IHRA-Definition als „Diskursverengung“?
Replik auf "Clara Neumann"
Der am 08.12.23 veröffentlichte Text „Das Spannungsverhältnis zwischen Staatsräson und Grundrechten“ von anonymer Autor*in hätte ein konstruktiver Beitrag zu einer wichtigen Debatte um den Begriff des Antisemitismus sein können. Leider erschien der Beitrag unter dem Pseudonym Clara Neumann und begründet das mit einer im „[…] Text geschilderten Diskursverengung im Zusammenhang mit der durch das WissZeitVG bedingten akademischen Berufsunsicherheit […]“. Der Text bietet, anders als der Titel und die Einleitung Anlass geben zu glauben, keinen nuancierten Beitrag zur Debatte um die Definition von Antisemitismus, insbesondere israelbezogenem Antisemitismus. Vielmehr zieht er Verbindungen zwischen unterschiedlichsten jüngsten Gegebenheiten, von Demonstrationsverboten über Rücktritte und Absagen von Preisverleihungen, größtenteils ohne diese auf die für den Text zentrale IHRA-Definition zurückführen zu können.
Zum Ersten ist die Veröffentlichung unter einem Pseudonym schwer nachvollziehbar. Dass berufliche Nachteile drohen für einen tatsächlich differenziert geschriebenen Beitrag über unterschiedliche Definitionen von Antisemitismus, bedient das problematische Narrativ, es gäbe tatsächlich eine „Cancel Culture“, nach der Sanktionen im akademischen Betrieb an das Vertreten bestimmter Positionen, hier zu Antisemitismus, geknüpft werden. Das ist gerade in Hinblick auf den stattfindenden wissenschaftlichen Diskurs über die IHRA-Definition schwer nachzuvollziehen. Vielmehr erscheint dies als ein Versuch, sich legitimer Kritik an der eigenen Position zu entziehen. Der bzw. die Autor*in beschreibt eine „Diskursverengung“ – ein Konzept, das im Beitrag nicht weiter erklärt wird – die sie (ohne dies substantiiert darzulegen, s.u.) der Anwendung der IHRA-Definition von Antisemitismus zuschreibt. Dabei nennt der bzw. die Autor*in Beispiele wie den Rücktritt eines Mitglieds der Documenta-Findungskommission oder die Absage einer Konferenz zur Erinnerungskultur durch die Bundeszentrale für politische Bildung. Allerdings legt der bzw. die Autor*in nicht substantiiert dar, wieso sie die Vorwürfe des Antisemitismus bzw. Absage der Veranstaltungen in den jeweils individuellen Fällen unter den konkreten Umständen für falsch hält. Dass Geschehnisse wie ein freiwilliger Rücktritt im nicht-akademischen Bereich in Reaktion auf öffentliche Kritik sich nun unmittelbar auf die Karriere des Autors bzw. der Autor*in auswirken sollen, die den Anspruch erhebt, einen differenzierten Beitrag auf einem wissenschaftlichen Blog zu veröffentlichen, unterstellt, dass wissenschaftliche Diskussionen um unterschiedliche Antisemitimus-Begriffe nicht mehr möglich sind und dass dies an der Weite der IHRA-Definition liege. Es ist schwer nachvollziehen, weshalb sich der oder die Autor*in auf eine vermeintliche Cancel Culture berufen konnte, die hinsichtlich anderer Vorwürfe (z.B. von anderer Formen von Diskriminierung, insbesondere Rassismus) oftmals als Ablenkung der Kritisierten gewertet werden kann, die sich einer inhaltlichen Diskussion entziehen möchten.
Zum Zweiten möchten wir kurz erläutern, warum der Beitrag unserer Meinung nach nicht den Standards entspricht, die der Beitrag selbst formuliert. Das Hauptargument des Autors oder der Autor*in ist, dass die Anwendung der IHRA-Definition eine „Einschränkung der Versammlungs-, Meinungs- und Kunstfreiheit“ darstellt. Anders als auf einem rechtlichen Blog zu erwarten wäre, folgt dann aber gerade keine Analyse der Frage, ob und wie eine „Diskursverengung“ unter den Eingriffsbegriff für Grundrechte fallen könnte. Ebenso wird die (nicht im Einzelnen belegte) Implementierung einer Definition durch staatliche und „parastaatliche“ Stellen in rechtlich höchst unterschiedlichen Fragen, nämlich der rechtlichen Regelung von Kunst- und Kulturförderung zum einen und Versammlungsrecht zum anderen, ohne weitere Differenzierung als potentielle „Grundfreiheitseinschränkung“ gewertet, ohne dass dies irgendeiner Form einer rechtlichen Analyse unterzogen wird.
Der oder die Autor*in bezieht sich auf Verbote von Demonstrationen als problematische Fälle der Anwendung der IHRA-Definition, ohne nachzuweisen, dass gerade die IHRA-Definition die Grundlage der umstrittenen staatlichen Verbotsentscheidungen war. Der oder die Autor*in scheint ihr Argument darauf zu basieren, dass staatliche Stellen die IHRA-Definition akzeptieren und implementieren; aus dem Verweis des oder der Autor*in auf eine Antwort der Bundesregierung im Jahr 2019 ergibt sich bzgl. der Implementierung in Sicherheitsdiensten aber nur, dass die IHRA-Definition, im Zusammenspiel mit anderen Definitionen, in Seminaren der Bundessicherheitsbehörden vermittelt wird und Statistiken zur Erfassung antisemitischer Straftaten zugrunde liegt, sowie, dass sich nach Kenntnis der Bundesregierung die Berliner Strafverfolgungsbehörden an der IHRA-Definition orientieren. Der oder die Autor*in begründet dann auch nicht, inwiefern die IHRA-Definition die „viele[n]“ (ohne Quellenangabe oder Spezifizierung, wie viele es tatsächlich waren) Verbote pro-palästinensischer Demonstrationen nahelegt oder begünstigt. In der Tat ergibt bereits der Wortlaut der erweiterten IHRA-Definition in der Liste von Beispielen von Antisemitismen im öffentlichen Leben, dass immer der Gesamtkontext einer Aussage zu berücksichtigen ist („taking into account the overall context“). Damit legt der Wortlaut nahe, dass pauschale Anschuldigungen des Antisemitismus ohne Beachtung des Kontexts nicht im Sinne der Definition sind. Der Beitrag trägt nicht zu einer wissenschaftlichen und rechtlich nuancierten Diskussion von Demonstrationsverboten bei, da er nicht argumentiert, dass bestimmte Demonstrationsverbote unter den konkreten Umständen ungerechtfertigt waren, wie es beispielsweise das Bayrische Verwaltungsgericht und andere Gerichte in ihren Prüfungen festgestellt haben. Der oder die Autor*in verzichtet gänzlich auf eine detaillierte Darstellung von Bedrohungslagen oder Gründen für die Verbote, die eine seriöse rechtliche Bewertung von bestimmten Demonstrationsverboten erst ermöglicht. Gerade weil es in der Vergangenheit bei Kundgebungen zu zutiefst antisemitischen Vorfällen kam, die in der erforderlichen Gefahrprognose für Demonstrationsverbote unter bestimmten Umständen einfließen können, ist eine konkrete, detaillierte und anlassbezogene Prüfung wichtig, die der oder die Autor*in gerade nicht vornimmt.
Auch in anderen Teilen des Textes nimmt der oder die Autor*in keine Analyse der IHRA-Definition selbst oder der Frage vor, wie die Definition eine öffentliche Diskussion in einem konkreten Fall vermeintlich erschwert. Ein von dem Autor bzw. der Autor*in genanntes Beispiel ist die Entscheidung, der palästinensischen Autorin Adania Shibli auf der Frankfurter Buchmesse den ihr zugedachten Preis nicht zu verleihen. Dieses Beispiel wird gegen die IHRA-Definition vorgebracht, ohne auch nur einen Beleg zu nennen, dass die Antisemitismusvorwürfe gegen Adania Shibli auf der IHRA-Definition basierten. Die Tatsache, dass die Vorwürfe gegen Adania Shibli auf der IHRA-Definition basierten und als solche ungerechtfertigt sind, wird von dem oder der Autor*in ohne Diskussion vorausgesetzt, wenn der Blogbeitrag die Verschiebung der Preisverleihung auch in Folge der Vorwürfe gegen Adania Shibli als Beispiel dafür nennt, dass es zu einer „Diskursverengung“ im deutschen öffentlichen Diskurs gekommen ist, die auf der Weite der IHRA-Definition basiert und der es entgegenzutreten gilt. Daher kann der Blogbeitrag mit den genannten Beispielen keinen Beitrag zu der Diskussion um die Frage leisten, ob die Weite der IHRA-Definition die Ursache für ungerechtfertigte Antisemitismusvorwürfe ist.
Darüber hinaus beruht die Kritik des Autors bzw. der Autor*in an der Anwendung der IHRA-Definition selbst zum Teil auf unpräzisen Zitaten. So schreibt der Autor bzw. die Autor*in, der Beauftragte der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus Felix Klein habe Greta Thunbergs jüngste „Kritik an Israel durch die Begriffe ,Genozid‘ und ,Apartheidsstaat‘ als ,in unerträglicher Form antisemitisch‘ kritisiert“. Das tatsächliche Zitat in der durch die Autor*in angegebenen Quelle lautet: „Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein sprach der Bewegung daraufhin ihre Vorbildfunktion für die Jugend ab. Die jüngsten Äußerungen aus dem Kreis Thunbergs seien ,in unerträglicher Form antisemitisch und spiegeln ein politisches Weltbild wider, das demokratische Grundwerte vermissen lässt‘ […]“ [Hervorhebung hinzugefügt]. Dass als „aus dem Kreis Thunbergs“ also gerade auch Aussagen „der Bewegung“ [gemeint ist Fridays for Future International] wie „How Western media brainwashes you into standing with Israel“ (Instagram-Kanal von Friday’s for Future International; ein Foto dieses Posts wird in der angegebenen Quelle abgebildet) gewertet werden können, geht damit in der Analyse des Autors bzw. der Autor*in verloren. Der Beitrag stellt wiederholt Kritik als illegitim dar, ohne diese überhaupt näher zu analysieren.
Zwar erkennt der oder die Autor*in an, dass Dämonisierung und Delegitimierung Israels aus dem 3-D-Test „selbstredend“ antisemitisch sein können, stellt sie aber auch als „erwartbare Elemente der politischen Kommunikation der unter Besatzung lebenden Palästinenser und mit ihnen solidarischen Menschen, und deshalb ohne weitere Spezifikation keine geeigneten Kriterien für Antisemitismus“ dar. Diese Aussage liest sich so, als wären delegitimierende und dämonisierende Aussagen zwar potentiell antisemitisch (sogar „selbstredend“ potentiell antisemitisch), das ist den Betroffenen aber zumutbar, denn die Aussagen „sind erwartbare Elemente der politischen Kommunikation der unter Bestatzung lebenden Palästinenser und mit ihnen solidarischen Menschen“. Warum „Erwartbarkeit“ einen Anhaltspunkt für eine Definition einer Diskriminierungsform sein soll, erklärt der oder die Autor*in nicht weiter. Gleichzeitig scheint der bzw. die Autor*in einen weiten Rassismusbegriff zu vertreten, wenn sie Einschränkungen der Versammlungsfreiheit sowie die „Externalisierung des Antisemitismusproblems auf zugewanderte Muslime“ wie folgt beschreibt: „Diese Externalisierung kann als rassistisch bezeichnet werden, wenn sie zu pauschalen Zuschreibungen führt und die Legitimität von Erinnerungskulturen abspricht, in der die Aufarbeitung der Nazi-Verbrechen keine zentrale Stelle einnimmt.“ Dabei stellt sich im Kontext der Ungenauigkeiten des Textes die Frage, warum gerade für eine Verengung des Antisemitismusbegriffs geworben wird, gleichzeitig aber (im Ergebnis zu Recht, aber im Vergleich zur engen Antisemitismus-Definition als Doppelmoral anmutend) ein weiter, und im Übrigen nicht weiter ausgeführter Rassismusbegriff vertreten wird.
Zuletzt zeigt die Fußnote 3 die problematischen Aspekte dieses Textes klar auf. Der oder ie Autor*in zitiert hier folgendes Beispiel: „Man stelle sich einen Staat ,Christiana‘ vor, der in allen wesentlichen Aspekten Israel gleicht, aber katholisch ist, wie die katholischen Kreuzfahrerstaaten des 11. Jahrhunderts. Christiana würde wohl in grundsätzlich gleicher Weise kritisiert, wie heute Israel.“ Dass ein christlicher Kreuzfahrerstaat des 11. Jahrhunderts dem Staat Israel, wie wir ihn heute kennen, überhaupt ähneln könnte ist, ist abwegig. Die Staatsgründung Israels im britisch regierten Mandatsgebiet durch den jüdischen Teil der Bevölkerung, den es durchgehend in diesem Gebiet gab und der durch Einwanderungswellen unterschiedlicher zionistischer Bewegungen, teilweise motiviert durch Unterdrückung und Pogrome sowie unter anderem die Shoah, verstärkt wurde, kann ca. 900 Jahre nach den Kreuzzügen nur schwerlich mit dem brutalen und räuberischem Unterfangen der Kreuzzüge verglichen werden, steht sie doch in einem völlig anderen politischen, kulturellem und historischen Kontext. Zudem wird in dem unkritischen Zitat dieses Beispiels einfach davon ausgegangen, dass das Fantasieprodukt „Christiana“ in ähnlicher Weise kritisiert werden würde, wie der heutige Staat Israel. Das wird in keiner Weise weiter belegt und ist in Hinblick auf die immer vorhandene brutale Verfolgung von Jüdinnen und Juden* durch die Jahrhunderte hinweg eine verblüffende bis anmaßende Behauptung.
Weiter meint der bzw. die Autor*in ohne jegliche weitere Ausführung: „Die aktuelle Erinnerungskultur ist eine Institutionalisierung der Auffassung einer Singularität der Shoah, die im ersten Historikerstreit notwendig war, um die bis dahin in der Mehrheitsgesellschaft anhaltende rechtsnationale Schuldrelativierung aufzubrechen. In der Praxis erschwert diese Erinnerungskultur heute die Anerkennung der deutschen Kolonialverbrechen und des palästinensischen Leidens.“ Wie genau die „aktuelle Erinnerungskultur“ die Anerkennung von Kolonialverbrechen oder palästinensischen Leidens erschwert, wird nicht ausgeführt. Somit bleibt eine nuancierte Analyse eines derart sensiblen und vielschichtigen Themas, die auch Tatsachen wie diejenige einschließt, dass Deutschland bereits aktuell der zweitgrößte Geldgeber des UNRWA ist, völlig aus.
In der aktuellen Form kann der Blogbeitrag nur als pauschale, nicht differenziert begründete Ablehnung der IHRA-Definition gelesen werden, die den Standards eines Beitrags auf dem Verfassungsblog nicht entspricht. Dass sich Betroffene von Antisemitismus, deren Stimme in der Definition dieser Diskriminierungsform besonderes Gewicht erhalten sollte, wie zum Beispiel jüdische Studierendenverbände sowohl in Deutschland als auch international, auch für eine Anwendung der IHRA-Definition aussprechen, wird im Beitrag gar nicht erwähnt. Da die Abkehr von einer breiten Definition von Antisemitismus zum Teil als Negierung jüdischer Lebenswirklichkeit verstanden wird, ist eine solche undifferenzierte Diskussion über eine Abkehr von der IHRA-Definition für uns als jüdische Studierende in diesen Zeiten, in denen wir uns auch in Universitäten vermehrt Angriffen und Anfeindungen ausgesetzt sehen, besonders belastend. Für uns war es daher enttäuschend, dass die hohen Standards des Verfassungsblogs bei der Veröffentlichung dieses Beitrag nicht eingelöst wurden.
Danke für diese differenzierte und sachliche Replik!
Schade finde ich, dass Claura Neumann nicht die Tendenz postkolonialer Ansätze/Akteure zur Äußerung von Antisemitismus erwähnt und unterschiedslos von einer Exklusion internationaler Stimmen spricht. Blickt man in die bisherige Kulturlandschaft, konnte ich da zudem keine große Exklusion erkennen. Und wenn es diese erinnerungspolitische Tagung „we still need to talk“ ist, die schließlich abgesagt wurde, so ist dies ist eher zu begrüßen. Ich hatte damals den Ankündigungstext gelesen und bei dieser Tagung wäre es um ein angebliches Modell der deutschen Vergangenheitsbewältigung, IHRA-Infragestellung sowie das altbekannte Narrativ gegangen, dass zu viel Aufmerksamkeit für den Holocaust bestehe, so dass anderen Erinnerungskulturen irgendetwas weggenommen würde. Unabhängig davon, dass ich mich frage, was genau “das deutsche Modell der deutschen Vergangenheitsbewältigung” eigentlich genau meint, hatte ich außerdem den Eindruck, dass die damalsige Veranstaltungsankündigung so wie auch Clara Neumann in ihrem Verfassungsblogbeitrag unterschwellig unterstellt, es gäbe faktisch gar nicht die Möglichkeit einfach andere Formen und Inhalte beim Gedenken zu etablieren – deshalb müsste man dringend ins Gespräch über Erinnerungskulturen miteinander kommen. Dabei habe ich mich damals schon gefragt, worüber man hier eigentlich ins Gespräch kommen muss und was das mit der IHRA zu tun hat. Selbiges frage ich mich auch bei besagtem pseudonymisierten Verfassungsblogbeitrag. Denn es steht in unserer Demokratie absolut jedem frei so zu gedenken, wie er oder sie es für richtig hält. Warum gedenkt man also nicht einfach dieser anderen historischen Ereignisse und setzt sich damit in der Sache auseinander statt solch eine unsolidarische Opferkonkurrenz aufzumachen? Und vor allem: Wer verbietet denn dieses Gedenken? Soweit ich sehen kann keine Struktur, kein Gesetz, jedenfalls nichts relevantes, das einen davon abhalten könnte…
Besonders gut finde ich an der Replik auch, dass problematisiert wird, dass Versammlungsverbote nicht im luftleeren Raum stattfinden, sondern diesen juristische Prüfungen vorangehen. Gerade mit diesen Prüfungen müsste man sich auseinandersetzen, um inhaltlich begründen zu können, ob hier Grundrechte verkannt wurden oder überhaupt Fehleinschätzungen getroffen wurden. Denn selbstverständlich ist es okay Versammlungsverbote zu kritisieren ebenso wie andere grundrechtliche Einschränkungen. Nur tut Clara Neumann – wie die Replik es sehr schön darlegt – dies eben nicht wissenschaftlich und genau.
Insofern sehr schöne Replik auf diesen Beitrag!
Obwohl ich selbst kein Jurist, sondern nur seit längerem regelmäßiger interessierter Leser des verfassungsblog bin, kann ich die Kritik an mangelnder juristischer Präzision im Beitrag von Clara Neumann (wem auch immer – im Folgenden CN) nachvollziehen.
Ich würde gleichwohl begrüßen, wenn im verfassungsblog auch weiterhin solche Beeinträchtigungen (ich hoffe, dass es sich dabei um ein juristisch nicht definiertes Wort handelt, ich vermeide jedenfalls vorsichtshalber bewusst ‘Einschränkungen’) der Meinungs- und insb. Kunst- und Wissenschaftsfreiheit diskutiert werden könnten, die unterhalb der Ebene gerichtlicher Verbote liegen.
Ein Beispiel: Im vielzitierten Gutachten von Christoph Möllers (“Grundrechtliche Grenzen und grundrechtliche Schutzgebote staatlicher Kulturförderung”) heißt es etwa zum BDS-Beschluss des Deutschen Bundestags: “Im Ergebnis führt dies dazu, dass der Beschluss als informeller Ausdruck des politischen Willens des Deutschen Bundestags zwar zulässig ist, aber zum einen keinerlei Bindungswirkung entfaltet und zum anderen wegen Verstoßes gegen die Meinungsfreiheit verfassungswidrig wäre, würde er eine solche entfalten.” Vermutlich ist “Bindungswirkung” ein eng definierter juristischer Terminus, und vermutlich gehört dazu nicht der Fall, dass eine Autorin (Sharon Dodua Otoo) ‘freiwillig’ einen Preis (Peter Weiss-Preis, Bochum) nicht entgegennimmt, der ihr erst zugesprochen worden war, dessen Vergabe dann aber doch noch “ausgesetzt” wurde, nachdem bekannt wurde, dass sie 2015 einen Aufruf der britischen Kampagne „Artists for Palestine UK“ unterzeichnet hatte. Selbst wenn der BDS-Beschluss Bindungswirkung besäße, gält er wohl nicht rückwirkend, und es müsste erst einmal nachgewiesen werden, dass die genannte Kampagne mitbetroffen ist; auf der vorjuristischen Ebene kann dann aber des weiteren einfach behauptet werden, dass diese Kampagne das Existenzrecht Israels in Frage stelle, dass Otoo dies bewusst gewesen sein müsste usw.
– in diesem Fall wünschte man sich ja fast, der Beschluss habe Bindungswirkung, und ein einmal zugesprochener Preis sei einklagbar, denn dann hätte Otoo nach gerichtlicher Klärung höchstwahrscheinlich den Preis einfach erhalten. “Diskursverengung” mag kein juristischer Terminus sein – ich würde ihn auch selbst nicht verwenden – aber ich verstehe angesichts solcher sich häufender Ereignisse schon, was gemeint ist. {ich muss nicht dazuschreiben, dass ich den BDS keineswegs unterstütze und vor allem den Boykott von wissenschaftlichem und künstlerischem Austausch sogar für absolut kontraproduktiv halte?}
Eine Bemerkung noch zu der in dieser Replik sehr stark betonten Kritik, dass CN nicht im Detail gezeigt habe, inwiefern die in Deutschland derzeit zunehmend restriktiver gehandhabten Antisemitismus-Definitionen Anwendungen der IHRA-Definition sind. Ich habe den Beitrag nicht so verstanden, als bestehe dort überhaupt der Anspruch, dies juristisch nachzuweisen – es ging, soweit ich sehe, eher darum zu zeigen, dass die faktisch getroffenen Verlautbarungen dazu, was unter Antisemitismus zu verstehen sei, sich jedenfalls sehr viel eher an dieser Definition orientieren als an der von CN verlinkten Jerusalem Declaration of Antisemitism, die von sehr vielen fachlich hochgradig ausgezeichneten israelischen, US-amerikanischen, deutschen … jüdischen, nicht-jüdischen Wissenschaftler_Innen unterzeichnet ist – die in den nicht-wissenschaftlichen Debatten in Deutschland aber kaum eine Rolle spielt. Die adhoc-Definitions-Ergänzungen deutscher Antisemitismus-Beauftragter (auf Bundes- und Länderebene) haben vermutlich auch keine “Bindungswirkung” – aber da nicht alle deutschen Staatsbürger, nicht einmal alle Journalisten ausgebildete Juristen sind, werden sie als solche wahrgenommen und führen beispielsweise dazu, dass ein der Regierung seines Landes gegenüber kritischer Israeli, der gewohnt ist, den Ausdruck ‘Apartheid’ in seiner Kritik zu verwenden (vgl. den von CN verlinkten Artikel in Haaretz), des Antisemitismus bezichtigt wird, sobald er deutschen Boden betritt. {Und ich muss jetzt wieder nicht betonen, dass ich selbst den Ausdruck mit Bezug auf Israel nicht verwende; ich bin nur, wie beispielsweise auch Meron Mendel, der Auffassung, dass man darüber diskutieren können muss, ohne Diskussionsteilnehmer_Innen vorab mit dem Antisemitismus-Vorwurf abzuqualifizieren.}
In einem Satz: Wenn viele Einschränkungen der Meinungs-, insb. aber Kunst- und Wissenschaftsfreiheit in einer breiten Öffentlichkeit als juristisch valide Verbote wahrgenommen werden – ist es dann ausschließlich Aufgabe des verfassungsblog, unter Fachleuten zu klären, dass es ja keine validen Verbote sind [so sehr ich diese Geste schätze] oder doch auch, sich damit auseinanderzusetzen, wie diese Einschränkungen vorgenommen, wahrgenommen, in Feedbackschleifen von Vornahme und Wahrnehmungen, unterhalb des juristisch Validen, aber im Gerücht des juristisch Validen, verstärkt werden?
Ihr Verdacht, die Autorin würde sich durch ein Pseudonym legitimer Kritik entziehen wollen, überzeugt mich nicht. Offensichtlich beabsichtigt die Autorin eine Diskussion. Sonst hätte sie ihren Beitrag hier nicht veröffentlicht. Sie will sich an der Debatte eben nur nicht unter Klarnamen beteiligen.
Ihre Sorgen hat sie in ihrem Text nachvollziehbar begründet. Auf einige sachliche Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist eben mit emotionalen, impulsiven und auf den Kritiker persönlich abzielenden Vorwürfen reagiert worden. Wir wären überheblich, wenn wir davon ausgingen, dass dies in akademischen Kreisen keine beruflichen Auswirkungen auf die Autorin haben könne.
Die Autorin habe in ihrem Text nicht substantiiert genug dargelegt, welche beruflichen Konsequenzen ihr konkret drohen, meinen Sie. Ihnen ist aber schon klar, dass durch eine solche Substantiierung (Überprüfbarkeit) die Identität der Autorin aufgedeckt werden könnte?
Warum sind Sie trotzdem so erpicht auf die Identität der Autorin und warum stören Sie sich an bloß periphären Unschärfen ihres Beitrags? Der inhaltliche Kern des Beitrags rückt nun in den Hintergrund. Und Autor:innen müssen befürchten, im Verfassungsblog nicht mehr pseudonym veröffentlichen zu können. Wollten Sie das?