22 April 2024

Immanuel Kants 300. Geburtstag und das Grundgesetz

Immanuel Kant, geboren am 22. April 1724, hat heute seinen 300. Geburtstag. Und das Grundgesetz wird nächsten Monat 75 Jahre alt. Was bedeuten diese beiden Senioren füreinander? Was hat Kants Philosophie mit dem Grundgesetz zu tun?

All the faves are flawed. Kant hat sich auf Würde, Freiheit und Gleichheit zugleich berufen und sie verraten. Das Grundgesetz hat weder seine noch eine andere Philosophie übernommen – es hat aber durchaus daran angeknüpft, und zwar in dreierlei Weise (zum Folgenden, mit Nachweisen, näher hier, S. 680-687): Mit der Menschenwürdegarantie hat es Selbstzweckformel, Verdinglichungsverbot und kategorische Geltung als Elemente adaptiert. Sie erhielten jedoch, im Angesicht des Holocaust und als ihr Gegenbild, eine historisch neue Bedeutung.

Nach der so genannten Selbstzweckformel Kants ist der kategorische Imperativ erstens das Gebot, „alle anderen niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck an sich selbst“ zu „behandeln“, wie es in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten heißt. Kant formuliert das Verbot, die Menschen als bloßes Mittel zu gebrauchen, zweitens auch als ein Verbot, sie zu verdinglichen, zu einer Sache herabzuwürdigen. Sie sind „keine Sache, mithin nicht etwas, das bloß als Mittel gebraucht werden kann“, oder, wie Kant es in der Metaphysik der Sitten formuliert: „[D]er Mensch kann nie bloß als Mittel zu den Absichten eines anderen gehandhabt und unter die Gegenstände des Sachenrechts gemengt werden, wowider ihn seine angeborne Persönlichkeit schützt“.

Die Menschenwürde ist nach Kant schließlich, drittens, eine Quelle kategorischer Unterlassungsplichten in der Ethik. In der Grundkontroverse zwischen „deontologischer“ und „konsequentialistischer“ Ethik zählt Kant zu den Begründern und Hauptvertretern eines deontologischen Ansatzes. Der Idee eines relativierenden Abwägens und Aufrechnens ist ein solches deontologisches Verständnis der Menschenwürde diametral entgegengesetzt, wie Kant etwa in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten deutlich macht: „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.“

Im System Kants gehören diese Ausführungen zur Menschenwürde dabei, wie nicht stark genug betont werden kann, zur Tugendlehre, nicht zur Rechtslehre. Aber auch in der Rechtslehre griff er durchaus teils auf deren Grundgedanken zurück, etwa für das Verbot grausamer Vollstreckung der Todesstrafe.

Der Parlamentarische Rat griff 1948 und 1949 auf dieses Vorverständnis und auf die damals allgemein bekannten Formulierungen Kants zurück. Die Aussagen der Grundlegungsschrift zur Menschenwürde zählten 1949 ebenso sehr zum allgemeinen Bildungsgut wie die weiteren Fassungen des kategorischen Imperativs. Es lässt sich deshalb die These einer partiellen, zeitgeschichtlich geprägten Rezeption kantischer Vorstellungen durch die verfassungsgebende Gewalt verteidigen.

Eine solche Rezeption oder Adaption bedeutet aber (natürlich) keine Inkorporation, sondern ist zugleich Neuinterpretation. Drei wichtige Unterschiede sind besonders zu betonen.

Erstens würde die Moral- und Rechtsphilosophie Kants einer solchen Inkorporation schon aus sich heraus zumindest erhebliche Widerstände entgegensetzen. Zum einen ist, wie schon erwähnt, bei Kant Tugendlehre nicht mit Rechtslehre gleichzusetzen, zum anderen (und erst Recht) nicht mit dem positiven Recht: Selbst wo die Rechtslehre Grundgedanken der Menschenwürde aufgreift, muss dies für den Erz-Positivisten Kant, der jedes Widerstandsrecht verneinte, noch keinen Einfluss auf das positive Recht bedeuten.

Zweitens legte der Parlamentarische Rat in seinen Beratungen größten Wert auf die weltanschauliche Neutralität des Grundgesetzes, die einen pauschal inkorporierenden Rückgriff auf eine bestimmte Philosophie ebenso wie den auf eine bestimmte Religion verbietet. Vor allem Theodor Heuss und Carlo Schmid betonten in der Naturrechtsdebatte, dass sich das Grundgesetz  beispielsweise nicht durch einen Rückgriff auf christliches Naturrecht deuten lässt, sondern dass maßgeblich für seine gebotene Weiterentwicklung jene Konkretisierungen der Werte Würde, Freiheit und Gleichheit sein und bleiben müssen, die die verfassungsgebende Gewalt vorgenommen hat.

Und drittens  sah die verfassungsgebende Gewalt – anders als möglicherweise Kant – Autonomiefähigkeit zwar dort, wo sie vorhanden ist, als ein zentrales Schutzgut an, aber gerade nicht als eine notwendige Voraussetzung für die Menschenwürde. Das ergibt sich insbesondere daraus, dass die „Euthanasie“-Morde an geistig behinderten Menschen in den Beratungen des Parlamentarischen Rates als paradigmatischer Fall einer Menschenwürdeverletzung eingestuft wurden.

Es gab also zwar keine Inkorporation der Philosophie Kants durch die Verfassung. Wohl aber gab es eine Adaption und Neuinterpretation bestimmter Elemente und Formulierungen der kantischen Philosophie – vor allem der Selbstzweckformel und des Verbots, Menschen wie Sachen zu behandeln, aber auch des deontologischen Grundgedankens abwägungsfester Rechte der Einzelnen, die auch durch noch so große Vorteile für die Allgemeinheit nicht aufgewogen werden können.

Wenn heute an Kant zurückgedacht wird, muss sein Rassismus ebenso in das Bild genommen werden wie die blinden Flecken der westlichen Aufklärungsphilosophie. Zu diesen gehören etwa die Vorstellung, ein Philosoph könne substantielle Prinzipien der Moral oder der Rechtsphilosophie im stillen Kämmerlein und ohne Rücksicht auf historische Zeitverläufe und auf Prozesse demokratischer Willensbildung a priori ermitteln, oder auch ein unreflektierter geschichtstheoretischer Fortschrittsglaube.

Zugleich erscheint aber eine zeitgemäße Anknüpfung an Elemente der kantischen Philosophie nicht ausgeschlossen, wie etwa die Ansätze von John Rawls oder Jürgen Habermas zeigen – wenn man sie ihrerseits weiterentwickelt, etwa mit Danielle Allen oder Anna Katharina Mangold, und den Rechten auf demokratische Partizipation und Gleichheit darin das gebotene Gewicht gibt. Das positive Verfassungsrecht des Grundgesetzes weist zu solchen Ansätzen erhebliche Korrespondenzen auf, nicht zuletzt dank seiner, von der verfassungsgebenden Gewalt gewollten, dynamischen Weiterentwicklung durch das Bundesverfassungsgericht. Keine Veranlassung besteht deshalb dazu, die Gleichheitsidee der Aufklärung aufzugeben, nach der alle das gleiche Recht auf Würde und freie Verfolgung ihrer Glückseligkeit haben.


SUGGESTED CITATION  Hong, Mathias: Immanuel Kants 300. Geburtstag und das Grundgesetz, VerfBlog, 2024/4/22, https://verfassungsblog.de/immanuel-kants-300-geburtstag-und-das-grundgesetz/, DOI: 10.59704/275738a964c1c3cb.

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