08 July 2010

Karlsruhe erleichtert Verstaatlichung im Gesundheitssektor

Wenn es um Leben und Gesundheit geht, darf der Staat zwar nicht alles, aber doch eine ganze Menge.

Unter anderem darf er etwas, was er seit dem berühmten Apothekerurteil von 1958 eigentlich fast nie darf: Er darf Leuten ihren Beruf verbieten, und zwar auch aus Gründen, für die diese Leute überhaupt nichts können. Solche “objektiven Zulassungsvoraussetzungen”, wie das seit 1958 heißt, hat das BVerfG damals nur in extremen Ausnahmefällen zugelassen, zur Abwehr “nachweisbarer oder höchstwahrscheinlicher schwerer Gefahren für ein überragend wichtiges Gemeinschaftsgut” nämlich.

Die heute veröffentlichte Entscheidung des Ersten Senats zum Rettungswesen in Sachsen macht von dieser Möglichkeit, die in Art. 12 GG garantierte Berufswahlfreiheit quasi total in sich zusammenschrumpeln zu lassen, Gebrauch, und zwar in erstaunlich knapper und beiläufiger Weise.

Schlagkräftiger Katastrophenschutz

Der Freistaat Sachsen wollte nach der “Jahrhundertflut” 2005 an der Oder sein Katastrophenschutzwesen schlagkräftiger machen und setzte zu diesem Zweck ein Gesetz in Kraft, das den Rettungsdienst verstaatlichte: Notfallrettung und Krankentransporte dürfen von Privaten seit 2008 nur noch unter staatlicher Regie und aufgrund staatlicher Ausschreibungen betrieben werden. Und ausgeschrieben wird nur, soweit der Staat Bedarf dazu sieht – was einer objektiven Zulassungsvoraussetzung für den Beruf des Rettungswagenbetreibers gleichkommt.

Wie ist das jetzt mit Leben und Gesundheit? Wer gerät in Lebensgefahr, wer wird kränker, wenn neben den staatlichen auch noch private Rettungswägen herumfahren und Kranke transportieren?

Ich kenne mich nicht aus im sächsischen Rettungswesen. Ich weiß nicht, wie es da zugeht. Ich habe Wolf Haas’ “Komm, süßer Tod” gelesen und kann mir daher so manches an korrupten Zuständen vorstellen, aber das spielt in Österreich und ist obendrein ein Roman.

Was der Erste Senat weiß über das sächsische Rettungswesen, erfährt man nicht. Man erfährt nur, dass er die Frage der Bedrohungslage für die Sachsen der Einschätzungsprärogative des Staates überlässt und dabei keinen Grund sieht, dessen Einschätzung nicht in Ordnung zu finden:

Vielmehr steht außer Frage, dass ein ausreichender Schutz der Bevölkerung nicht gewährleistet ist, wenn Notfallpatienten nicht schnell lebensrettende Hilfe erhalten, oder wenn Kranke, Verletzte und andere Hilfsbedürftige nicht zügig unter fachgerechter Betreuung transportiert werden. Notwendig ist daher ein funktionierendes System des Rettungsdienstes. Dieses ist im Fall von Überkapazitäten, wie sie mit der bedarfsabhängigen Berufszulassung verhindert werden sollen, nicht sichergestellt; denn angesichts der hohen Investitions- und Vorhaltekosten wäre ein Konkurrenzkampf unter den Leistungserbringern zu befürchten, der die Funktionsfähigkeit des Rettungsdienstes in empfindlicher Weise stören würde. Vor diesem Hintergrund durfte der Gesetzgeber nicht nur von einer schweren Gefahr für Leben und Gesundheit der Bevölkerung ausgehen und sie als höchstwahrscheinlich einschätzen.

Zusammengefasst: Freie Berufswahl schafft Überkapazitäten. Überkapazitäten führen zu Konkurrenzkampf. Konkurrenzkampf stört das System. Systemstörung gefährdet Leben und Gesundheit. Also, kein Problem mit Art. 12 GG trotz Verstaatlichung eines erheblichen Teils des Gesundheitssektors.

Das scheint mir als gesundheitspolitisches Statement in diesen Tagen ganz schön lapidar.


SUGGESTED CITATION  Steinbeis, Maximilian: Karlsruhe erleichtert Verstaatlichung im Gesundheitssektor, VerfBlog, 2010/7/08, https://verfassungsblog.de/karlsruhe-erleichtert-verstaatlichung-im-gesundheitssektor/, DOI: 10.17176/20181008-132702-0.

6 Comments

  1. egal Thu 8 Jul 2010 at 13:10 - Reply

    Ähnlich entscheidet das BVerfG in Sachen Sozialversicherung auch ständig, also recht systemerhaltend.

    Der 2. Leitsatz macht die Drei-Stufen-Theorie dann auch noch einen Ticken komplexer, wenn zukünftig auch noch dem Gesetzgeber ein breiter Einschätzungsraum gegeben werden soll.

  2. Ulrich Thu 8 Jul 2010 at 18:08 - Reply

    Ich hab’s grad zum Abendbrot gelesen und einige interessante Stellen gefunden (z.B. zur betonten Angleichung an die EuGH-Rechtsprechung betr. die Verhinderung von “Rosinenpickerei” bei gemeinwirtschaftlichen Dienstleistungen). Eine Einschätzungsprärogative auf der 3. Stufe kündigte sich übrigens schon in BVerfGE 102, 197 an – dort sogar trotz einer vom Staat bewirkten “Verknappung des Marktes”. Ob man mehr über sächsische Verhältnisse wusste als man sagt, weiss ich nicht. Immerhin liest sich das Urteil in Aufbau und Begründung sehr hübsch und nachvollziehbar. Es wird wohl die Viertsemester im Kleinen ÖR-Schein (oder macht man den inzwischen schon im 2. Semester?) mehr beschäftigen als die Praktiker und Journalisten.

  3. NurSchnell Thu 8 Jul 2010 at 19:02 - Reply

    Ich steh auf den Schlauch: Was soll an Überkapazitäten denn schlecht sein?
    Redundanz, Verzichtbarkeit und mehr Paroulien als notwendig wären erhöhen doch eigentlich die Sicherheit, solange die einzelnen Krankenwagen sich nicht gegenseitig blockieren, sondern Patienten helfen.

  4. Max Steinbeis Thu 8 Jul 2010 at 19:56 - Reply

    i.A. von Dietrich Herrmann, der aus irgendeinem Grund an meinem Spamfilter gescheitert ist, wofür ich mich von Herzen entschuldige:

    ————————–

    Als (Wahl-) Sachse sei mir zuerst der Hinweis erlaubt, dass sich die für Sachsen (und nicht zuletzt für die Landeshauptstadt und die Landes-, Entschuldigung, Staatsregierung) so traumatische Flut das Hochwasser an der Elbe und ihren Nebenflüssen Müglitz, Weißeritz, Mulde im Jahr 2002 ereignete. Die Neiße, die die Grenze zwischen Sachsen und Polen bildet, mündet erst im Brandenburgischen in die Oder. Die berühmte Oderflut war 1997.

    Ebenfalls ohne allzu großer Experte im Rettungswesen und Katastrophenschutz zu sein, möchte ich mir erlauben, aus meinen Erfahrungen mit dem Hochwasser 2002 und dessen Bekämpfung durch staatlich und privat organisierte Einheiten zu berichten und daraus Schlüsse hinsichtlich dieser BVerfG-Entscheidung zu treffen.

    1. Charakteristisch für die Bekämpfung des Elbehochwassers war, dass die – ohne Zweifel in staatlicher Verantwortung stehende – VORSORGE und Warnung völlig unzureichend war. Frühzeitiges Handeln durch staatliche Stellen – u.a. gezieltes Ablassen von Stauseen, frühzeitige Warnungen an die Bevölkerung allein in Kenntnis der berüchtigten Vb-Wetterlagen – hätte vor allem an den Elbe-Nebenflüssen erheblichen Schaden verhindern können.

    2. Bei der Bekämpfung des Elbehochwassers waren die staatlichen Stellen vor allem durch ihr bürokratisches Denken, nicht zuletzt aber auch durch die Ereignisse selbst (das Dresdner Rathaus sowie die Gebäude einiger Landesbehörden waren selbst überschwemmt bzw. vom Strom abgeschnitten) beeinträchtigt. Es war nicht zuletzt das im wahrsten Sinne des Wortes “zupackende” Handeln zivilgesellschaftlicher Akteure, darunter aber auch Unternehmen, die noch größere Schäden verhinderten. Verwiesen sei knapp auf den Artikel im Wirtschaftsmagazin “Brandeins” http://www.brandeins.de/uploads/tx_brandeinsmagazine/11418_120diegute.pdf vom Herbst 2002.

    Der Staat, und das ist hier der Punkt, war hinsichtlich Katastrophenbekämpfung matt gesetzt, zupackende Akteure in staatlichen Diensten wie der legendäre Hamburger Innensenator Helmut Schmidt bei der Flutkatastrophe 1962 lassen sich nicht ins Gesetz schreiben, und demzufolge gab es solche Figuren 2002 – jedenfalls an den verantwortlichen Stellen des Staates – NICHT.

    3. Es ist nachvollziehbar, dass private Rettungs- und Katastrophendienste nicht zuletzt vor dem Hintergrund von Kommerz- und Qualitätsaspekten der öffentlichen (d.h. nicht unbedingt: staatlichen) Kontrolle bedürfen. Es ist jedoch eine Illusion zu glauben, allein ein Rettungs- und Katastrophenschutzwesen, das hierarchisch unter dem Dach des Staates aufgebaut ist, könne wirkungsvoll Katastrophen bekämpfen und im Rettungswesen wirksam sein. Dazu passt eine kleine Pressemeldung von heute, wo eine Rettungsleitstelle in Dresden einen Notruf abgewiesen hat, weil er aus Radebeul (Dresdens Nachbarstadt, zu der es keine sichtbare Siedlungsgrenze mehr gibt) kam.

    4. Die Gefahr, die ich sehe, liegt in der nicht zuletzt in Sachsen weit verbreiteten Illusion, der Staat könne und müsse all diese Dinge nicht nur regeln und regulieren, sondern auch monopolartig die exekutive Kontrolle darüber bei sich behalten (dieses Denken schimmert bei den in der Entscheidungsbegründung zusammengefassten Äußerungen der Sächs. Staatsregierung durch; Rn. 60).

    5. Ich habe Zweifel, dass sich der Erste Senat über diese Fragen einen Kopf gemacht hat.

  5. Michael Kostic Sun 11 Jul 2010 at 20:05 - Reply

    Ein Freund hat nun ein Kind weniger.

    Der Konkurrenzdruck (Zeit) motivierte den Rettungsfahrer (laut protokollierter Aussage) dazu, die Adresse doch nicht mehr anzufahren. Solch weite Fahrten rechneten sich dann doch nicht mehr.

    Öffentliche Kontrolle von Privaten? Sicher doch. Ich frage mich immer auf welchem Planeten Menschen leben die in religiöser (neuliberaler) Verblendung glauben das die Öffentlichkeit irgend etwas kontrollieren könnte!

    Dann schon lieber staatlich!

    (An die Besserwissenden: Erst einmal einen geliebten Menschen durch die Auswirkungen des Neoliberalismus verlieren. Dann kann man ja immer noch diesen propagieren. Aus tiefster inniger Ãœberzeugung!)

  6. […] Max Steinbeis vom Verfassungblog in einem Beitrag zu dieser Entscheidung darlegt, hält sich sich das Verfassungsgericht auch nicht mit der Einholung einer neutralen […]

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