„Im Seminar muss man einander ins Gesicht sehen können“
An Schulen soll es ein generelles Verbot der Vollverschleierung geben, an Hochschulen nur zur Identitätsfeststellung in der Prüfung. Das ist das Ergebnis des Koalitionsstreits in Schleswig-Holstein und Hamburg. In welchen Fällen sollte bzw. dürfte der Staat zu einem Vollverschleierungsverbot greifen?
Ich bin verfassungspolitisch wie verfassungsrechtlich gegen ein absolutes Burkaverbot, wenn es um das Tragen einer solchen Kleidung in der Öffentlichkeit ganz allgemein geht. Aber es gibt viele Sondersituationen, in denen ich sehr dafür wäre, ein solches Verbot durchzusetzen bzw. einzuführen. Im Straßenverkehr zum Beispiel dürfte es implizit ohnehin schon vorhanden sein: Mit Burka Auto fahren darf man auch jetzt schon nicht. Beim Betreten einer Bankfiliale ist nicht nur das Tragen eines Motorradhelms, sondern auch eine Vollverschleierung unzulässig – das beruht auf dem privaten Hausrecht. Aber wenn eine voll verschleierte Frau einfach nur im Tiergarten spazieren geht, dann mag mich das irritieren, aber das ist kein Grund, hoheitlichen Zwang auszuüben. Das würde verfassungsrechtlich auch nicht standhalten.
Nach welchen Kriterien unterscheidet sich die allgemeine von der besonderen Situation?
Mit Sondersituation meine ich solche, die sich durch besondere Gefahrenlagen, Funktionsbedingungen usw. auszeichnen, die im ganz normalen Leben nicht gegeben sind. Es geht also einmal um Gefahrenabwehr – siehe Straßenverkehr –, aber es geht auch um die verfassungsrechtlich gewollte Funktionstüchtigkeit von staatlichen Einrichtungen. Dazu gehört die Schule. Es gibt einerseits die Schulpflicht, andererseits den staatlichen Schulauftrag. Die dürfen nicht in ihrer Funktionsfähigkeit beeinträchtigt sein, und das wären sie, wenn Schülerinnen oder gar Lehrerinnen im Unterricht voll verschleiert sind. Der staatliche Erziehungsauftrag ist in den Schulgesetzen der Länder relativ klar definiert, ebenso wie die pädagogischen Konzepte. Mir ist kein pädagogisches Konzept im Schulbereich bekannt, das nicht auf eine enge persönliche Interaktion zwischen Lehrperson und Lernenden sowie den Mitschülern untereinander basiert. Rechtspolitisch scheint mir klar zu sein, dass man die Vollverschleierung in der Schule verbieten sollte und wahrscheinlich in vielen Fällen jetzt schon könnte.
Und an der Hochschule?
Da würde ich nach der Art der Lehrveranstaltung differenzieren. Bei einer großen Juravorlesung mit 400 Hörern hält sich die Diskursivität in Grenzen. Wenn darunter eine Frau mit Burka oder Niqab säße, wäre das wohl nicht so dramatisch. Aber in der Situation eines Seminars, Kolloquiums oder Tutoriums ist das anders.
Für die betroffene Frau geht es immerhin um den Ausschluss von der Möglichkeit, sich auszubilden und sich für die Ausübung von vielen Berufen zu qualifizieren. Welches Gewicht hat ihr Grundrecht auf Berufsfreiheit in diesem Kontext?
Artikel 12, das Grundrecht auf Berufsfreiheit, ist eines der schwächeren Grundrechte im Grundgesetz. In der Situation der Schule würde ich sagen, dass der staatliche Erziehungsauftrag überwiegt. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass ein deutsches Gericht ein Verbot, das handwerklich ordentlich gemacht ist, kippen würde. In der Situation der Hochschule ist es etwas anders. Ob die Hochschule überhaupt einen Erziehungsauftrag hat, darüber kann man schon streiten, denn die Studierenden sind ja erwachsene Menschen. Man sollte bedenken, dass auch die Mitstudierenden durch das Grundrecht aus Artikel 12 geschützt sind. Wenn die Prämisse stimmt, dass das diskursive Seminar und ähnliche Lehrveranstaltungen behindert werden, dann ist auch die Ausbildung der nicht Verschleierten erschwert, die sich auch auf Artikel 12 berufen können.
Aber stimmt die Prämisse denn? Wenn man zum ersten Mal jemand voll Verschleiertem im Seminar gegenüber sitzt, dann mag das vielleicht irritieren. Aber zerstört das gleich die Funktionsfähigkeit der Hochschule? Dort wird über einen längeren Zeitraum miteinander gelernt, und dabei kann sich eine Form von Interaktion entwickeln, die über Sprache funktioniert und nicht unbedingt über Mimik und Gestik. Ist es dann nicht doch wieder eine Frage des Einzelfalls, ob die Seminarsituation gestört ist oder nicht?
Ich möchte insofern objektivieren, als ich nach Typen von Lehrveranstaltungen differenziere. Wie gesagt, bei großen Vorlesungen mag die Funktionsbeeinträchtigung offen sind, kann man darüber diskutieren. Vielleicht sind am Anfang alle irritiert, das gibt sich dann jedoch vielleicht im Laufe des Semesters, weil es zur Normalität wird. Aber in wirklich diskursiven Veranstaltungen kann man meines Erachtens nicht darauf verzichten, einander ins Gesicht zu sehen. Sonst könnte man ja auf rein virtuelle Seminare umsteigen. Die gibt es ja sogar, sie funktionieren nur nicht besonders gut. Deshalb trifft man sich ja zu schwierigen und wichtigen Verhandlungen trotz technischer Möglichkeiten lieber in persona und nicht über eine Video- oder Telefonkonferenz.
Wenn man die Selbstbeschreibung der betroffenen Frauen ernst nimmt, dass es sich bei der Vollverschleierung nicht um eine lifestyle choice handelt, sondern um ein unausweichliches Gebot ihres Glaubens – was unterscheidet ihre Situation von der einer Studierenden, die beispielsweise wegen einer Behinderung die Diskursivität im Seminar „stört“?
Natürlich würde niemand jemand aus dem Seminar ausschließen, weil er oder sie wegen einer Behinderung nicht richtig reden kann. Das ist jedoch eine andere Situation. Wirklich gezwungen ist niemand, auch wenn man sich persönlich verpflichtet fühlt, den Schleier zu tragen. Behinderung ist demgegenüber unausweichbares Schicksal. Den Schleier kann man abnehmen, die Behinderung kann nicht abgestreift werden. Im Krankenhaus beispielsweise würde die voll Verschleierte notwendigerweise auch den Schleier abnehmen, weil sie sonst gar nicht behandelt werden könnte. Ein Mensch mit einer Behinderung kann das nicht.
Natürlich sind religiöse Überzeugungen, auch wenn sie nur individuell erfahren oder deutlich kulturell mitgeprägt sind, durch die Glaubensfreiheit nach Artikel 4 GG stark geschützt. Aber das gilt auch für die Freiheit, ohne religiöse Überzeugung als Ausübung der allgemeinen Handlungsfreiheit nach Artikel 2 Abs. 1 GG einen Schleier zu tragen. Der Unterschied ist, dass wir unter dem Grundgesetz bei der Glaubensfreiheit noch ein Verfassungsgut brauchen, das eine Einschränkung rechtfertigt. Vieles Wichtige, etwa funktionsfähige Schulen und Hochschulen, sind jedoch verfassungsrechtlich abgesichert und das kann dann als verfassungsimmanente Schranke der Glaubensfreiheit zur Rechtfertigung von Einschränkungen herangezogen werden.
Was heißt das eigentlich, dass eine Lehrveranstaltung „funktioniert“? Was ist dafür der Maßstab jenseits der Auffassung der Lehrenden?
Das Funktionsfähigkeits-Argument ist missbrauchsanfällig, ich glaube gleichwohl, dass es einen zutreffenden Kern besitzt. Das Hochschulrecht, konkretisiert durch das, was die Hochschulen und die einzelnen Lehrpersonen kraft der Hochschulautonomie – abgesichert durch das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit – daraus machen, beruht auf bestimmten Annahmen, wie Formate und Lehrveranstaltungen konzipiert sind und was ihr Sinn ist. Natürlich werden diese Annahmen auch ohne die Schleierproblematik sehr unterschiedlich erfüllt. Aber das ist kein Argument, vermeidbare Beeinträchtigungen zuzulassen.
Ob jemand empfindet, dass sein Seminar beeinträchtigt ist oder nicht, kann doch individuell sehr unterschiedlich sein.
Deshalb fände ich es ja besser, die Frage am Format der Lehrveranstaltung festzumachen, als an der Auffassung des Einzelnen. Zur Seminarleistung gehört die mündliche Interaktion dazu. Viele Hochschullehrer bewerten nicht nur die Seminararbeit, sondern auch, was der- oder diejenige sonst im Seminar gemacht hat. Das wäre bei Vollverschleierung massiv erschwert. Auch im Hörsaal schaue ich, wenn ich mir unsicher bin, ob ich zu schnell oder zu langsam vorgehe, einzelne Studierende an, was für ein Gesicht die machen, welche Reaktion sie etwa in ihrer Mimik zeigen. Im Seminar gilt das noch viel mehr. Das pädagogisch-didaktische Konzept des Seminars, Kolloquiums oder Tutoriums gehört zur Wissenschaftsfreiheit nach Artikel 5 Abs. 3 GG und genießt insoweit auch rechtlichen Schutz.
Gibt es an der Humboldt-Universität überhaupt vollverschleierte Studentinnen?
Nein. Allein das zeigt schon die extrem symbolische Überfrachtung der Diskussion. Studentinnen mit Kopftuch trifft man demgegenüber durchaus an. Das stellt jedoch kein Problem dar, da die hier von mir vorgebrachten Bedenken gegen die Vollverschleierung dort nicht relevant sind.
Wenn es welche gäbe – was wären konkret die Mittel der Universität, damit umzugehen?
Im Hörsaal würde man wahrscheinlich nicht reagieren. Wie gerade gesagt: Es handelt sich ohnehin weitgehend um eine Symboldiskussion, der die reale Anschauung weitgehend fehlt, es gibt in Deutschland nur extrem wenig Burkaträgerinnen. Die Bedeutung der Diskussion steht in keinem Verhältnis zu tatsächlich virulenten Problemen. Im Seminar würde ich der betroffenen Person meine Argumente darlegen und im Extremfall, in letzter Konsequenz die Studentin dann nicht aufnehmen. Bei weiterer Zuspitzung müsste diese dann klagen und die Frage könnte gerichtlich geklärt werden.
Der Vollständigkeit halber, weil das Argument immer wieder kommt: Was ist zu dem Einwand zu sagen, die Frauen müssten um ihrer eigenen Menschenwürde willen vor der Vollverschleierung geschützt werden?
Das ist ein paternalistisches Argument. Wir wissen nicht, wie viele Frauen sich freiwillig voll verschleiern und wie viele unter Druck. Dieser Druck kann echter Zwang sein oder eher in kulturellen Erwartungshaltungen bestehen. Ich traue mir da kein Urteil zu. Wirklich valide empirische Untersuchungen sind mir nicht bekannt und wären auch schwierig. Wenn man eine Schutzpflicht des Staates für diese Frauen forderte, müsste man auch berücksichtigen, dass man eine gewisse Zivilcourage verlangen kann.
Was mich ebenfalls nicht überzeugt, ist das Argument, dass man angeblich in einer freien und offenen Gesellschaft „sein Gesicht zu zeigen habe“. Das bleibt jedem selbst überlassen. Es handelt sich dabei um ein politisches, kein juristisches Argument. Als Bürger würde auch ich von meinen Mitmenschen in der Tat erwarten, dass sie ihr Gesicht zeigen. Aber wenn das einer aus welchen Gründen auch immer nicht will, ist es klassischer Minderheitenschutz, ihm das zuzugestehen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aber ausgerechnet dieses Argument gelten lassen.
Ja, aber beim EGMR muss man viel stärker, als wir das in Deutschland üblicherweise machen, den Fall kontextualisieren. Es geht im Wesentlichen um Fälle aus Frankreich, Belgien und der Türkei. Belgien hat zwar ein ähnliches Religionsverfassungsrecht wie wir, aber einen höheren Anteil an Muslimen. Den hat auch Frankreich, dort jedoch vor dem Hintergrund eines streng laizistischen Grundkonzepts des Verhältnisses von Staat und Religion. Und die Türkei hatte jedenfalls vor Erdogan auch ein ganz spezielles laizistisches Grundkonzept. Im Bereich der Religionsfreiheit funktioniert der Rückbezug des EGMR auf die Besonderheiten der jeweils betroffenen Länder nach meiner Beobachtung gut. Dass er in einem französischen Fall auf das Konzept des Vivre Ensemble Bezug genommen hat, wird außerdem vielleicht durch die Formulierung der EMRK nahegelegt, dass Einschränkungen „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“ sein müssen. Da kann man für Deutschland, glaube ich, wenig generelle Rückschlüsse ziehen, denn der EGMR lässt sich immer auf die von dem betroffenen Mitgliedstaat nach seiner Überzeugung, seiner Tradition und seiner Verfassungsordnung vorgetragenen Argumente ein.
In der Diskussion in Schleswig-Holstein ging es nicht nur um die Vollverschleierung als Symbol für die Unterdrückung der Frau, sondern auch als Symbol für eine bestimmte Ausprägung des politischen Islam. Mal unterstellt, das trifft zu – wie geht die Universität generell mit Symbolen für bestimmte radikale Überzeugungen (diesseits der Volksverhetzung) um?
Das meinte ich mit Funktionsfähigkeit der Institution Hochschule. Wenn man mal diese ideologisch so verminte Kopftuch-Burka-Diskussion hinter sich lässt, wird das sichtbar. In der Praxis läuft das über das Hausrecht, das in der Hochschule regelmäßig über den Dekan für die konkrete Lehrveranstaltung auf die einzelnen Lehrpersonen delegiert ist. Wenn man das abstrakt regeln wollte, dann bräuchte man spezielle Ermächtigungsgrundlagen. Um Missverständnisse zu vermeiden: Niemand ist davor geschützt, mit religiösen oder politischen Symbolen Anderer konfrontiert zu werden. Im öffentlichen Raum sind wir häufig mit Kreuzen, etwa auf Kirchengebäuden oder als Halsschmuck, aber auch mit islamischer Symbolik konfrontiert. Nur der Staat ist insoweit religiös-weltanschaulich neutral, nicht die Bürgerinnen und Bürger. Eine dahingehende verfassungsrechtliche Schutzpflicht besteht nicht. Diese Dimension religiöser Symbolik im öffentlichen Raum ist schon lange juristisch geklärt. Wenn diese Symbolik jedoch in der Schule oder an der Hochschule eine aggressive Dimension einnimmt (ich denke etwa an religiöse oder politische Missionstätigkeit), kann die Funktionstüchtigkeit der Institution oder einer konkreten Lehrveranstaltung beeinträchtigt sein, dürfte und müsste der Staat reagieren. So etwas wird schon heute über die Ausübung des Hausrechts bewältigt.
Ich tendiere eigentlich auch zu Herrn Waldhoffs Position, bin aber kürzlich auf das m.E. ziemlich gute Gegenargument gestoßen, dass doch blinde Dozierende existieren, deren (auch diskursiven) Lehrveranstaltungen man das Funktionieren wohl nicht pauschal absprechen will…
Wie wörtlich kann also das “einander ins Gesicht sehen können müssen” gemeint sein? Ist es vielleicht doch eher eine nachträgliche Rationalisierung eines anders begründeten Störgefühls? Oder: Auf wessen Sichtweise (pun intended) soll es bei der Beurteilung der Funktionsfähigkeit ankommen?
Zunächst finde ich die Differenzierung zwischen großen und kleinen Lehrveranstaltungen geboten. Das Argument des blinden Dozenten könnte man evtl dadurch entkräften, dass auch die Mitstudierenden durch Art. 12 geschützt sind und es für kleinere Lehrveranstaltungen, insbesondere in Diskussionen, nicht nur auf die Kommunikation zwischen Dozenten und Studenten, sondern auch unter Studenten ankommt. Damit bliebe der wohl eher theoretische Fall, dass alle Teilnehmer blind sind. Dh, wenn der Dozent blind sein sollte und eine vollverschleierte Person im Raum sitzt, dies zwar den Dozenten nicht stört, jedoch möglicherweise die anderen Studierenden. Für überzeugend halte ich jedoch auch das nicht. Wenn man auf die Funktionsfähigkeit abstellt, um Art. 4 einzuschränken, bedarf es dafür schon Beweise/Studien – die bloße Behauptung, die Funktionsfähigkeit werde durch die Teilnahme vollverschleierter (und die daraus folgende mangelnde Möglichkeit der Wahrnehmung der Mimik) eingeschränkt kann m.E. nicht ausreichen. Ferner finde ich den Vergleich zu virtueller Kommunikation fragwürdig. Sitzen sich zwei blinde gegenüber und kommunizieren miteinander