Kann Straßburg den Krieg zähmen?
Der Ukrainekrieg vor dem EGMR
Silent enim leges inter arma – Unter den Waffen schweigen die Gesetze. Es ist eine Errungenschaft des modernen Völkerrechts, dass dieser einst von Cicero geprägte Satz heute weniger Geltung beanspruchen kann, denn je.
Nur wenige Tage nach seinem Beginn hat der russische Angriff auf die Ukraine gleich mehrere internationale Gerichte erreicht. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag verhandelt am 7. und 8. März 2022 über einen Eilantrag der Ukraine nach der Völkermordkonvention. In der Hauptsache begehrt die Ukraine, die Feststellung, dass ein Völkermord in den Regionen Donezk und Luhansk nicht stattfinde und somit der von Russland angeführte Kriegsgrund gegenstandslos sei. Unabhängig davon hat der Chefankläger beim Internationalen Strafgerichtshof am 28. Februar 2022 eine Untersuchung zur Situation in der Ukraine angekündigt.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat bereits gehandelt. Auf einen Antrag der Ukraine hat er am 1. März 2022 vorläufige Maßnahmen („interim measures“) nach Art. 39 seiner Verfahrensordnung ergriffen. Mit Blick auf die gegenwärtigen Militäroperationen („current military action“) in der Ukraine sehe der EGMR die reale und anhaltende Gefahr schwerwiegender Verletzungen der Konventionsrechte der Zivilbevölkerung, insbesondere des Rechts auf Leben (Art. 2 EMRK), des Verbots der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe (Art. 3 EMRK) und des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art. 8 EMRK). Vor diesem Hintergrund hat er ausweislich der veröffentlichten Pressemitteilung entschieden, „to indicate to the Government of Russia to refrain from military attacks against civilians and civilian objects, including residential premises, emergency vehicles and other specially protected civilian objects such as schools and hospitals, and to ensure immediately the safety of the medical establishments, personnel and emergency vehicles within the territory under attack or siege by Russian troops.“
Hintergrund der vorläufigen Maßnahmen ist ein von der Ukraine gegen Russland eingeleitetes Staatenbeschwerdeverfahren (Nr. 11055/22, Ukraine/Russland (X)). Nach Art. 33 EMRK kann jede Vertragspartei wegen jeder behaupteten Verletzung der Konvention den EGMR anrufen. Im Zusammenhang mit einem solchen Verfahren kann der EGMR gemäß Art. 39 Abs. 1 seiner Verfahrensordnung auf Antrag einer Partei oder von Amts wegen „vorläufige Maßnahmen bezeichnen, die im Interesse der Parteien oder eines ordnungsgemäßen Verfahrensablaufs ergriffen werden sollten.“
Die Entscheidung des EGMR vom 1. März 2022 ist bemerkenswert und ernüchternd zugleich.
Bemerkenswert ist sie deshalb, weil der EGMR noch vor gar nicht allzu langer Zeit entschieden hatte, die Konvention finde auf Ereignisse in einem internationalen bewaffneten Konflikt, die sich während der aktiven Phase von Feindseligkeiten zutragen, keine Anwendung. Es fehle insoweit an der Ausübung von Jurisdiktion im Sinne von Art. 1 EMRK („The High Contracting Parties shall secure to everyone within their jurisdiction the rights and freedoms defined in Section 1 of this Convention.“). Die schiere Realität einer bewaffneten Konfrontation zwischen feindlichen militärischen Kräften, die in einem chaotischen Umfeld („context of chaos“) das Erlangen der Kontrolle über ein Gebiet anstrebten, bedeute nicht nur, dass es an der effektiven Kontrolle („effective control“) eines Gebiets fehle, sondern auch, dass jede Form der unmittelbaren Gewalt über individuelle Personen („state agent authority and control“) ausgeschlossen sei. Diese Schlussfolgerung werde durch die Praxis der Vertragsparteien bestätigt, im Falle internationaler bewaffneter Konflikte außerhalb ihres eigenen Staatsgebiets keine Derogation nach Art. 15 EMRK zu erklären; hieraus sei zu schließen, dass die Vertragsparteien davon ausgingen, in diesen Fällen keine Jurisdiktion im Sinne von Art. 1 EMRK auszuüben. Diese Auslegung des Art. 1 EMRK möge zwar aus Perspektive der Betroffenen von Handlungen und Unterlassungen einer Vertragspartei in einem solchen Kontext unbefriedigend erscheinen. In Anbetracht der großen Anzahl von Betroffenen und Ereignissen, der Menge des Beweismaterials, der Schwierigkeiten, die relevanten Umstände zu ermitteln sowie des Umstandes, dass solche Situationen vornehmlich Regelungsgegenstand des humanitären Völkerrechts bzw. des Kriegsvölkerrechts seien, sehe sich der EGMR aber nicht imstande, den Begriff der Jurisdiktion über sein bisheriges Verständnis hinaus weiterzuentwickeln. Solle der EGMR mit der Aufgabe betraut werden, Kriegshandlungen und aktive Feindseligkeiten im Rahmen eines internationalen bewaffneten Konflikts außerhalb des Hoheitsgebiets eines beklagten Staates zu beurteilen, sei es Sache der Vertragsparteien, die erforderliche Rechtsgrundlage für eine solche Aufgabe zu schaffen (EGMR, Urteil der großen Kammer vom 21. Januar 2021, Nr. 38263/08, Georgien/Russland (II), Rn. 136 ff.; siehe dazu auch hier).
Ungeachtet dessen scheint der EGMR in seiner Entscheidung vom 1. März 2022 nun davon auszugehen, dass die gegenwärtigen russischen Militäroperationen dazu geeignet sind, die Konventionsrechte der Angehörigen der ukrainischen Zivilbevölkerung zu verletzen. Die Annahme, hiermit sei bereits ein Kurswechsel hinsichtlich der gerade erst abgesteckten Grenzen des Geltungsbereichs der Konvention eingeleitet, wäre sicherlich verfrüht. Gleichwohl weckt die Entscheidung Neugierde, ob und ggf. in welchem Umfang der EGMR sich im Hauptsacheverfahren nun möglicherweise doch mit Menschenrechtsverletzungen im Zuge von Kampfhandlungen befassen wird.
Eher ernüchternd ist – jedenfalls aus einer menschenrechtlichen Perspektive – der konkrete Inhalt der vom EGMR bezeichneten vorläufigen Maßnahmen. Zwar steht außer Frage, dass sämtliche der vom EGMR in seiner Entscheidung genannten Verbote elementare völkerrechtliche Verpflichtungen betreffen. Die Anmahnung ihrer Einhaltung ist daher uneingeschränkt zu begrüßen. Zugleich entsprechen die vom EGMR ausgesprochenen Unterlassenspflichten Russlands aber auch nur einem völkerrechtlichen „Minimalprogramm“. Sie gehen nicht über das hinaus, was nach dem humanitären Völkerrecht ohnehin gilt. Das Verbot des Angriffs von Zivilpersonen und ziviler Objekte ist in Art. 51/52 des Zusatzprotokolls vom 8. Juni 1977 zu den Genfer Abkommen vom 12. August 1949 über den Schutz der Opfer internationaler bewaffneter Konflikte (ZP I) verankert. Besonderen Schutz genießt nach dem humanitären Völkerrecht auch das vom EGMR hervorgehobene Sanitätspersonal (siehe etwa Art. 12 ZP I). Die Nichteinhaltung dieser Verpflichtungen kann nach Maßgabe des Römischen Statuts über den Internationalen Strafgerichtshof den Tatbestand von Kriegsverbrechen erfüllen (vgl. Art. 8 Abs. 2 Buchst. (b) (i), (ii) und (ix). Insofern mutet es sogar fast paradox an, wenn der EGMR die Einhaltung dieser Verbote als „vorläufige“ Maßnahme bezeichnet. Selbstredend gelten alle vom EGMR angeführten Verbote nicht nur „vorläufig“ (bis zu einer Entscheidung in der Hauptsache); sie sind in einem internationalen bewaffneten Konflikt vielmehr „unter allen Umständen einzuhalten“ (Art. 1 Abs. 1 ZP I).
Dies – und überhaupt die enge Anlehnung an die kriegsvölkerrechtlichen Kategorien – gibt Anlass, die Erwartungen an eine Hauptsacheentscheidung des EGMR zu Menschenrechtsverletzungen um Zuge von Kampfhandlungen nicht zu hoch zu hängen. Möglicherweise wird sich die Entscheidung vom 1. März 2022 als nicht mehr (aber auch nicht weniger) als ein Appell zur Einhaltung geltenden Regelungen des humanitären Völkerrechts erweisen, ohne dass dem in der Hauptsache eine Aufarbeitung der Kampfhandlungen am Maßstab der Konvention folgen wird. Dafür spricht nicht zuletzt auch der Umstand, dass in der Pressemitteilung des EGMR allein von „Zivilpersonen“ und „zivilen Objekten“ die Rede ist. Dabei handelt es sich um Begrifflichkeiten des humanitären Völkerrechts. Der Konvention sind sie fremd. Die Rechte und Freiheiten der Konvention gelten für alle Personen, die der Jurisdiktion einer Vertragspartei unterstehen (Art. 1 EMRK).
Die Gesetze schweigen nicht. Aber werden sie im Kriegslärm gehört? Dazu muss ihnen Gehör verschafft werden. Dem mag die Entscheidung vom 1. März 2022 allemal dienen – selbst wenn sich der EGMR damit „nur“ zum Anwalt des humanitären Völkerrechts machte.
Bringen die Gesetze die Waffen zum Schweigen? Dum spiro, spero.