13 September 2023

In der Falle der Loyalität

Die „Falle der Loyalität“ – so hat die Historikerin Annette Leo schon vor einigen Jahren das komplexe Verhältnis der jüdischen Kommunisten in der DDR zu ihrem Staat auf den Begriff gebracht: Man war und blieb trotz aller Kritik loyal, weil man sich nur durch eine starke kommunistische Macht geschützt fühlte, geschützt vor „dem Volk“, dessen nach 1945 erlerntem Antifaschismus man nie ganz trauen konnte.

An diese einprägsame Formulierung musste ich denken, als ich am Montag letzter Woche von den offiziellen jüdischen Reaktionen auf Markus Söders Entscheidung las, Hubert Aiwanger trotz eines antisemitischen Flugblatts aus Schultagen im Amt zu belassen. Obwohl beide Amtsträger, die von Söder vorher informiert worden waren, dessen Entscheidung politisch unterstützten, rückten sie zugleich und sofort öffentlich von seinem Vize-Ministerpräsidenten ab: Die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch ließ verlauten, dass sie eine Entschuldigung Aiwangers abgelehnt habe, der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, äußerte sich etwas vorsichtiger und zeigte sich vor allem enttäuscht über die fehlende  Demut und Reue auf Seiten des bayerischen Vize-Regierungschefs und seinen mangelnden Aufklärungswillen in eigener Sache.

Wächter und Warner

Diese doppelte Botschaft ist nur auf den ersten Blick widersprüchlich – tatsächlich ist sie völlig konsistent mit der Politik des Zentralrats seit seiner Gründung im Jahre 1950 und nicht zuletzt auch mit der historischen jüdischen Erfahrung: eine enge Bindung an die Machthaber gewährte meist den bestmöglichen, wenngleich dennoch immer prekären Schutz. Nach dem Holocaust und in Deutschland war eine solche Konstellation zunächst undenkbar und so waren es die Alliierten, die eine institutionelle jüdische Existenz auf deutschem Boden überhaupt erst ermöglichten. Nach der doppelten Staatsgründung 1949 musste man sich Schritt für Schritt mit den jeweiligen deutschen Regierungen arrangieren. Schon vor einigen Jahren hat der in Großbritannien lehrende Historiker Anthony D. Kauders für das Verhältnis der Juden in der Bundesrepublik zu ihrem Staat den Begriff des Gabentauschs geprägt: Die jüdische Präsenz im postfaschistischen Deutschland wurde in einen engen Zusammenhang mit der erwünschten Demokratisierung gesetzt, was konkret bedeutete, dass man sich jüdischerseits auf den Schutz seitens der deutschen Politik verlassen konnte und dafür öffentlich und vor allem dem Ausland gegenüber die demokratische Entwicklung des Landes lobte. Diese Doppelrolle als Wächter der Demokratie und Warner gegen Antisemitismus wird nun, angesichts eines mit völkischen Parolen an Boden gewinnenden Rechtspopulismus kompliziert: Sowohl Knobloch als auch Schuster haben betont, dass sie Söders machttaktische Entscheidung nachvollziehen können, der hoffte, auf diese Weise eine Regierungskrise kurz vor den bayerischen Landtagswahlen im Oktober und ein Anwachsen der Freien Wähler verhindern zu können. Um die Demokratie zu bewahren, schluckte man das eigene Entsetzen und die eigenen Sorgen hinunter  – und es fällt auf, dass, konträr zur gegenwärtigen Diskurskonjunktur, das Verdikt „Antisemitismus“ in beiden Stellungnahmen nicht vorkommt.

Dröhnende Zelte

Aber die Rechnung scheint nicht aufzugehen: Statt „Demut und Reue“ zu zeigen oder überhaupt inhaltlich Stellung zu beziehen, inszeniert sich Aiwanger als Opfer eine Kampagne, deren Drahtzieher er wohlweislich im Dunklen belässt, die aber gerade deshalb gern als „jüdisch“ verstanden werden. Die Behauptung, dass man es „denen da oben“ gezeigt hat, sogar bei diesem Thema, lässt die Bierzelte dröhnen und die Freien Wähler in den Umfragen weiter an Zustimmung gewinnen. Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, ist dies das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ein Antisemitismusskandal den davon Betroffenen nicht beschädigt, sondern im Gegenteil noch stärkt. Auch wenn es vielleicht noch zu früh ist, von einem Wendepunkt zu sprechen, so ist dies dennoch äußerst beunruhigend. Folgt man meinem Kollegen Werner Bergmann, so hat die Bundesrepublik gerade aus den Skandalen rund um das Thema Nationalsozialismus seit ihrer Gründung langsam und beständig gelernt, vielleicht sogar mehr als im Geschichtsunterricht oder im Museum. Insofern wäre jetzt zumindest zu fragen, was sich aus dem Fall Aiwanger lernen lässt: Vielleicht, dass man aufpassen muss, dass die Loyalität zu den staatstragenden Parteien nicht zur Falle wird, wenn diese, nolens volens oder auch sehr gezielt mit populistischen Versatzstücken zündeln. Mittelfristig hat sich dies bekanntlich noch nie politisch ausgezahlt, wohl aber die Grenze zu jenen, die diese Demokratie abschaffen wollen, porös gemacht. Auf wen kann man sich bis wann noch verlassen? Und wie will man eigentlich einem durch eine perfide Täter-Opfer Umkehr-Inszenierung gestärkten Vize-Ministerpräsident Aiwanger in Zukunft gegenübertreten? Das Beschwören „Deutscher Erinnerungskultur“ wird da nicht mehr ausreichen und der Missetäter nicht einfach durch einen Gedenkstättenbesuch geläutert werden, zumal deren Leitungen bereits angekündigt haben, für solche Ablasshandlungen nicht zur Verfügung zu stehen. Stattdessen wäre es vielleicht an der Zeit, das Feld der Bündnispartner in die Zivilgesellschaft hinein zu erweitern, so anstrengend und komplex dies auch sein mag. Aber man muss ja nur in Teile Europas schauen, nach Israel oder in die USA, um zu begreifen, dass es im 21. Jahrhundert neben einer unabhängigen Justiz vor allem die Zivilgesellschaften sind, die die Demokratie schützen – und mit ihr die Minderheiten.


SUGGESTED CITATION  Schüler-Springorum, Stefanie: In der Falle der Loyalität, VerfBlog, 2023/9/13, https://verfassungsblog.de/in-der-falle-der-loyalitat/, DOI: 10.17176/20230913-220901-0.

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