This article belongs to the debate » Die Eurorettung zwischen Karlsruhe und Luxemburg
10 February 2014

Karlsruhe wagt den Schritt nach Luxemburg

Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat einen historischen Schritt getan: Die Abtrennung der Fragen zum Ankaufprogramm von Staatsanleihen (OMT) der Europäischen Zentralbank vom Verfahren zum Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und die Vorlage der Fragen zum OMT an den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH): Nie zuvor hat das Gericht eine Frage im Vorlageverfahren nach Art. 267 AEUV an den EuGH  gerichtet.

Schade allerdings wäre es, wenn der EuGH die Vorlage als unzulässig abweisen müsste, weil die Fragen hypothetischer Natur sind und das Vorlageverfahren nicht als Gutachtenverfahren oder sonst missbraucht werden darf. Während normalerweise die Gerichte dem EuGH die Frage nach der Gültigkeit von Rechtsakten der Unionsorgane vorgelegt wird, fragt das BVerfG hier, ob das Programm der EZB zum Ankauf von Staatsanleihen OMT unvereinbar mit den Unionsverträgen ist und macht sehr deutlich, dass es von der Ungültigkeit ausgeht.

1. Zur Zulässigkeit der Vorlage

Die Alternative zum Vorlagebeschluss an den EuGH wäre die Abweisung der Anträge in Bezug auf das OMT als unzulässig gewesen. Dafür votierten die Richterin Lübbe-Wolff und der Richter Gerhardt in ihren abweichenden Voten aus guten Gründen. Das BVerfG kann die das OMT betreffenden Anträge allerdings auch später noch als unzulässig abweisen, dann nämlich, wenn der EuGH Gelegenheit hatte, sich Vorlage des BVerfG zu äußern. Denn er könnte feststellen, dass es schon an einem rechtlich relevanten Verfahrensgegenstand fehlt: Ist denn die Ankündigung des EZB-Präsidenten vom 2. August 2012, im Fall der Gefahr eines Stillstands des europäischen Anleihenmarktes im angemessenen Umfang Staatsanleihen aufzukaufen, um auf diese Weise den Transmissionsmechanismus ihrer Geldpolitik in Gang zu halten, ein Rechtsakt, über dessen Gültigkeit entschieden werden kann? Am 2. August 2012 erklärte Draghi in einer Pressekonferenz:

The Governing Council, within its mandate to maintain price stability over the medium term and in observance of its independence in determining monetary policy, may undertake outright open market operations of a size adequate to reach its objective. In this context, the concerns of private investors about seniority will be addressed. Furthermore, the Governing Council may consider undertaking further non-standard monetary policy measures according to what is required to repair monetary policy transmission. Over the coming weeks, we will design the appropriate modalities for such policy measures.

Dies ist eine politische Ankündigung, gegen die Rechtsschutz nicht möglich ist. Allerdings wurden die angekündigten Modalitäten am 6. September 2012 vom Gouverneursrat der EZB festgelegt und in Form einer Pressemitteilung veröffentlicht. Ihr liegt tatsächlich ein Beschluss der EZB zugrunde, doch geht es darin um die Modalitäten möglicher Käufe in der Zukunft, die eine Richtung angeben, aber weder Rechte begründet noch Zeitpunkt oder Umfang solcher Maßnahmen angibt.

Das BVerfG ist sich darüber im Klaren, dass dieser Beschluss möglicherweise kein tauglicher Gegenstand einer Vorlage nach Art. 267 AEUV sein könnte. Gleichwohl möchte es wissen, ob er ggf. gültig ist. In vorbildlicher Klarheit wird dabei nahe gelegt zu prüfen, ob die darin vielleicht liegende Kompetenzüberschreitung wegen der Konditionalität, der Selektivität, der Parallelität zum ESM oder einer Umgehung des ESM anzunehmen wäre, oder etwa weil ein künftiger Anleihekauf das Verbot der monetären Haushaltsfinanzierung verletzen würde. Auch hierzu legt das Gericht detailliert dar, welche Aspekte es veranlassen, einen Verstoß gegen Art. 123 AEUV anzunehmen: Es könnte sein, dass bei Anleihekäufen auf dem Sekundärmarkt eine monetäre Haushaltsfinanzierung gegeben wäre, weil das Volumen zu hoch ist, weil zu kurzfristig nach der Emission der Anleihen auf dem Primärmarkt gekauft wird, weil sie alle bis zur Fälligkeit gehalten werden könnten, weil an die Bonität der Anleihen keine spezifischen Anforderungen gestellt werden und/oder weil bei einem Schuldenschnitt des betreffenden Mitgliedstaats die EZB nicht ausgenommen wäre.

Dass das Programm bislang nicht umgesetzt wurde, wird treffend festgestellt. Die Fragen sind also rein hypothetisch: Was wäre wenn. Natürlich sieht das Gericht dieses Problem und versteht seine Fragen als relevant für seine eigene Entscheidung im Sinne eines vorbeugenden Rechtsschutzes, dessen Voraussetzungen nach deutschem Recht gegeben seien (Rn. 34 f.). Und doch erscheint es schwierig für den EuGH, über Möglichkeiten eines künftigen Handelns oder die Gültigkeit der Ankündigung und Modalitäten von Entscheidungen zu befinden, die noch nicht bekannt sind. Dies wäre Gegenstand eines Gutachtens, für dessen Erstellung der EuGH indessen keine Zuständigkeit besitzt. Auf der anderen Seite wird der Gerichtshof berücksichtigen müssen, dass in der Tat eine Rechtskontrolle kaum zu erwarten ist, wenn die EZB Anleihen unter dem OMT tatsächlich kauft. Dass aber beim Kauf schon der ersten Anleihe die schwerwiegenden Auswirkungen für das Budgetrecht des Bundestages und damit für die Demokratie eintreten oder nicht mehr zu vermeiden seien, so das der effektive Rechtsschutz des Wahlbürgers zu spät käme, ist schwer erkennbar. Letztlich strebt das BVerfG ein auf die Zukunft gerichtetes Verbot eines Verhaltens an, über das allenfalls abstrakt geurteilt werden kann.

Eine weitere Erwägung, die das BVerfG zur Begründung der Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefrage anführt, ist dass das Handeln der EZB, sollte es kompetenzwidrig zu betrachten sein, dann aber auch ganz offensichtlich kompetenzwidrig wäre (Rn. 36 ff.). Der darin liegende Widerspruch, nämlich die Verbindung der Frage ob der Akt ungültig ist – als Frage – mit der Feststellung, dass er offensichtlich einen Verstoß gegen das Kompetenzgefüge darstellt, der zu einer „strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt“, löst sich dadurch auf, dass der Vorlage die feste Überzeugung zugrunde liegt, dass die Antwort nur „ja“ lauten kann. Und in diesem Fall hätten die Verfassungsbeschwerden und auch der Antrag im Organstreitverfahren vor dem BVerfG, so argumentiert es, Erfolg. Dem EuGH wird nicht verborgen bleiben, dass Richter Gerhardt in seinem abweichenden Votum gute Gründe nennt, aus denen deutlich wird, dass ein Kompetenzverstoß nicht nur nicht offensichtlich, sondern überhaupt fraglich ist (abw. Votum Gerhard, Rn. 17). Hinzu kommt das Angebot an den EuGH, das OMT vertragskonform so auszulegen, dass es nicht als ultra vires betrachtet werden muss. Kann dann der Vertragsverstoß aber „offensichtlich“ kompetenzwidrig sein?

Wichtiger aber ist eine Überlegung grundsätzlicher Natur: Das BVerfG legt Wert auf die Offensichtlichkeit, weil es dann von seiner Kompetenz ausgeht, den ultra-vires-Akt für in Deutschland unanwendbar zu erklären (Rn. 21-26, 36 ff.). Eine solche Kompetenz eines innerstaatlichen Gerichts ist indessen wegen der Pflichten der Mitgliedstaaten aus Art. 4 Abs. 3 EUV iVm. dem Vorrangprinzip und der Autonomie des Unionsrechts problematisch und wurde vom EuGH bislang nie bestätigt. Selbst wenn man eine Mitverantwortung nationaler Gerichte für die Wahrung des Verfassungsrechts der Union annimmt und damit die Autonomie nur als „embedded autonomy“ betrachtet (vgl. I. Pernice, WHI-Paper 08/2013, S. 9 ff.), käme dieses Verfahren doch einer Umgehung der Schranken gleich, die Art. 263 AEUV mit der Zuständigkeit des EuGH für Nichtigkeitsklagen und der sehr engen Begrenzung der Klagebefugnis Einzelner dem Rechtsschutz gegen Rechtsakte der Union setzt. Wenn ein nationales Gericht sich also durch eine großzügige Auslegung der innerstaatlichen Normen über die Zulässigkeit von Klagen genau diejenige Befugnis anmaßt, die nach den Verträgen dem EuGH zugewiesen ist, nämlich die Prüfung, ob ein Rechtsakt der Unionsorgane „wegen Unzuständigkeit“ (so der Wortlaut von Art. 263 Abs. 2 AEUV) für nichtig zu erklären ist, ist nicht zu erwarten, dass der EuGH ohne Weiteres darauf eingeht. Denn im Ausgangsrechtsstreit geht es insofern um nichts anderes als das, wofür es das Verfahren des Art. 263 AEUV gibt. Die für Klagen nach dieser Vorschrift zuständige Bundesregierung hat nicht geklagt. Jetzt setzt sich das BVerfG an ihre Stelle.

Der EuGH würde seine Verpflichtung zur Kooperation mit den nationalen Gerichten sehr großzügig auslegen, würde er die Vorlage in einem solchen Falle für zulässig erklären. Das BVerfG streckt ihm die Kooperationshand hin, wenn es freilich derart überzeugt davon ist, dass die EZB offensichtlich ultra vires gehandelt hat, wie „kooperativ“ wird es sein, wenn der EuGH diese Auffassung nicht teilt? Denn nur wenn es die andere Auffassung des EuGH hinzunehmen bereit ist, kann man die Vorlagefrage wirklich als entscheidungserheblich betrachten.

Im dritten Punkt begründet das BVerfG die Entscheidungserheblichkeit mit dem Streit im Ausgangsverfahren über die Handlungs- und Unterlassungspflichten deutscher Staatsorgane. Wäre das Handeln der EZB ein Kompetenzverstoß der vom BVerfG angenommenen Bedeutung, ergäben sich insofern aus der Integrationsverantwortung Unterlassungs- und Handlungspflichten der deutschen Verfassungsorgane Bundestag und Bundesregierung, die im Wege der Verfassungsbeschwerde bzw. eines Organstreitverfahrens auch durchsetzbar wären (Rn. 44 ff.). Diese dürften „eine offensichtliche und strukturell bedeutsame Usurpation von Hoheitsrechten durch Organe der Europäischen Union nicht einfach geschehen lassen“ (Rn. 46). Wie auch in den abweichenden Voten verdeutlicht wird, ist dies nicht nur neu, sondern auch höchst problematisch. Das Verfassungsgericht verschafft sich mit dieser Popularklage auf europakritische Politik eine weit reichende Kontrolle über das politische Handeln von Bundestag und Bundesregierung, die im Grundgesetz keine Basis findet. Der EuGH hat zwar über die interne Machtverteilung in Deutschland nicht zu befinden. Wenn es aber um die Entscheidungserheblichkeit einer Frage geht, die sich bei einem solchen Ausgangsstreit stellt, wäre doch Vorsicht geboten. Das BVerfG bleibt hinsichtlich der Frage, zur Vornahme welcher Handlungen die deutschen Organe ggf. konkret verpflichtet wären, wenn das OMT ultra vires wäre, erstaunlich vage: Der Bürger könne „verlangen, dass Bundestag und Bundesregierung sich aktiv mit der Frage auseinandersetzen, wie die Kompetenzordnung wiederhergestellt werden kann, und eine positive Entscheidung darüber herbeiführen, welche Wege dafür beschritten werden sollen“ (Rn. 53). Es ist schwer ersichtlich, wie eine solche Aussage zum Tenor eines Urteils des BVerfG werden soll.

Hilfsweise für den Fall, dass die Fragen zur Gültigkeit des OMT mangels vorlagefähigem Gegenstand oder mangels Entscheidungserheblichkeit unzulässig sein sollten, ersucht das BVerfG den EuGH auch noch allgemein um die Auslegung der Art. 119 und 127 Abs. 1 und 2 AEUV sowie Art. 17 ff. der ESZB-Satzung (Fragenkatalog Ziff. 2 und Rn. 101). Hier wird freilich erst recht deutlich, dass es um hypothetische Fragen geht. Das Gericht stellt die Frage  „im Hinblick auf angekündigte, in ihrem Inhalt aber bereits hinreichend bestimmte Ultra-vires-Akte“, gegen die vorbeugender Rechtsschutz gewährt würde. Da weder die konkreten Bedingungen, unter denen sie vielleicht getroffen werden, noch ihr Inhalt und Umfang sich im Voraus bestimmen lassen, fehlt es an ausreichenden Anhaltspunkten für eine spezifisch fallbezogene Auslegung, die dem BVerfG ausreichende Hinweise für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits liefern könnte.

Die Rechtsprechung des EuGH zeigt allerdings, dass er Vorlagefragen nationaler Gerichte zu Gültigkeit und Auslegung des Unionsrechts sehr großzügig behandelt und keine Mühe scheut, Gründe zu finden, warum sie doch zulässig sein könnten. Es ist daher schwer vorstellbar, dass diese erste Vorlage des BVerfG nach Luxemburg ohne Antwort zurückgewiesen wird. Schon die Feststellung, dass es sich bei der Ankündigung vom 2. August bzw. beim Beschluss vom 6. September 2012 nicht um einen Rechtsakt handelt, der einer Gültigkeitskontrolle oder Auslegung nach Art. 267 AEUV zugänglich ist, wäre nicht irrelevant für das Verfahren in Karlsruhe.

2. Entscheidung zur Sache

Wichtiger sind aber die Fragen in der Sache. Das Verfassungsgericht neigt, wie es sagt, zur Annahme eines „ultra-vires-Akts“, ja sogar zu der Auffassung, dass die Ankündigung des OMT ein „hinreichend qualifizierter Verstoß“ ist, ein offensichtlich kompetenzwidriges Handeln der Unionsgewalt, das – wie es im Honeywell-Urteil für erforderlich gefunden wurde – „im Kompetenzgefüge zu einer strukturell bedeutsamen Verschiebung zulasten der Mitgliedstaaten führt“. Entscheidend scheint aber für das Gericht zu sein, dass der „OMT-Beschluss als eigenständige wirtschaftspolitische Maßnahme zu qualifizieren ist“, für die die EZB keine Zuständigkeit hat. Auch wenn der OMT-Beschluss gegen Art. 123 Abs. 1 AEUV, das Verbot monetärer Haushaltsfinanzierung verstieße, läge darin für das Gericht eine „offensichtliche und strukturell bedeutsame Kompetenzüberschreitung“.

Diese Erwägung erscheint riskant, denn allein aus einem Verstoß gegen ein Verbot auf einen so drastischen Kompetenzverstoß zu schließen, könnte schnell dazu führen, dass das BVerfG danach auf jede Beschwerde Einzelner hin jede Rechtsverletzung durch europäische Organe überprüfen könnte. Denn jede Rechtsverletzung, wird sie so als Kompetenzüberschreitung verstanden, wäre potentiell auch ein Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 GG und damit einer Verfassungsbeschwerde zugänglich. Das kann das BVerfG nicht wollen.

Was die Frage betrifft, ob das OMT-Programm eine wirtschaftspolitische Maßnahme ist, stellt das BVerfG primär auf die Zielsetzung, dann auch auf die dafür gewählten Mittel und Effekte ab (Rn. 65). Die Gewährung von Finanzhilfen wäre, so wird das Pringle-Urteil des EuGH zitiert, eine Maßnahme der Wirtschaftspolitik (ebd.). Wirtschaftspolitik ist im Wesentlichen Sache der Mitgliedstaaten (Rn. 68). Das BVerfG stellt nach den entwickelten Kriterien fest, dass das OMT eine wirtschaftspolitische Maßnahme und vom Mandat der EZB nicht gedeckt ist (Rn. 69 ff.).

Für die Zielsetzung beruft sich das BVerfG auf Monatsberichte der EZB und auf eine Pressemitteilung aus einer Zeit, in der freilich von einem OMT noch keine Rede war (Rn. 78). Warum es die offizielle Begründung der EZB, dass das Ziel der Anleihekäufe, wenn sie denn stattfinden, der Schutz des Transmissionsmechanismus für die Währungspolitik sei, erst an letzter Stelle behandelt und hier die „Berufung auf eine ‚Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus’“ als irrelevant bezeichnet (Rn. 95 ff.), ist zumindest erstaunlich. Das Gericht argumentiert, dass mit jeder Schuldenkrise eines Mitgliedstaates eine Verschlechterung des Transmissionsmechanismus einhergehe; würde man dann immer schon den Kauf von Staatsanleihen nach dem OMT für zulässig halten, wäre das die Erlaubnis, dass die EZB „jede Verschlechterung der Bonität eines Euro-Mitgliedstaates durch den Kauf von Staatsanleihen dieses Staates beheben“ dürfe (Rn. 97). Gemeint ist das freilich sicher nicht.

Die Frage ist, was ggf. unter einer Störung des geldpolitischen Transmissionsmechanismus zu verstehen ist. Ganz offensichtlich war es der EZB im schriftlichen Verfahren und in der mündlichen Verhandlung im Juni 2013 nicht gelungen, einigen der Richterinnen und Richter des BVerfG deutlich zu machen, wie das System der Transmission funktioniert. Das OMT dient nicht der Stützung der Bonität des einen oder anderen Mitgliedstaats, sondern dazu, dass der Anleihenmarkt als solcher infolge einer Verunsicherung der Akteure nicht „einfriert“, also zum Stillstand kommt. Geldpolitik ist die Versorgung der Banken mit Geld zu einem höheren oder niedrigeren Zinssatz – je nachdem, was für eine stabile Währung nötig ist – damit diese das Geld an Industrie, Handel und Private mit entsprechenden Margen und Risikozuschlägen weiterverleihen können. Anleihen, welche Banken unmittelbar von Staaten erworben haben, nimmt die EZB im Normalfall gern als Sicherheiten für das den Banken geliehene Geld entgegen. Sie erwirbt diese Anleihen zum Marktpreis, der bei unsicheren Staatsanleihen weit unter dem Nominalwert, manchmal nur bei 30% dieses Wertes liegen kann. Steht aber der Anleihenmarkt still, so gibt es keinen Marktpreis für Anleihen und damit für die Sicherheiten, die Voraussetzung der Versorgung der Banken mit Geld sind. Dies zu verhüten ist Zweck des OMT. Soweit es nur hierfür zur Anwendung kommt, ist das Teil der Währungspolitik, nicht Wirtschaftspolitik.

Wenn es also zu Störungen des geldpolitischen Transmissionsmechanismus kommt, geht es nicht darum, etwas für die Bonität dieses oder jenes Landes zu tun, sondern einen Zusammenbruch des Währungssystems zu verhindern. In der Geschichte des Euro kam es nur einmal zu einer Lage, in der das Risiko einer solchen dramatischen Lage bestand. Die EZB hat im Rahmen ihres Securities Market Program (SMP) Anleihen der betroffenen Staaten angekauft. Sie konnte die Störung verhindern, der Markt kam wieder in Gang, aber die Spekulation gegen die schwachen Staaten ging weiter – bis Draghi das OMT ankündigte. Erst als es keine Obergrenze für den Ankauf von Staatsanleihen mehr gab, gab es nichts, wogegen spekuliert werden konnte.

Das BVerfG betrachtet die Bedingungen, dass der Ankauf von Staatsanleihen unter dem OMT nur selektiv erfolgen soll und zudem nur Anleihen von Staaten betreffen soll, die unter dem Rettungsschirm ESM stehen, als Indiz dafür, dass es nicht um währungs- sondern um wirtschaftspolitische Maßnahme gehe. Richtig ist, dass der normale Ankauf von Anleihen im System der Europäischen Zentralbanken ohne Differenzierung zwischen den Mitgliedstaaten verläuft. Das OMT aber ist ein Sonderprogramm, mit dem genannten besonderen Zweck. Das bedeutet notwendig, dass besondere Kriterien eingeführt, also selektiv gehandelt werden muss. Dabei ist die Bedingung, dass der betreffende Mitgliedstaat unter dem Rettungsschirm ESM steht und harten Auflagen der Restrukturierung unterliegt, wie es Art. 136 Abs. 3 AEUV jetzt auch fordert, weder auf die Unterstützung noch darauf gerichtet, den ESM „zu unterlaufen“ (Rn. 77-79). Sie ist vielmehr unabhängig davon ein Mindestmaß an Sicherheit für die EZB, dass die Anleihen eines Tages bei Fälligkeit auch zurückgezahlt werden. Das BVerfG sieht das Aufkaufen von Staatsanleihen als Verstoß gegen Art. 123 AEUV an, wenn damit ein erhöhtes Ausfallrisiko oder gar ein Schuldenschnitt verbunden ist (Rn. 89). Gerade das Risiko aber soll dadurch gemindert werden, dass Anleihen nur gekauft werden, wenn der betreffende Mitgliedstaat unter dem Rettungsschirm steht und die Erfüllung der dafür gestellten Auflagen gesichert ist.

So missversteht das BVerfG auch die Zielsetzung des OMT in Bezug auf Art. 123 AEUV. Es geht um Ankäufe auf dem Sekundärmarkt ausschließlich in einer besonderen Krisensituation, wenn der Anleihenmarkt zum Stillstand zu kommen droht. Dabei erfolgen die Käufe zum Marktpreis mit erheblichen Abschlägen. Die Zinsen, welche die EZB dann aber einnimmt, berechnen sich nach dem Nominalwert. Bei einem Schuldenschnitt von 50% wäre der Verlust absehbar, wenn der Abschlag beim Ankauf schon 50% war. Dass der Aufkauf die Preisbildung auf dem Markt beeinflusst und vor allem auch zum Erwerb von Anleihen auch des betreffenden Mitgliedstaats am Primärmarkt anregt, ist allerdings gerade der Zweck des Ankaufs, denn er stärkt das Vertrauen der Finanzmärkte und bringt den Anleihenmarkt wieder in Gang. Ist er in wieder in Gang, kann die EZB die Anleihen wieder abstoßen. Das OMT kann nicht deswegen als Verstoß gegen das Verbot des Art. 123 AEUV betrachtet werden, nur weil ein Kauf von Anleihen in Blick auf die zeitliche Nähe nach der Emission, den Umfang oder sonst missbräuchlich sein könnte. Anhaltspunkte dafür, dass es missbraucht wird oder darauf gerichtet wäre, sind nicht erkennbar.

Der EuGH hat jetzt die Gelegenheit, die Bedeutung des OMT zu klären und entsprechend über die Frage zu entscheiden, ob die EZB ihre Kompetenzen überschritten hat. Das BVerfG hat die Tür einer primärrechtskonformen Auslegung offen gelassen (Rn. 99 f.). Dazu gehört die Forderung, dass es die Konditionalität der Hilfsprogramme von EFSF und ESM nicht unterläuft, sondern im Gegenteil dessen unabdingbare Durchsetzung Voraussetzung und Sicherheit für den Ankauf der betreffenden Anleihen auf dem Sekundärmarkt versteht. Grenzen aber, wie diejenige, dass die Inkaufnahme eines Schuldenschnitts ausgeschlossen sein muss oder Staatsanleihen einzelner Mitgliedstaaten nicht in unbegrenzter Höhe aufgekauft werden, wie das BVerfG das fordert, würde die Idee und Wirkung des OMT zerstören, die gerade darin besteht, dass schon allein seine Ankündigung seine Durchführung überflüssig macht. Eines Ankauf von Staatsanleihen bedarf es nicht, weil mit der Ankündigung des notfalls unbegrenzten Erwerbs die Grenze wegfiel, gegen die spekuliert wurde.


SUGGESTED CITATION  Pernice, Ingolf: Karlsruhe wagt den Schritt nach Luxemburg, VerfBlog, 2014/2/10, https://verfassungsblog.de/karlsruhe-wagt-schritt-nach-luxemburg-2/, DOI: 10.17176/20181005-172226-0.

One Comment

  1. […] rennt hier offene Türen ein. Die Kritik am Beschluss ist bereits Legion (vgl. nur hier und hier). Heraus sticht die Frage, warum das BVerfG einen nicht abwägbaren Kern der Haushaltshoheit zum […]

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.




Other posts about this region:
Deutschland, Europa