18 November 2020

In zwei Stunden von Luxemburg nach Brüssel spazieren

Der Europäische Gerichtshof wird über die Legalität von Uploadfiltern urteilen

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Vor anderthalb Jahren gingen knapp 200.000 Menschen gegen die EU-Urheberrechtsreform auf die Straße. Stein des Anstoßes war Artikel 17 der Richtlinie 2019/790 über das Urheberrecht im Digitalen Binnenmarkt, der bestimmte Online-Plattformen für die Urheberrechtsverletzungen ihrer Nutzer:innen in Haftung nimmt. Um dem zu entgehen, müssen Plattformen auf Wunsch von Rechteinhaber:innen den Zugang zu deren Werken sperren. Die Befürchtung, dass auch legale Nutzungen den Uploadfiltern zum Opfer fallen werden, trieb die Menschen auf die Straße. Zwar sind die Proteste nach der Verabschiedung der Richtlinie zunächst verebbt, während die Mitgliedstaaten mit der komplizierten Aufgabe betraut sind, Artikel 17 in ihr nationales Urheberrecht zu überführen. Es wäre jedoch ein Fehler, die relative Ruhe als Zeichen für die Lösung der grundlegenden Probleme rund um Artikel 17 zu interpretieren. Der Konflikt wurde stattdessen nur von den Straßen in den Gerichtssaal getragen.

Artikel 17 vor Gericht

In einer öffentlichen Anhörung am vergangenen Dienstag, dem 10. November 2020, hat sich der Europäische Gerichtshof (EuGH) mit der Vereinbarkeit von Artikel 17 mit der EU-Grundrechtecharta befasst. Es geht in dem Rechtsstreit (Rechtssache C-401/19) um die Teile von Artikel 17, die Plattformen verpflichten, Urheberrechtsverletzungen zu sperren. Polen hat gegen das Europaparlament und den Rat (also den europäischen Gesetzgeber) geklagt und verlangt die Streichung des gesamten Artikels 17 oder zumindest der Teile, die das Grundrecht auf Meinungs- und Informationsfreiheit verletzen, indem sie Plattformen zum Einsatz von Uploadfiltern zwingen.

Es mag etwas merkwürdig erscheinen, dass dieser Grundrechtsfall ausgerechnet von der polnischen Regierung angestrengt wurde, die regelmäßig für die Gefährdung von Grundrechten, nicht für deren Schutz, in den Schlagzeilen ist. Allerdings ist es wichtig zu wissen, dass Polen eine von sechs Regierungen ganz unterschiedlicher politischer Couleur war, die gemeinsam 2019 im Rat gegen die Urheberrechtsrichtlinie gestimmt haben. Als Grund nannten sie, dass der Gesetzgeber es versäumt habe, die Rechte von Rechteinhaber:innen mit denen von Bürger:innen und Plattformen in Einklang zu bringen.

Als Gesellschaft für Freiheitsrechte e.V. haben wir uns mit den Ergebnissen der Anhörung intensiv auseinandergesetzt und haben Anfang der Woche eine Studie veröffentlicht, die zu dem Ergebnis kommt, dass Artikel 17 in mehreren Punkten mit der EU-Grundrechtecharta unvereinbar ist.

Alternativen zu Uploadfiltern

Die Anhörung beschäftigte sich mit vier Fragen. Zunächst wollte der Gerichtshof wissen, ob Uploadfilter durch Artikel 17 verpflichtend würden. Diese Frage ist für die grundrechtliche Einschätzung relevant, weil der Gerichtshof in der Vergangenheit allgemeine Verpflichtungen zur Überwachung aller User-Uploads durch Plattformen als grundrechtswidrig eingestuft hat.

Einige Wissenschaftler:innen argumentieren, das Verbot gelte nicht, solange die Uploadfilter nur bestimmte, von den Rechteinhaber:innen identifizierte urheberrechtlich geschützte Werke betreffen. Eine solche Interpretation des Verbots allgemeiner Überwachungspflichten ist jedoch mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs unvereinbar. Sie beruht auf der falschen Annahme, der EuGH hätte in den Fällen Scarlet und Netlog gerichtliche Anordnungen zum Einsatz von Filtern nur deshalb abgelehnt, weil diese Anordnungen die Anbieter verpflichtet hätten, auch zukünftige, unbekannte Werke aufzuspüren, ohne zuvor die notwendigen Informationen von der Verwertungsgesellschaft erhalten zu haben. Das ist falsch. In dem Urteil zum Ausgangsverfahren zu Scarlet ging es um eine Verpflichtung zum Einsatz der Filtersoftware Audible Magic, die ausschließlich auf der Basis von digitalen Fingerabdrücken funktioniert, die von Rechteinhaber:innen bereitgestellt werden müssen. Genau um solche Technologien geht es auch bei Artikel 17. Im Fall McFadden hat der EuGH sogar eine Anordnung, ein einziges bekanntes Musikstück zu filtern, als Verstoß gegen das Verbot allgemeiner Überwachungspflichten abgelehnt.

In Glawischnig-Piesczek hat der Gerichtshof die Anforderungen an eine zulässige spezifische Überwachungspflicht präzisiert. Solche gerichtlichen Anordnungen müssen sich in jedem Fall auf die Sperrung einzelner illegaler Handlungen beschränken, deren Rechtswidrigkeit das Gericht festgestellt hat. Die in Artikel 17 vorgesehenen Uploadfilter erfordern hingegen die Sperrung urheberrechtlich geschützter Werke, nicht bestimmter Nutzungen dieser Werke, die das Urheberrecht verletzen. Außerdem erfolgt die Sperrung allein auf der Grundlage von Rechteinhaberinformationen, ohne dass die Rechtswidrigkeit einer Nutzung zuvor gerichtlich festgestellt wurde.

In der Anhörung argumentierten die EU-Institutionen (unterstützt durch Frankreich und Spanien), dass Uploadfilter nicht verpflichtend würden, weil Artikel 17 keine bestimmte technische Lösung vorschreibe. Plattformen würden lediglich verpflichtet, Urheberrechtsverletzungen unter Einsatz aller Anstrengungen zu verhindern. Plattformen seien frei, zwischen unterschiedliche Technologien zu wählen, die sich im Laufe der Zeit auch weiterentwickeln und mit menschlichen Überprüfungen kombiniert werden könnten.

Die polnische Regierung entgegnete, dass Uploadfilter zwar nicht ausdrücklich im Text von Artikel 17 genannt werden, dass die Plattformen aber keine Alternativen hätten, um ihren Verpflichtungen nach Artikel 17 Absatz 4 nachzukommen und damit der Haftung für Urheberrechtsverletzungen ihrer Nutzer:innen zu entgehen. In dieselbe Kerbe schlug auch der Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs Henrik Saugmandsgaard Øe. Deutlich wurde dies in seiner Frage an Parlament und Rat, ob denn auch eine Person, die binnen zwei Stunden von Luxemburg nach Brüssel reisen muss, eine freie Wahl hat, ob sie mit dem Auto fahren oder zu Fuß gehen will. Die Alternativen, die die EU-Institutionen in der Anhörung aufzählten, wie etwa Fingerprinting, Hash-Abgleich, Watermarking, künstliche Intelligenz oder Stichwortsuchen, kritisierte Polen zu Recht als alternative Methoden der Inhaltefilterung, nicht aber Alternativen zur Inhaltefilterung.

Ein gerechter Ausgleich zwischen Meinungsfreiheit und geistigem Eigentum

Die zweite und dritte Frage des Gerichtshofs setzte sich mit der Gefahr, die von Uploadfiltern für die Meinungsfreiheit ausgeht, auseinander. Insbesondere ging es darum, ob die Gefahr durch eine enge Auslegung von Artikel 17, sodass die Filterpflicht nur für offensichtlich rechtswidrige Inhalte gelte, reduziert werden kann. Bei der Diskussion dieser Frage wurde klar, dass die Unterstützer:innen von Artikel 17 von völlig gegensätzlichen Interpretationen der Vorschrift ausgehen: Die Europäische Kommission, unterstützt durch Parlament und Rat, verteidigte die Ansicht, dass nur offensichtlich rechtswidrige Inhalte gesperrt werden dürfen. Diese Interpretation hat die Europäische Kommission auch bereits in ihrem Entwurf der Leitlinien für die Umsetzung von Artikel 17 präsentiert. Sie beruht darauf, dass Artikel 17 Absatz 7 vorschreibt, dass legale Inhalte nicht gesperrt werden dürfen. Artikel 17 Absatz 4, so die Kommission, verpflichte Plattformen hingegen nur, „alle Anstrengungen“ zur Sperrung illegaler Inhalte zu unternehmen. Wenn diese beiden Vorschriften miteinander in Konflikt geraten, wiege das Verbot der Sperrung legaler Inhalte schwerer, weil es hier auf das Ergebnis ankomme, nicht nur auf den Nachweis von Anstrengungen. Uploads, die beispielsweise ein legales Zitat darstellen können, müssten also online bleiben, bis ein Mensch sie überprüfen könne.

Frankreich und Spanien waren dagegen ganz anderer Ansicht. Ihnen zufolge würde eine nationale Umsetzung im Sinne der Leitlinien der EU-Kommission sogar gegen Artikel 17 verstoßen. Das Recht auf geistiges Eigentum müsse stets Priorität gegenüber der Meinungsfreiheit der Nutzer:innen haben, wenn Unklarheit über die Rechtmäßigkeit der Nutzung eines Werks bestehe. Diese Ansicht begründeten die Regierungen damit, dass der wirtschaftliche Schaden für Rechteinhaber:innen durch die unberechtigte Veröffentlichung urheberrechtlich geschützter Werke selbst für einen kurzen Zeitraum schwerer wiege als der Schaden für die Meinungsfreiheit, wenn ein legaler Upload zeitweise gesperrt werde.

Polen argumentierte, dass es auf diese Unterscheidung für die grundrechtliche Bewertung letztlich nicht ankomme, da Plattformen ohnehin nicht über die technischen Mittel verfügten, zuverlässig zwischen legalen und illegalen Nutzungen geschützter Werke zu unterscheiden, die Sperrung legaler Inhalte sei also vorprogrammiert. Es sei für den Schutz der Meinungsfreiheit nicht ausreichend, dass sich Nutzer:innen im Nachhinein über Sperrungen beschweren könnten. Außerdem wiege der Schaden für die Meinungsfreiheit schwerer als der für das geistige Eigentum, da Rechteinhaber:innen für die zeitweise Veröffentlichung von Urheberrechtsverletzungen entschädigt werden könnten, während eine Einschränkung der Meinungsfreiheit nicht finanziell aufzuwiegen wäre.

Die Frage, ob die verschiedenen betroffenen Grundrechte in einen gerechten Ausgleich gebracht werden können, wird zentral für das Urteil des Europäischen Gerichtshofs sein. Unsere Studie kommt zu dem Ergebnis, dass neben dem Recht auf geistiges Eigentum und der Meinungs- und Informationsfreiheit noch weitere Grundrechte berücksichtigt werden müssen, insbesondere die unternehmerische Freiheit der Plattformen. Artikel 17 führt zu einem schwerwiegenden Eingriff in die unternehmerische Freiheit der Plattformen, weil er ihnen sehr kostspielige Pflichten auferlegt, die nur durch einen allgemeinen Verweis auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz eingeschränkt sind.

Bei der Auslegung der von Artikel 11 Grundrechtecharta garantierten Meinungsfreiheit muss der EuGH auch die im Kontext urheberrechtlicher Filtersysteme einschlägige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (insbesondere  Yıldırım v Turkey, Kharitonov v Russia und Kablis v Russia) beachten. Diese zeigt, dass der EGMR präventive Sperrverpflichtungen, durch die auch legale Inhalte gesperrt werden könnten, konsequent ablehnt. Für den EGMR stellen alle Anordnungen, die die Sperrung legaler Inhalte zur Folge haben, dar, weil kein Gericht zuvor die Rechtswidrigkeit dieser Informationen festgestellt hat. Das gilt sogar für Urteile zu Hate Speech, deren Betroffene in ihren Grundrechten mindestens genauso stark beeinträchtigt werden wie Urheberrechteinhaber:innen. Besonders schwer wiegt, dass Artikel 17 präventive Sperrverpflichtungen enthält, die einen gravierenden Eingriff in die Meinungsfreiheit darstellen. Solche Eingriffe sind nach der Rechtsprechung des EGMR nur in Ausnahmefällen zulässig und müssen mit effektiven Schutzvorkehrungen gegen die Sperrung legaler Inhalte versehen sein.

Artikel 17 genügt diesen strikten Anforderungen nicht. Die einzigen spezifischen Schutzvorkehrungen greifen erst nach der Sperrung eines legalen Inhalts. Der Europäische Gesetzgeber hat zwar das Ziel formuliert, dass legale Inhalte durch Artikel 17 nicht beeinträchtigt werden dürfen, aber er hat den Mitgliedstaaten keinerlei Anhaltspunkte gegeben, wie die nationale Umsetzung dieses Ziel erreichen soll.

Verantwortung der EU für Schutz der Grundrechte

So hat der Gerichtshof in seinem jüngsten Urteil Schrems II nochmals deutlich gemacht, dass „die gesetzliche Grundlage für den Eingriff in die Grundrechte den Umfang der Einschränkung der Ausübung des betreffenden Rechts selbst festlegen muss“. In seiner vierten Frage bat der Gerichtshof die Parteien daher um Stellungnahme, ob der Europäische Gesetzgeber dieser zentralen Verantwortung nachgekommen ist.

Laut den EU-Institutionen erfüllt Artikel 17 diese Voraussetzungen, indem er vorschreibt, dass legale Inhalte nicht gesperrt werden dürfen. Frankreich und Spanien sind der Meinung, dass bereits der Beschwerdemechanismus gegen unberechtigte Sperrungen ausreichend ist. Die polnische Regierung argumentierte hingegen, dass der europäische Gesetzgeber die schwierigsten Fragen rund um den Grundrechtsausgleich absichtlich den Mitgliedstaaten und letztendlich den Plattformen überlassen habe, weil diese Fragen in der politischen Debatte besonders brisant gewesen seien. Dafür spricht die Tatsache, dass die Schutzvorkehrungen gegen die Sperrung legaler Inhalte in Artikel 17 keine Durchsetzungsvorschriften enthalten, und dass die Regierungen, die bereits Gesetzesentwürfe für die Umsetzung von Artikel 17 vorgelegt haben – mit Ausnahme Deutschlands – überhaupt keine Vorschläge für den Schutz legaler Inhalte vor fälschlichen Sperrungen machen. Gemessen an dem Standard, den der EuGH in Digital Rights Ireland und Schrems II entwickelt hat, ist der Europäische Gesetzgeber also seiner zentralen Pflicht für den Schutz der Grundrechte nicht nachgekommen.

Das Urteil kommt vermutlich zu spät

Die Zukunft von Artikel 17 ist noch ungewiss, aber den Mitgliedstaaten läuft die Zeit davon. Sie sind verpflichtet, die Urheberrechtsrichtlinie bis Juni 2021 in nationales Recht umzusetzen. Generalanwalt Saugmandsgaard Øe will seine Stellungnahme zu dem Verfahren am 22. April 2021 veröffentlichen. Die Umsetzungsfrist wird also höchstwahrscheinlich bereits verstrichen sein, wenn das Urteil verkündet wird. Für die Mitgliedstaaten ist das ein echtes Dilemma: Sie können Artikel 17 fristgerecht in nationales Recht umsetzen und riskieren, dass der Europäische Gerichtshof Artikel 17 kurz darauf für grundrechtswidrig erklärt, oder sie warten das Urteil ab und riskieren ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission.