schönes Jubiläum zweifellos: in den 30 Jahren seiner Existenz hat sich das Gericht europaweit viel Ansehen erworben. Doch gejubelt wird zu diesem Anlass heute in Danzig wohl kaum. Seit fast einem Jahr befindet sich das Gericht in einer Art Belagerungszustand. Drei der 15 Richterposten sind unbesetzt, zwei Urteile unveröffentlicht, die Autorität des Gerichts schwer beschädigt. Am 27. Juli hat die EU-Kommission Polen unter Beobachtung gestellt und “Empfehlungen” ausgesprochen, was die polnischen Organe tun müssen, um das für die Mitgliedschaft in der EU verlangte Maß an Rechtsstaatlichkeit sicherzustellen. Sonst droht Polen etwas, das noch kein EU-Mitgliedsstaat je hat über sich ergehen lassen müssen, noch nicht einmal Ungarn: ein Sanktionsverfahren nach Art. 7 des EU-Vertrags, das im Entzug des Stimmrechts in der EU gipfeln kann. Zehn Tage hat Polen noch Zeit, die Forderungen umzusetzen. Am 27. Oktober läuft die von der Kommission gesetzte Frist ab.
Ich habe mich in den letzten Wochen in Warschau umgesehen und umgehört und mit vielen Leuten gesprochen, die sich auskennen. Was versprechen sich diejenigen, die an der Seite des Verfassungsgerichts kämpfen, von diesem nie da gewesenen, unter Schaudern “nukleare Option” genannten Ereignis? Was kann Europa tun, damit Regierung und Gesetzgeber im sechstgrößten EU-Mitgliedsstaat sich wieder an ihre eigene Verfassung halten? Die Antwort: Achselzucken. Europa kommt im verfassungspolitischen Kräftemessen in Polen kaum vor. Was nicht daran liegt, dass man die Sanktionsdrohung auf die leichte Schulter nähme. Woran aber dann?
Dialog ohne Worte
Im Kern fordert die Kommission von Polen drei Dinge: Erstens soll die Exekutivgewalt die drei kurz vor dem Machtwechsel von der heutigen Oppositionspartei Bürgerplattform (PO) gewählten Richter ihr Amt antreten lassen, die immer noch auf ihre Vereidigung durch den Staatspräsidenten warten. Zweitens soll die Regierung sämtliche Urteile des Verfassungsgerichts veröffentlichen, einschließlich die Urteile über die Verfassungsprozessrechts-“Reformen” vom 9. März und vom 11. August, die die Regierung nach wie vor als illegal behandelt und im Amtsblatt zu veröffentlichen sich weigert. Drittens soll sie sicherstellen, dass die Urteile des Verfassungsgerichts in vollem Umfang befolgt und seine Arbeit nicht weiter behindert wird.
“Diese Forderungen lassen sich in einem halben Tag erfüllen”, sagt Małgorzata Szuleka von der Bürgerrechtsorganisation Helsinki Foundation. Doch seit sie am 27. Juli bekannt gegeben wurden, hat sich so gut wie nichts getan. Man stehe im Dialog, so die offizielle Sprachregelung.
Man wird sich diesen Dialog ziemlich einsilbig vorstellen müssen: Der allmächtige PiS-Vorsitzende Jarosław Kaczyński ließ der Kommission von der “Bild”-Zeitung ausrichten, er finde ihre Forderungen “belustigend”, und erklärte das ganze Verfahren für rundweg europarechtlich illegal (die zunächst angekündigte Klage beim Europäischen Gerichtshof wurde indessen nie eingereicht). Mitte September räumte Kommissions-Vize Frans Timmermans, der das Verfahren gegen Polen betreibt, im EU-Parlament ein: “Der Streit bleibt ungelöst.” Das ist er bis heute. “Wir sind im Wartemodus”, sagte mir ein Kommissionssprecher. “Der Ball liegt im Feld der polnischen Regierung.” Wann zuletzt tatsächlich Gespräche stattgefunden haben, und zwischen wem, wollte er mir nicht sagen.
Dabei steht für beide Seiten viel auf dem Spiel. Dass es am Ende zu einem Entzug der Stimmrechte kommt, die letzte Stufe des Sanktionsverfahrens nach Art. 7, glaubt zwar niemand – denn dazu wäre eine einstimmige Entscheidung im Rat der Mitgliedsstaaten nötig, und die wird schon Polens Verbündeter Ungarn zu verhindern wissen. “Niemals in einer Million Jahren wird der Rat Artikel 7 gegen Polen in Gang setzen”, sagte mir die liberale niederländische Europaabgeordnete Sophia in’t Veld.
Aber bereits die formelle Einleitung des Art.-7-Verfahrens könnte Kaczyńskis Belustigung jäh abkühlen lassen – wenn schon nicht aus europa-, so doch aus haushaltspolitischen Gründen. Wenn nämlich die Rating-Agenturen diesen Schritt zum Anlass nehmen, Polens Kreditwürdigkeit herabzustufen, dann verteuert sich die polnische Staatsverschuldung, und die Regierung müsste womöglich, anstatt weiter soziale Wohltaten über kinderreiche Familien und andere auszuschütten, drastisch zu sparen anfangen. Das könnte sie sich politisch gar nicht leisten. “Das ist es, was sie wirklich ernst nehmen”, sagte mir einer einer Gesprächspartner in Warschau.
Wie man eine Nuklearwaffe entschärft
Aber auch die EU-Kommission steht unter enormem Erwartungsdruck. Das Artikel-7-Verfahren werde nicht ohne Grund die “nukleare Option” genannt, sagte mir ein anderer Jurist in Warschau, der den Konflikt um das Verfassungsgericht intensiv begleitet hat. Das Prinzip der nuklearen Abschreckung funktioniere nur, solange es niemand wirklich darauf ankommen lässt zu testen, ob die Bombe auch wirklich gezündet wird. “Wenn sie das einmal machen, und dann hat es keinen Effekt – dann ist die EU am Ende.”
Vielleicht schafft es die polnische Regierung aber noch, die Bombe zu entschärfen – und zwar ohne ihr Ziel, das Verfassungsgericht als potenzielles Hindernis für ihre Politik zu eliminieren, aufgeben zu müssen.
Der Schlüssel dazu ist die Position des Präsidenten des Verfassungsgerichts. Die Amtszeit des amtierenden Präsidenten Andrzej Rzepliński, der sich seit Ausbruch der Krise mit erhobenen Fäusten in jedes Kampfgetümmel mit der Regierung gestürzt hatte, läuft am 19. Dezember aus. Und wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, dann wird sein Nachfolger jemand sein, der auf das Kommando der PiS hört oder zumindest ihr sein Amt verdankt. Gute Chancen werden vor allem dem Richter Piotr Pszczółkowski eingeräumt, der sich für Kaczyński Meriten als sein Anwalt im Prozess um den Flugzeugabsturz von Smolensk 2010 erworben hat – die Urkatastrophe der heutigen PiS, bei der Kaczyńskis Zwillingsbruder Lech, damals Staatspräsident, gemeinsam mit einem großen Teil der Führungsspitze der PiS ums Leben kam (bzw. nach Kaczyńskis unerschütterlicher Überzeugung einem Mordanschlag russischer Agenten unter Komplizenschaft der PO-Vorgängerregierung zum Opfer fiel).
Die Chancen, einen ihr genehmen Kandidaten für das Amt des Verfassungsgerichtspräsidenten durchzubringen, hat die PiS mit der jüngsten Gesetzesänderung am Verfassungsgerichtsgesetz aktiv gesteigert. Zuvor sah das Verfahren vor, dass das Richterplenum zwei Kandidaten bestimmt, aus denen dann der Staatspräsidenten auswählt, wen er zum Gerichtspräsidenten ernennt. Künftig sind es drei Kandidaten – was es sehr wahrscheinlich macht, dass einer der mittlerweile vier von der PiS nominierten Richter es auf die Liste schafft und von Staatspräsident Andrzej Duda dann umgehend ernannt wird.
Wenn das gelingt, könnte der neue Gerichtspräsident als erste Amtshandlung die drei so genannten “Anti-Richter” – die PiS-Kandidaten, die im Dezember vereidigt worden waren, aber deren Plätze bereits von den vor dem Machtwechsel gewählten, aber nicht vereidigten Richtern besetzt sind – zur Richterbank zulassen. Rzepliński hatte den dreien die Mitarbeit im Gericht bisher untersagt. Drei weitere Richterposten von insgesamt 15 hat die PiS in der Zwischenzeit bereits legal gefüllt, mit Rzeplińskis Stelle sind es vier – macht zusammen sieben. Zur Mehrheit im Gerichtsplenum fehlt dann nur noch eine Stimme. Die bekommt die PiS schon wenige Monate später, wenn im Juni 2017 auch Rzeplińskis Stellvertreter Stanisław Biernat sein Amt räumen muss.
Aber auch unabhängig davon ist der 19. Dezember das eigentlich entscheidende Datum im Streit um das polnische Verfassungsgericht. Denn der Gerichtspräsident hat weit reichende Befugnisse, was die Besetzung der Richterbank und die Reihenfolge der abzuarbeitenden Verfahren betrifft. “Sobald sie ihren eigenen Verfassungsgerichtspräsidenten haben, können sie jedes Urteil, das eins ihrer Gesetze für verfassungswidrig erklärt, blockieren”, sagte mir Marcin Matczak, Juraprofessor an der Universität Warschau.
Vor diesem Hintergrund, so Matczak, sei es sogar denkbar, dass die PiS die Empfehlungen der EU-Kommission großzügig erfüllt – im Vertrauen darauf, sowieso zu bekommen, was sie will. Die Urteile vom 9. März und 11. August könnte die Regierung getrost veröffentlichen. Sie kann sie ja jederzeit obsolet machen, indem sie das Verfassungsgerichts-Gesetz abermals nach ihren Vorstellungen ändert, und dass dieses Gesetz nicht gleich wieder für verfassungswidrig erklärt wird, dafür könnten dann der neue Gerichtspräsident bzw. Sperrminoritäten im Gericht Sorge tragen. Sogar im Streit um Vereidigung der drei noch von alten Sejm im November 2015 gewählten Richter könnte sie theoretisch ohne allzu große Kosten nachgeben. Dann müsste sie zwar noch länger auf die Mehrheit im Gericht warten. Aber die Zeit kann sie sich bei einem Gericht, das keinen Ärger mehr macht, ja bequem nehmen.
Die EU-Kommission sähe in diesem Fall ziemlich blamiert aus. Ihre Forderungen wären pro forma erfüllt, der Konflikt beendet – die nukleare Option ihres Zünders beraubt. Die PiS bräuchte sich trotzdem keine großen Sorgen mehr zu machen, wenn sie materiell verfassungswidrige Gesetze erlässt.
Schon wieder ein neues Gesetz
Im Augenblick scheint die PiS aber nicht einmal an einem solchen Pro-Forma-Kompromiss interessiert zu sein. Im Sejm wird gerade an einen neuen Gesetzentwurf gearbeitet, der den Status der Verfassungsrichter regeln soll. Er sieht explizit vor, dass die Vereidigung für den Beginn der Amtsausübung ausschlaggebend ist, was bedeutet, dass Gerichtspräsident Rzepliński die drei von der PiS nominierten Richter schon jetzt zulassen müsste. Die EU-Kommission stünde dann mit ihrer “Empfehlung”, stattdessen die drei von der PO nominierten Richter zuzulassen, dumm da.
Einer anderen Intervention aus Europa würde mit diesem Gesetz ebenfalls das Wasser abgegraben: Die Venedig-Kommission, das verfassungsrechtliche Expertengremium des Europarats, hat am Freitag einen weiteren Bericht zur Unabhängigkeit der Justiz verabschiedet, der die im Moment noch aktuelle Fassung des Verfassungsgerichtsgesetzes erneut scharf kritisiert – schon im März hatte die Venedig-Kommission die Aktionen der PiS regelrecht zerfetzt. Sie kann sich aber immer nur auf die Gesetze beziehen, die bereits erlassen sind. Mit dem neuen Gesetz – und zwei weitere sind bereits angekündigt – spielt die PiS Hase und Igel mit der Venedig-Kommission: Ihr Bericht wird, kaum beschlossen, bereits schon wieder veraltet sein.
“Sie machen es so kompliziert, dass die Leute die Nase voll haben von dem ganzen Thema”, sagt einer meiner Gesprächspartner in Warschau. “Das ist die Absicht dahinter.” Nach 10 Monaten Kampf ist die verfassungsrechtliche Opposition im Lande müde geworden. “Die meisten Leute haben diese ganze Geschichte satt”, sagte mir Adam Bodnar, der unabhängige Bürgerrechtskommissar der Republik Polen und einer der hartnäckigsten Kämpfer gegen die Entmachtung des Verfassungsgerichts. “Sie verfolgen nicht mehr, was vor sich geht.”
Indifferente Versuchskaninchen
Die Frustration bezieht sich auch auf die EU-Kommission. “Ich weiß nicht, was die EU-Kommission plant”, sagte mir ein Jurist, der das Ringen um das Verfassungsgericht intensiv begleitet hat. Der ganze Prozess wirke wie eine Black Box; über Monate passiert nichts, und in der Zwischenzeit verlieren diejenigen, die sich von Brüssel Hilfe erwarten, die Hoffnung. “Sie warten. Aber worauf? Wenn sie bis Dezember warten, dann ist es vielleicht zu spät.”
Kürzlich war Nils Muižnieks in Warschau, der Menschenrechtskommissar des Europarats. Bei einer Podiumsdiskussion im Büro des Bürgerrechtsbeauftragten wollte er sich von Vertretern von Justiz und Anwaltschaft über den Stand der Dinge im Verfassungskonflikt informieren lassen. Die Richter und Anwälte berichteten von den Attacken, die die PiS gegen die Unabhängigkeit der Justiz angekündigt oder durchgeführt hat und die sich schon längst nicht mehr nur auf das Verfassungsgericht beschränken. Vielen Dank, sagte Muižnieks zum Schluss, aber eins sei ihm doch aufgefallen: “Polen befindet sich mitten in einer historisch einzigartigen Prozedur.” Sie seien die “Versuchskaninchen” im ersten jemals in Gang gesetzten Rechtsstaatlichkeits-Verfahren der EU, “das dazu da ist, Ihnen zu helfen”. Aber, so der Menschenrechtskommissar kopfschüttelnd, niemand habe dieses Verfahren auch nur erwähnt. “Es sieht nicht so aus, als ob Sie sich viel davon erwarten.” Niemand widersprach.
Dass die Sache nicht gut läuft, ist auch in den EU-Institutionen angekommen: Die Kommission habe sich in die Ecke drängen lassen, sagt die Europaabgeordnete Sophia in’t Veld. Die jetzige Konfrontation habe keinerlei Verbesserung für Rechtsstaatlichkeit und Grundrechte gebracht, nur “einen Haufen Feindschaft”. Das sei gar nicht nur die Schuld der Kommission. “Sie haben keine anderen Instrumente.”
Das will das Europaparlament jetzt immerhin für zukünftige Fälle ändern: Am 26. Oktober, einen Tag vor Ablauf der Frist im Fall Polen, steht in Straßburg ein ambitionierter Plan zur Abstimmung, der die Überwachung von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Grundrechtsschutz in den Mitgliedstaaten künftig auf eine permanente Basis stellen soll. Diese fortlaufende Monitor-Aufgabe soll nicht mehr die Kommission selbst, sondern ein unabhängiges Expertengremium übernehmen, besetzt mit Vertretern der Gesellschaft. “Objektiver und weniger politisiert” sei ein solches Verfahren, sagt die Initiatorin in’t Veld, und die Bevölkerung der Länder, die ins Visier genommen werden, müsste nicht länger das Gefühl haben, dass nur auf ihnen herumgetrampelt wird und auf niemandem sonst. “Wir wollen, dass sich die Bürgerinnen und Bürger dieses Sanktionsregime zu eigen machen.” Missstände könnten verhindert werden, bevor sie überhaupt entstehen, so dass man gar nicht erst in eine Situation käme, wo man ein Land an den Pranger stellen muss.
Für das polnische Verfassungsgericht käme eine solche Lösung zu spät, räumt In’t Veld ein. Immerhin könnte dies aber Kommission und Rat davon überzeugen, sich dem Plan des Parlaments anzuschließen. “Wir verlieren die Schlacht, aber gewinnen den Krieg, wenn wir einen breiteren Mechanismus installieren.”
Bei der Kommission zumindest dürfte das noch einiger Überzeugungsarbeit bedürfen. Bei der jüngsten Tagung der Staatsrechtslehrervereinigung in Linz war Clemens Ladenburger zu Gast, hoher Beamter im juristischen Dienst der Kommission. Die Kommission habe das Rechtsstaatlichkeits-Verfahren 2014 “bewusst als Instrument der Reaktion auf einzelne, ad hoc auftretende Gefährdungslagen konstruiert” und sich gegen ein permanentes Monitoring der Mitgliedsstaaten entschieden, sagte Ladenburger (zitiert nach dem bei dem Vortrag verteilten Handout). Außerdem sei man gegen ein unabhängiges Expertengremium. Dafür habe man die Organe des Europarats, insbesondere die Venedig-Kommission. “Dieses Vorgehen bietet viele Vorteile und hat sich bewährt.” (Ladenburger betonte, seine “rein persönlichen Auffassungen” zu präsentieren und nicht die Position der Kommission.)
Ein halbes Jahr Aufschub?
Allerdings könnte die PiS mit ihrem Plan, sich den Gerichtspräsidenten untertan zu machen, die Rechnung ohne den Wirt gemacht haben – denn noch ist das Verfassungsgericht nicht ganz geschlagen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es das neue Nominierungsverfahren mit drei statt zwei Kandidaten für das Amt des Gerichtspräsidenten vor dem 19. Dezember noch für verfassungswidrig erklärt – und damit der PiS vorläufig einen Strich durch die Rechnung macht.
Dieses neue Nominierungsverfahren hatte das Verfassungsgericht, als es im August das Gesetz vom 22. Juli überprüfte, aus formellen Gründen stehen gelassen: Die Begründung der Kläger sei insoweit nicht substantiiert genug gewesen. Was aber nicht notwendig heißt, dass es einer besseren Begründung nicht noch folgen würde.
Gegen diese Norm ist aber noch ein weiteres Verfahren vor dem Verfassungsgericht anhängig, das Oppositionsabgeordnete angestrengt haben. Am 7. November soll das Urteil fallen. Wenn das Gericht diese Norm kippt, dann könnte es folgerichtig dem Staatspräsidenten den dritten Kandidaten verweigern, der dann keinen PiS-linientreuen Präsidenten ernennen könnte und vermutlich erst einmal überhaupt niemand ernennen würde. Dann würde Gerichts-Vize Biernat kommissarisch die Präsidentschaft übernehmen, und das Gericht hätte immerhin ein wertvolles halbes Jahr Zeit gewonnen, bis auch dessen Amtszeit im Juni 2017 abläuft.
Ob das so kommt? Wenn das Gericht das tun wollte, hätte es das schon im August tun können, sagt ein Experte. Ein anderer weist darauf hin, dass nur auf vier der 15 aktuellen Richter am Verfassungsgericht wirklich Verlass sei; die anderen seien eher Wackelkandidaten, die womöglich unter dem Druck möglicher Repressionen durch die PiS umfallen könnten. An Signalen, die als Drohung verstanden werden können, hat es nicht gefehlt: So sei in der heißen Phase im Dezember vor einem Jahr auch schon mal gedroht worden, das Verfassungsgericht kurzerhand aus Warschau nach Lublin zu verlegen, in die hinterste ostpolnische Provinz.
Am 7. November werden wir es wissen.
Schwarzer Protest
Wie sieht der Verfassungskonflikt von der anderen Seite betrachtet aus, aus der Perspektive der PiS und ihrer Anhänger? Das ist nicht leicht herauszukriegen. Die Regierung ist notorisch unkommunikativ. Aufschluss über die nationalkonservative Sicht verschafft ein im Juli erschienener 80-seitiger Bericht einer Expertengruppe um den Warschauer Rechtsprofessor Jan Majchrowski, den der Parlamentspräsident Marek Kuchciński (PiS) in Auftrag gegeben hat, um der Kritik der Venedig-Kommission juristisch entgegenzutreten. Fazit: Nicht die Verfassung legitimiere das Handeln der Staatsorgane, sondern die souveräne “politische Nation” in Gestalt der Parlamentsmehrheit, die das Recht als “Werkzeug” einsetzt, um unter anderem dem Verfassungsgericht zu befehlen, nach welchen Regeln es zu verhandeln und zu entscheiden hat. So gesehen waren nicht diese Regeln und ihre Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit des Verfassungsgerichts das Problem, sondern dessen Entscheidung, diese Regeln für verfassungswidrig zu erklären, ohne sie dabei anzuwenden.
Mitte September war ich in Warschau bei Ordo Iuris zu Besuch, einem 2013 gegründeten juristischen Thinktank, der kürzlich ebenfalls einen langen Bericht zum Stand von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit in Polen veröffentlicht hat. Joanna Banasiuk empfi