Herr Pringle geht nach Luxemburg…
Auf mitgliedstaatlicher Ebene hat der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) schon die Justiz beschäftigt. Aber eine europarechtliche Prüfung steht noch aus. Erst Thomas Pringles Klage gegen die irische Ratifikation des ESM vor dem irischen Supreme Court sorgte dafür, dass der dauerhafte „Rettungsschirm“ am Dienstag nunmehr auch als Vorabentscheidung den Weg nach Luxemburg fand. Am Dienstag wurde der Fall verhandelt, und wir waren dabei.
…und alle kommen mit
Auch ohne Presse, Gäste, Interessierte war der Gerichtssaal voll: Es fanden sich – was selten vorkommt – sämtliche 27 Richter des EuGH sowie die deutsche Generalanwältin Juliane Kokott ein, um sich von den Verfahrensbeteiligten das Für und Wider der Vereinbarkeit des ESM samt Begleitregelungen mit dem EU-Recht erläutern zu lassen. Die beklagte irische Regierung erhielt außerdem Unterstützung von einem ganzen Dutzend Streithelfer: neun Mitgliedstaaten, der Europäischen Rat, das Europäische Parlament sowie die Kommission präsentierten ihre Plädoyers zu Gunsten des ESM.
Ein Ire – viele Probleme
Den ersten Verstoß sehen Herr Pringle und sein anwaltlicher Beistand John Rogers darin, dass der Beschluss des Europäischen Rates zur Einfügung eines neuen Art. 136 Abs. 3 AEUV schon gar nicht im vereinfachten Verfahren nach Art. 48 Abs. 6 hätte gefasst werden dürfen. Art. 48 Abs. 6 AEUV könne Art. 136 AEUV nicht als – konstitutive oder deklaratorische – primärrechtliche Grundlage des ESM dienen, weil mit der Errichtung des ESM in die Kompetenzordnung der Union eingegriffen würde. Denn selbst wenn der ESM eine Institution nach dem Völkerrecht sein sollte, berühre er im Kern den Bereich der Währungspolitik, für den jedoch ausschließlich die Union zuständig sei. Im Verfahren des Art. 48 Abs. 6 AEUV dürften die Zuständigkeiten der Union jedoch weder erweitert noch beschränkt werden. Darüber hinaus sei schon gar keine neue Rechtsgrundlage erforderlich gewesen, da das europäische Primärrecht bspw. mit Art. 122 Abs. 2 AEUV bereits Mechanismen zur unionsinternen Bewältigung von Krisen und Notfällen in Form finanziellen Beistands enthalte.
Im Zentrum der Diskussion, ob der ESM gegen Unionsrecht verstößt, stand aber das sogenannte „Bail-Out“-Verbot des Art. 125 AEUV. Herr Pringle vertrat die Auffassung, dass auch wenn Art. 125 AEUV finanziellen Beistand nicht ausschlösse, sich die Mitgliedstaaten jedenfalls nicht hinter dem ESM verstecken dürften. Eine Rettung müsse ohne Verstoß gegen die Unionsrechtsordnung organisiert werden. Denn zum einen entbinde eine völkerrechtliche Konstruktion die Mitgliedstaaten nicht von ihren unionsrechtlichen Pflichten. Und auch als völkerrechtliche Institution sei der ESM selbst Gegenstand des Unionsrechts. Bei dessen Anwendung dürften die Mitgliedstaaten die Vertragsbestimmungen nicht wie „Humpty Dumpty“ aus Alice im Wunderland auslegen und dem Wortlaut Bedeutungen geben, wie es ihnen gerade gefalle. Garantien auch im Rettungsfall verstießen außerdem gegen den Zweck des „Bail-Out-Verbots“.
Schließlich warf Abgeordneter Pringle den Mitgliedstaaten vor, sich nicht an ihre eigenen Beschlüsse zu halten: Laut Ratsbeschluss tritt Art. 136 Abs. 3 AEUV zum 1. Januar 2013 in Kraft, der ESM selbst hingegen aber bereits am 8. Oktober 2012 – ein offensichtlicher Widerspruch.
Dreizehn Europäer – (beinahe) eine Meinung
Die Mitgliedstaaten und die EU-Organe sahen dies naturgemäß anders und waren sich erstaunlich einig. Bis aufs Haar glichen sich die meisten Argumentationen, sodass es für die Beobachter teilweise ermüdend war, die ständigen Verweise auf die Plädoyers der Kollegen zu verfolgen.
Sämtliche Streithelfer – und selten hat man das Vereinigte Königreich und Kontinentaleuropa in Fragen des Europarechts derart geeint gesehen – waren sich darin einig, dass der neue Art. 136 Abs. 3 AEUV lediglich deklaratorischen Charakter habe: Für die Errichtung des ESM sei im Prinzip gar keine Rechtsgrundlage erforderlich, da es sich um Kompetenzen handele, welche die Mitgliedstaaten ohnehin innehaben. Der deutsche Prozessbevollmächtigte, Thomas Henze, zeichnete in drastischen Worten das „fragile Marktumfeld“ nach, in dem der ESM beschlossen wurde. In einer solchen Situation wollte man keinen Zweifel an der europarechtlichen Zulässigkeit eines Rettungsfonds lassen, um Spekulanten den Wind aus den Segeln zu nehmen. Die Alternative, unionsinternen Beistand bei unverschuldeten Notfällen nach Art. 122 Abs. 2 AEUV zu leisten, scheide schon deswegen aus, weil diese Bestimmung nur ad-hoc-Maßnahmen decke. Hubert Legal, Rechtsberater des Europäischen Rates, rechnete vor, dass die Gewährleistungssumme des ESM den Etats der EU von 2007 bis 2012 entspreche – die Logik der Mathematik spreche also bereits für einen ständigen Mechanismus der Mitgliedstaaten.
Wie zu erwarten war, widersprachen die Befürworter des ESM allesamt der Auffassung, die so genannte Bail-out-Verbotsnorm des Art. 125 AEUV verbiete Rettungsmaßnahmen des ESM. Nach Art. 125 AEUV haften die Mitgliedstaaten nicht untereinander für ihre Schulden. Einhellig betonten sämtliche Vertreter, dass die Norm Maßnahmen eines Mechanismus, der zu Marktbedingungen Darlehen vergibt, nicht ausschließe. Dies stelle keine „Begriffsgymnastik“ dar, so die Vertreterin der Slowakischen Republik. Auch Thomas Henze wollte die deutsche Bundesregierung nicht mit Alice im Wunderland gleichgesetzt sehen: Sie verdrehe nicht Wörter des EU-Rechts, sondern verlasse sich nicht ausschließlich auf den Wortlaut. Entscheidend sei der Zweck der Vorschrift: die Stabilität des Euro-Raums zu gewährleisten und Haushaltsdisziplin über Marktbedingungen zu erreichen. Hier ließ sich Thomas Henze auf eine gefährliche Argumentation ein: die Auflagen der ESM-Kredite an die notleidenden Staaten stellten die Haushaltsdisziplin sicher, für die unter normalen Umständen der Druck der Märkte sorgen würde.
Ein hypothetischer Disput erwuchs zwischen dem Vereinigten Königreich und den übrigen plädierenden Mitgliedstaaten der EU. Zwar stimmten alle darin überein, dass eine Gruppe von Mitgliedstaaten sich Organe der EU für nicht in den Verträgen vorgesehene Aufgaben „ausleihen“ darf. Allerdings verlangt das Vereinigte Königreich dafür einen einstimmigen Beschluss aller Mitgliedstaaten, während alle anderen es für ausreichend erachteten, wenn nur die betroffenen Mitgliedstaaten über die Organleihe entscheiden. Dieser Sturm im Wasserglas dürfte im Urteil des EuGH keine Rolle spielen, da alle Mitgliedstaaten den Aufsichtsbefugnissen der Kommission und der EZB im Rahmen des ESM zugestimmt haben.
Ein Plenum mit einem unbequemen Berichterstatter
Nach der Mittagspause mussten sich die Prozessvertreter unangenehme Fragen des Berichterstatters, Koen Lenaerts, gefallen lassen. Er wies den Vertreter des Europäischen Rats auf einen möglichen Widerspruch in der Argumentation der Mitgliedstaaten hin: Einerseits solle der Art. 136 Abs. 3 AEUV rein klarstellende Funktion zukommen – dann sei er überflüssig. Andererseits soll er sicherstellen, dass die Rettungsmaßnahmen dem Zweck von Art. 125 AEUV entsprechen – dann könnte der ESM aber seine Arbeit erst mit Inkrafttreten der ESM-Norm aufnehmen. Auf die zugespitzte Frage hin, ob der Art. 136 Abs. 3 AEUV für den ESM wirklich unnötig gewesen sei, antwortete der Vertreter schlicht und entlarvend mit: „Ja!“
Aber auch der Bevollmächtigte von Herrn Pringle geriet in Bedrängnis. Könne er sich denn nicht Beistandsmaßnahmen vorstellen, die das Unionsrecht zuließe, beispielsweise wenn die Mitgliedstaaten außerhalb des EU-Rahmens handelten? „What is not referred stays by the Member States.“ betonte Richter Lenaerts.
Nach einem langen Verhandlungstag zog sich das Plenum der 27 Richter zur Beratung zurück. Mit einem Urteil wird noch in diesem Jahr gerechnet. Klar wurde, dass die Richter den ESM bzw. seine vermeintliche Rechtsgrundlage in Art. 136 Abs. 3 AEUV nicht einfach abnicken werden. Andererseits deutete der Berichterstatter an, dass den Mitgliedstaaten gewisse Rettungsmaßnahmen außerhalb der Unionsrechtsordnung nicht verwehrt werden können. Man darf gespannt sein, wie der EuGH das Verhältnis von EU-Recht und völkerrechtlichen Verträgen der Mitgliedstaaten wie dem ESM beurteilen wird.
Evin Dalkilic und Stefan Martini sind wissenschaftliche Mitarbeiter an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Hannes Rathke an der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg.
Im Artikel heißt es: „Auf die zugespitzte Frage hin, ob der Art. 136 Abs. 3 AEUV für den ESM wirklich nötig gewesen sei, antwortete der Vertreter schlicht und entlarvend mit: ‚Ja!’“
Ich habe selber die mündliche Verhandlung verfolgt. Diese Aussage wurde vom Ratsvertreter nicht getroffen. Im Gegenteil äußerte er sich dahingehend, dass der ESM auch OHNE Einfügung des Art. 136 Abs. 3 AEUV hätte abgeschlossen werden können.
Congratulations on a very good summary of what was a long and
fascinating day at the Court. Thank you also for translating it into
Englsh.
It is perhaps a surprise that the parties’ full legal arguments do not
appear in the public domain so that they could be considered by the
legal community and the wider public.
Mr Pringle’s Written Observations (detailed legal arguments)
are on the website TaleofTwoTreaties.tumblr.com.
The EU av service has a nice short video here
http://ec.europa.eu/avservices/video/player.cfm?ref=89056
Mr Rogers’ presentation to the Court is online here http://bit.ly/SnDfn4
@Johannes Möller: Besten Dank für die Klarstellung! Im Text sind leider die Buchstaben “un” vor dem nötig untergegangen. Die Pointe der Fragen des Berichterstattes an den Vertreter des Europäischen Rates war ja gerade, dass sämtliche Mitgliedstaaten und Unionsorgane betonten, der ESM könne auch ohne Inkrafttreten der Vertragsänderung seine Arbeit aufnehmen. Weil eine freiwillige Hilfe der Mitgliedstaaten zumindest als “ultima ratio” nicht gegen “Geist” und Normzweck des Art. 125 AEUV verstößt. Daher sei Art. 136 Abs. 3 AEUV nicht konstitutiv, sondern er habe lediglich klarstellende Funktion. In diese Richtung ging scheinbar auch das Argument einiger Mitgliedstaaten, Art. 136 Abs. 3 AEUV ziele letztlich darauf ab, dauerhaft jeglichen Zweifel “der Märkte” an einer Vereinbarkeit des ESM mit dem Primärrecht zu beseitigen. Damit schien für den Berichterstatter der normative Gehalt von Art. 136 Abs. 3 AEUV (bloß eine ohnehin bestehende Handlungsbefugnis der Mitgliedstaaten klarzustellen) doch uneindeutig. Daher fragte er den zunächst etwas ausweichend antwortenden Vertreter des Europäischen Rates, ob denn nun die Vertragsänderung eigentlich unnötig gewesen sei. Und auf diese “JA-Nein-Frage” folgte die schlichet Antwort: Ja!
Also ganz im Sinne der der Auffassung, wonach der Änderungsbeschluss letztlich auf einem “Gipfel für die Karlsruher Richter” beruhe (vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/europaeische-union/eu-vertrag-ein-bruesseler-gipfel-fuer-die-karlsruher-richter-11079015.html)!
Lieber Herr Rathke,
Dankeschön, dass Sie mir Recht geben. Aber sollte man nicht vielleich