Keine bösen Überraschungen
Na, womit soll ich Sie denn diese Woche in Angst und Unruhe versetzen? Es gäbe so viele Anlässe. Mal sehen: Donald Trump wird wegen sexuellem Missbrauch verurteilt, und das schmälert seine Chancen, ins Weiße Haus zurückzukehren, kein bisschen? Schrecklich, schrecklich. Der Zugang zu Asyl wird in Europa faktisch abgeschafft, die Ampel ist ganz vorn mit dabei, der Widerstand der Grünen ist quasi zero, und unterdessen ist das große Thema in Deutschland die Föderalismusfrage, an wen die Rechnung über die Kosten der Unterbringung derer zu adressieren ist, die es lebendig über die große Mauer geschafft haben? Unfassbar, absolut unfassbar. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen soll eine zweite Amtszeit bekommen, vom Spitzenkandidatenprozess reden nur noch Nostalgiker und Manfred Weber, wie überhaupt sich in Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft so etwas wie ein stummer Konsens abzuzeichnen beginnt, die Europäische Union in diesen schweren Zeiten mit Verfassungsfragen einfach nicht mehr zu behelligen? Geht ja gar nicht, echt mal.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ehrlich gesagt: Ich hab keine Lust mehr. Das macht doch depressiv. Mein Reflex wäre, das dann wiederum seinerseits zum Skandal zu machen, zum Meta-Skandal sozusagen, und diese Gewöhnung, diese verdrossene Lasst-mich-doch-einfach-nur-in-Ruhe-Indifferenz irgendwie durchzuschütteln und anzuprangern. Habe ich ja auch schon oft genug gemacht über die Jahre. Ist aber auch nur more of the same.
Meine Tochter Theresa hat mir kürzlich einen Essay der Literaturwissenschaftlerin und Queer-Theoretikerin Eve Kosofsky Sedgwick mit dem wunderbaren Titel Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re so Paranoid, You Probably Think This Essay is About You zu lesen gegeben. Seit Jahrzehnten, so Sedgwicks These, üben sich kritische Intellektuelle in einer Praxis, schlimme Dinge aufzudecken und anzuprangern und zu entlarven und zu kritisieren und zu demystifizieren und zu denaturalisieren, die sie paranoid nennt. Nicht weil sie wahnhaft ist, weil es diese schlimmen Dinge in Wahrheit gar nicht gäbe oder weil sie in Wahrheit gar nicht schlimm wären. Es gibt sie, und sie sind schlimm. Paranoid ist sie in anderem, nicht notwendig pathologischem Sinne: Ihr Kennzeichen ist, dass sie dem Imperativ unterliegt, dass es keine bösen Überraschungen geben darf. Die Möglichkeit einer bösen Überraschung wäre selber eine böse Überraschung. Schlimme Neuigkeiten muss man immer vorher schon gewusst haben. Die kritische Paranoiker*in will die schlimmen Dinge antizipieren, vorwegnehmen, ihnen zuvorkommen, sich sozusagen selber zu ihrer Autor*in machen, auf Kosten aller anderen möglichen Dinge. Sie entwirft dazu Theorien, die immer entferntere Dinge miteinander in Verbindung setzen, auf Kosten viel naheliegender und deskriptiverer Theorien, bis zu dem Punkt, wo von ihrer Theorie kaum mehr übrig ist als eine leere Tautologie: Sie ist auf alles anwendbar, ergo ist das, worauf sie anwendbar ist, alles. Und es ist immer ein negatives Gefühl, vorweggenommener Schmerz, um dessen Minimierung es in diesen Theorien geht, auf Kosten der Möglichkeit, auch mal positive Gefühle zu maximieren.
Die Praxis zu dieser Theorie ist das Offenlegen: Die kritische Paranoiker*in muss das, was sie über den antizipierten Schmerz weiß, unbedingt offenlegen, ans Licht bringen, exponieren, das Verborgene und Verhohlene laut aussprechen und öffentlich machen. Darin ist sie dem Berufsstand verwandt, dem ich angehöre: den Journalist*innen, dem paranoidesten Beruf, den man sich denken kann. Wir teilen den Glauben, dass man die schlimmen Dinge, den vorweggenommenen Schmerz nur offenlegen und an die Öffentlichkeit bringen muss, und dann wird alles irgendwie besser. Dabei ist das eigentlich nichts weniger als evident, dass das überhaupt stimmt. Was, wenn die schlimmen Dinge überhaupt nicht verborgen und verhohlen passieren, sondern ohnehin und gezielt und sehr erfolgreich von sich aus die Öffentlichkeit suchen, gar nicht genug davon bekommen, sich geradezu in ihr suhlen? An Viktor Orbán gibt es schon seit geraumer Zeit schlechthin nichts mehr zu entlarven, was man nicht schon lange wüsste, von Donald Trump ganz zu schweigen. Wie soll man enthüllen und anprangern, was ohnehin schon jeder weiß? Die schrecklichen Bilder von toten Geflüchteten hat jeder schon mal gesehen, was soll man da noch zeigen? Alle paar Monate enthüllt irgendein Investigativteam in monatelangem Bienenfleiß einen weiteren Beweis für die große Schurkerei dieser oder jener Mächtigen und Reichen, und anschließend geht alles exakt so weiter wie zuvor. Vielleicht ist es in diesem Enthüllungs- und Entlarvungs-Unterdruck, in dem wir leben, gar nicht so verwunderlich, wenn immer mehr Paranoiker*innen von den Reichsbürgern bis zu #pizzagate in tatsächlich pathologische Geisteszustände abtrudeln.
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Natürlich hat ein gewisses Maß an Paranoia trotzdem ihren Platz und ihren Wert, das will ich gar nicht abstreiten. Schlimme Dinge passieren die ganze Zeit, und man muss das aufschreiben und exponieren und öffentlich machen, was denn sonst. Wie uns der weise Kurt Cobain gelehrt hat: just because you’re paranoid don’t mean they’re not after you. In mir steckt die Paranoia ohnehin viel zu tief drin. Ich kriege die nie mehr raus aus meinem System, selbst wenn ich wollte. Ich muss eigentlich für jedes gelungene Editorial mindestens einen paranoiden Schub durchleben, in dem ich schlotternd und schaudernd antizipiere, wie ich mit meinen schick und schnell hingeschriebenen Gedanken die fürchterlichsten Überraschungen erlebe, wenn sie mir diese oder jene imaginierte Kritiker*in, die immer viel mehr gelesen und viel schärfer nachgedacht hat als ich, um die Ohren haut. Bleibt dieser Schub aus und ist von ganz alleine einfach alles super, was ich schreibe, dann macht mich das in höchstem Grade misstrauisch. Da muss doch was nicht stimmen. Stimmt auch meistens was nicht. Dann ist es meistens einfach noch nicht gut. (Und dann sitze ich wieder, so wie jetzt gerade, bis weit nach Mitternacht dran.)
Das Schädliche an der Paranoia ist aber, dass sie einen vergessen macht, dass noch etwas anderes gibt außer ihr. Die guten Überraschungen. Die naheliegenderen und deskriptiveren Theorien. Die positiven Gefühle. Tanzen und spielen, genau hinschauen und beschreiben, Freude maximieren: es ist gar nicht einzusehen, dass das unbedingt weniger potente Methoden sein sollen, um den schlimmen Dingen journalistisch entgegen zu treten, als das ständige paranoide Exponieren antizipierten Schmerzes. So lässt sich das Nirvana-Theorem mit Eve Sedgwick einfach umdrehen: Just because they’re after you don’t mean you gotta be paranoid.
Es geht dabei nicht um Complacency und Sonnenschein, im Gegenteil. Sedgwick beginnt ihren Essay mit einer Erinnerung an ein Gespräch mit der Soziologin Cindy Patton in den 1980er Jahren, mitten in der entsetzlichen ersten Dekade der AIDS-Epidemie, als Gerüchte aufkamen, dass der HIV-Virus durch eine Verschwörung oder ein außer Kontrolle geratenes Experiment des US-Militärs in die Welt gesetzt wurde, womöglich gar gezielt und mit voller Absicht. Könne durchaus sein, sagte Patton, aber sie finde diese Theorien schlicht nicht interessant. Dass das Leben von Schwarzen in den Augen der Vereinigten Staaten keinen Wert hat, dass Schwule und Drogensüchtige als verzichtbar, wenn nicht gar vernichtbar betrachtet werden, dass das Militär nach Wegen forscht, als feindlich betrachtete Nicht-Kombatanten zu töten, dass die Mächtigen die Aussicht auf katastrophische Ereignisse für Umwelt und Bevölkerung nicht weiter aus der Ruhe bringt – was wissen wir, wenn wir das wissen, was wir nicht sowieso schon längst wussten?
Es gibt auch noch einen anderen, keineswegs besonders sonnigen Affekt, der durch die paranoide Praxis unsichtbar gemacht wird, mir aber gerade in diesen Zeiten eine große Rolle zu spielen scheint: Trauer. Ich habe über diese Beobachtung (sie stammt wiederum von meiner Tochter Theresa) neulich schon in meinem Bericht aus Lützerath geschrieben: Viel stärker ausgeprägt als die paranoide Angst vor bösen Überraschungen, das Streben nach Minimierung antizipierter Schmerzen und die Wut, an ihr gehindert zu werden, scheint mir bei den jugendlichen Klima-Aktivist*innen die Trauer zu sein. Trauern tut man über etwas, das man gerade nicht schon immer wusste oder kraft der großen entlarvenden Theorie hätte wissen können und müssen. Sondern über etwas, das gerade nicht so hätte kommen müssen. Das auch ganz anders hätte kommen können.
Das könnte auch helfen, das Unverständnis zu verstehen, mit der meine Alterskohorte und die noch Älteren der Letzten Generation und ihren Protesten zumeist begegnet. Ihr müsst die Leute doch abholen, belehren wir 50-jährigen Paranoiker*innen die jugendlichen Klima-Aktivistis gerne. Welchen SUV-Fahrer wollt ihr denn damit überzeugen, dass ihr euch vor ihm auf den Asphalt klebt? Die Prämisse, dass der SUV-Fahrer, wenn er nur wüsste, was ihm jetzt noch verborgen ist, sich womöglich eines Besseren besänne, hat bereits etwas durch und durch Paranoides. Die jungen Leute kleben da aber nicht, um irgendwas aufzudecken oder anzuprangern, wie das die immer mehr in der Bedeutungslosigkeit verschwindenden Greenpeace-Leute früher immer so erfolgreich taten, sondern ganz unparanoid aus körperlichem, widerständigem, zähem und traurigem Protest. Dass wir nicht genug tun, um den Klimawandel und das Artensterben zu stoppen, ist nicht so sehr ein entlarvendes Indiz unserer unterdrückerischen Praktiken und durch eine geharnischte kritische Theorie zu erklären, zu entlarven und zu exponieren, sondern einfach nur noch sehr, sehr traurig.
Mein Geschlechts- und Altersgenosse Robert Habeck kann das alles überhaupt nicht verstehen und findet das höchst überflüssig und kontraproduktiv und beschwert sich unterdessen lauthals klagend über die “Kampagnen”, die von der Union und der konservativen Presse und den Fossil-Lobbyisten paranoiderweise gegen ihn und seinen Staatssekretär Patrick Graichen geritten werden. Ja, mein lieber Klimaschutzminister: War das ernsthaft eine böse Überraschung für Sie?
Die Woche auf dem Verfassungsblog
… zusammengefasst von PAULA SCHMIETA:
Die Aufgabe der EU-Grundrechteagentur (EUFRA) besteht darin, Daten über die Grundrechte zu erheben und zu analysieren, um so die Grundrechte zu schützen. In Ungarn jedoch arbeitet die FRA nun mit Institutionen zusammen, die vom Orbán-Regime kontrolliert werden – BALÁZS MAJTÉNYI, JÚLIA MINK & ZSOLT KÖRTVÉLYESI, allesamt ehemalige Berichterstatter*innen der FRA, schlagen daher Alarm.
Warum begehen die osteuropäischen Staaten das Ende des Zweiten Weltkriegs am 8. Mai und nicht am 9. Mai? DOVILĖ SAGATIENĖ & ANDRII NEKOLIAK ziehen eine Bilanz der rechtlichen Maßnahmen, die in Litauen und der Ukraine ergriffen wurden, um “Russlands […] mnemopolitischer Aggressivität” etwas entgegenzusetzen.
Die EU will Grenzverfahren bei der Asylbearbeitung verbindlich vorschreiben und den Ersteinreisestaaten zugleich erlauben davon abzuweichen, sobald eine “angemessene Kapazität” erreicht ist. VASILIKI APATZIDOU erklärt, warum dieser Versuch, Verantwortung gerechter zu verteilen, nicht funktionieren wird.
Der Doñana-Nationalpark in Spanien ist ein weiteres Beispiel für konkurrierende soziale und ökologische Interessen. TERESA M. NAVARRO untersucht, wie die Spannungen zwischen den lokalen Obstbauern und dem Umweltschutz politisch und verfassungsrechtlich zwischen den autonomen Gemeinschaften Spaniens und der Zentralregierung ausgetragen werden.
Kai Wegner, Berlins neuer Bürgermeister sprach im Zusammenhang mit den Demonstrationen zum 1. Mai in Berlin von einer „taktischen Meisterleistung“ der Polizei. EMMA SAMMET widerspricht, da bei einer solch „einhegenden Demobegleitung“ wenig von der Versammlungsfreiheit übrig bleibe.
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An der Bucerius Law School sind am Lehrstuhl für Internationales Recht, Europarecht und Öffentliches Recht (Prof. Dr. Mehrdad Payandeh) zum 1.7.2023 (oder später) zwei Stellen als wissenschaftliche Mitarbeiter*innen (m/w/d) zu besetzen (mit 20 Wochenstunden, befristet auf zwei Jahre mit Verlängerungsoption). Tätigkeitsschwerpunkte liegen im Völkerrecht, Verfassungsrecht und Antidiskriminierungsrecht.
Weiter Informationen finden Sie hier.
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Zehn Jahre nach dem tödlichen Einsturz einer Bekleidungsfabrik in Bangladesch wurde erstmals eine Klage nach dem Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz eingereicht. MARKUS KRAJEWSKI & SHUVRA DEY untersuchen die Klage und bewerten die Vorwürfe gegen Amazon und IKEA, dass sie ihre Sorgfaltspflichten nicht erfüllt hätten.
Vor 50 Jahren schuf der indische Supreme Court die basic structure doctrine, die Rechtssysteme weltweit beeinflusst hat. ANMOL JAIN gedenkt dieses Moments und erläutert die Bedeutung des – durch die BJP-Regierung angegriffenen – Grundsatzes für die indische Demokratie.
Was ist in Brasilien seit den Ausschreitungen in der Hauptstadt am 8. Januar geschehen? EMILIO PELUSO NEDER MEYER & THOMAS BUSTAMANTE berichten über die Entwicklungen in der Legislative, der Exekutive und der Judikative und meinen, dass der Weg zurück zu einer Normalität noch lang sei.
Am vergangenen Sonntag gewann die extreme Rechte Chiles die dortigen Verfassungsratswahlen. Angesichts der Aufgabe des Rats, eine neue Verfassung auszuarbeiten, erklärt RODRIGO KAUFMANN, was Verfassungspolitik in Chile so notwendig und zugleich so schwierig macht.
Ist der taiwanesische “Digital Intermediary Services Act” ein globaler Wegbereiter für eine demokratischere Plattform-Governance? KUAN-WEI CHEN & YOU-HAO LAI beleuchten den Gesetzesvorschlag und erörtern wie er die Beteiligung der Nutzer erleichtern und damit die Plattform-Governance verbessern kann.
Zuletzt: Unsere Blog-Debatte The Future of the European Security Architecture: A Debate Series zum Fall Ligue des Droit Humains und der PNR-Richtlinie begann diese Woche mit Beiträgen von CHRISTIAN THÖNNES, STEFAN SALOMON, ELSPETH GUILD & EVELIEN BROUWER, CHRISTIAN THÖNNES & NIOVI VAVOULA, JANNEKE GERARDS, DIDIER BIGO & STEFAN SALOMON, THORSTEN WETZLING, ELSPETH GUILD & TAMAS MOLNAR, AMANDA MUSCO EKLUND & MAGDALENA BREWCZYŃSKA, EVELIEN BROUWER, CHLOÉ BERTHÉLÉMY, CHRISTIAN THÖNNES & NIOVI VAVOULA und DANIEL MÜGGE.
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Soweit für diese Woche. Nächste Woche ist Feiertag, daher wird das Editorial pausieren. Ihnen alles Gute und bis zum nächsten Mal! Bitte versäumen Sie nicht zu spenden!
Ihr
Max Steinbeis
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Eine frühere Version dieses Editorials enthielt eine Fehlinformation bezüglich der strafrechtlichen (richtig ist: zivilrechtlichen) Verurteilung von Donald Trump, der korrigiert wurde.
“Es gäbe so viele Anlässe. Mal sehen: Donald Trump wird wegen sexuellem Missbrauch strafrechtlich verurteilt, und das schmälert seine Chancen, ins Weiße Haus zurückzukehren, kein bisschen? Schrecklich, schrecklich.”
Herr Trump wurde bekanntlich zivilrechtlich und nicht strafrechtlich verurteilt.
Sie haben Recht. Der Fehler ist korrigiert.