11 May 2023

Versammlungskontrolle und Versammlungsfreiheit

Warum der 1. Mai 2023 keine „taktische Meisterleistung“ der Polizei war

Der 1. Mai bietet jedes Jahr die Möglichkeit, auf dynamische Versammlungsgeschehen ausgerichtete polizeiliche Einsatzkonzepte wie unter dem Brennglas zu analysieren. Dabei hat sich in den letzten Jahren die Polizeitaktik der „Demobegleitung“ als Teil des sog. Deeskalationsprinzips durchgesetzt. In der Praxis zeichnet sich dieses Konzept durch eine starke polizeiliche Präsenz und frühzeitiges Einschreiten aus. In konkrete Maßnahmen übersetzt (und eindrücklich beispielsweise ersichtlich während der queer-feministischen “Take Back the Night”-Demo) bedeutete dies rund um den diesjährigen 1. Mai in Berlin, dass Demonstrationen von mehreren Reihen (Spalieren) von Polizist*innen in voller Montur begleitet wurden und dass speziell trainierte Beweissicherungs- und Festnahmeeinheiten (BFE) bereit standen und beim geringsten Anlass in die Demonstrationen intervenierten. Demorouten waren vollständig durch Polizeiautos abgeschirmt und das Tempo durchgängig durch die vorweg schreitenden Polizeieinheiten vorgegeben. Für Außenstehende waren in der Folge weder die Versammlungsteilnehmer*innen noch ihre politischen Forderungen ersichtlich. Nach innen wirkte das polizeiliche Vorgehen abschreckend, nach außen kriminalisierend. Die taktische Meisterleistung“ der Polizei (so der Regierende Bürgermeister Berlins in seiner Bilanz zum 1. Mai 2023) stellt sich so betrachtet als Einhegung und Kontrolle der Versammlungen dar.

In den letzten Jahren haben sich solche Formen der einhegenden Demobegleitung normalisiert und ausgeweitet. Entsprechende Einsatzkonzepte werden weithin akzeptiert und lediglich einzelne überschießende Maßnahmen kritisiert (beispielsweise hier). Doch mit Blick auf die Wirkungen des Einsatzkonzepts, insbesondere auf die Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit aus Art. 8 I GG, ist die Ausweitung jener Praxis hoch problematisch. Denn von der Versammlungsfreiheit bleibt wenig übrig, wenn faktisch die Polizei die Demonstration veranstaltet.

Protest Policing: das Widerständige kontrollierbar machen

Vorrangige, verfassungsrechtlich bestimmte Aufgabe der Polizei ist, das Versammlungsgrundrecht aus Art. 8 I GG zu schützen und durchzusetzen. Im Berliner Versammlungsfreiheitsgesetz heißt es gar, „die Durchführung einer nach Maßgabe dieses Gesetzes zulässigen Versammlung zu unterstützen“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 1 VersFG Berlin). Polizeitaktiken, wie sie am 1. Mai 2023 zu beobachten waren, stehen diesem Anspruch entgegen. Denn von öffentlicher Meinungskundgabe und politischem Ausdruck einer Versammlung bleibt wenig übrig, wenn sie hinter einem mehrreihigen Polizeispalier verschwindet. Die Versammlungsfreiheit wird nicht mehr verwirklicht, wenn die Polizei den Demonstrationszug so durch die Stadt geleitet, dass sich die Versammlungsteilnehmer*innen ohnmächtig fühlen und gar die Lust verlieren, zu protestieren. Die Konfliktlage zwischen widerständiger Versammlungsfreiheit und polizeilicher Versammlungskontrolle wird einseitig in Richtung Kontrolle aufgelöst.

Dies mag auch darin begründet liegen, dass eine große politische und polizeiliche Sorge möglichen Störungen und Gewalttätigkeiten gilt. Nicht ohne Zusammenhang wurde der diesjährige 1. Mai als friedlichster 1. Mai seit 1987 bezeichnet. Die Sorge vor Ausschreitungen beruht dabei meistens maßgeblich auf polizeilichen Informationen und Lageeinschätzungen. Diese tendieren jedoch dazu, insbesondere kapitalismus-kritische Positionen schnell unter einen Generalverdacht zu stellen. Einigkeit besteht zudem, lieber „auf Nummer sicher“ gehen zu wollen – zur Not zulasten der Versammlungsfreiheit. Doch andersherum sollten nicht im Namen der vermeintlichen Befriedung von Demonstrationen deren Ausdrucksmöglichkeiten von vornherein durch die Polizei bestimmt und begrenzt werden.

Während sich die rechtliche Diskussion meist – prozessual begründet – an einzelnen Polizeimaßnahmen aufhängt, deren Form sich skandalisieren oder deren Rechtswidrigkeit sich gerichtlich feststellen lässt, existiert eine parallele Auseinandersetzung unter dem Stichwort des Protest Policing. Mit dieser Perspektive, übersetzbar als die polizeiliche Behandlung und Kontrolle von Demonstrationen, wird der Blick geweitet auf die polizeilichen Einsatzkonzepte als solche, ihre Bestandteile, Entwicklung und insbesondere auch Folgen.

Offensive Deeskalation und Abschreckung als Eingriff

So hat die Polizei in den vergangenen Jahrzehnten verschiedene Einsatzkonzepte für Demonstrationen ausprobiert und weiterentwickelt. Entsprechend der wahrgenommenen „Gefahrenlage“ hat sich dabei als strategisches Ziel durchgesetzt, Gewalt in Versammlungskontexten möglichst frühzeitig zu unterbinden.1) Hierfür greift die Polizei auf ein ganzes Bündel an Maßnahmen zurück, zu denen etwa Kooperationsgespräche, die Entwicklung von Lagebildern oder (Vorab-)Begleitung der Versammlungen durch eigene Öffentlichkeitsarbeit gehören. Im Konfliktfall soll zwischen verschiedenen Gruppen der Versammlungsteilnehmer*innen differenziert werden – das polizeiliche Handeln also verhältnismäßig, zielgruppenorientiert und wohldosiert sein. Im öffentlichen und polizeilichen Sprachgebrauch firmieren diese Maßnahmen unter dem Überbegriff des Deeskalationsprinzips. Auch das Einsatzkonzept der Demobegleitung entspricht diesem Ansatz.

In der Versammlungspraxis stellt sich das Deeskalationsprinzip jedoch vor allem als eine Frage des Framings heraus. In der Realität sehen sich Versammlungsteilnehmer*innen einer hochgerüsteten, militarisierten Polizei gegenüber. Der schwarze Ganzkörperanzug samt Sturmhaube erzeugt den Eindruck einer „unmittelbar bevorstehenden körperlichen Auseinandersetzung“2). Wenngleich dies nicht beabsichtigt sein mag, sondern der Schutz der Polizeibeamt*innen bezweckt ist, wirkt dies auf die Versammlungsteilnehmer*innen einschüchternd und abschreckend. Daneben existiert eine ganze Reihe weiterer abschreckender Polizeimittel (besonders extrem: Maschinenpistolen und SEK-Einsatz auf Versammlungen, zum Tornado-Einsatz und allgemein der “Show of Force“ siehe hier), deren faktische Eingriffswirkungen durch eben diese Abschreckung anerkannt ist.3) Und tatsächlich soll Deeskalation in der Versammlungsrealität in erster Linie durch eine starke Präsenz erreicht werden. Dies umfasst auch offensives Handeln bei niedriger Eingriffsschwelle, wie frühes Einschreiten, Vorkontrollen, Spaliere und Teilausschlüsse. Weiter auf die Spitze getrieben äußert sich dies in den Auseinandersetzungen rund um die Aktionen der Letzten Generation. Hier zeigt sich, dass Meinungsäußerungen, Demonstrationen und ziviler Ungehorsam bereits in frühen Stadien als störende Elemente im demokratischen Diskurs wahrgenommen werden. Als Reaktion auf ausdrücklich friedliche Aktivist*innen wird über die Ausweitung der Präventivhaft fabuliert. So avanciert Gefängnis zur Lösung gesellschaftlicher Konflikte, die mittels des Versammlungsrechts ausgetragen werden. Insgesamt zeigt sich: die offensiven Maßnahmen verkehren das Deeskalationsprinzip de facto zu einem Prinzip der “deeskalativen Stärke”4). Dennoch ist es weiterhin bestimmendes Label der polizeilichen Rechtfertigung der Einsatztaktik.

Eingriff und Rechtfertigung durch Kriminalisierung von Protest

Wenig beachtet: „deeskalative“ Einhegung von Versammlungen kann im Zusammenhang mit einer pessimistischen Lageeinschätzung gleichsam einer self-fulfilling prophecy überhaupt erst zu den erwarteten Problemen führen – deren Lösung dann aber bereits gerechtfertigt erscheint.5) Nicht zu unterschätzen ist daher die präventive Kriminalisierung durch polizeiliche Lageeinschätzungen und Öffentlichkeitsarbeit, wie dieses Jahr beispielsweise die Warnungen vor einem gewaltbereiten “Anarcho Block” bei der abendlichen 1. Mai-Demonstration. Solche präventiv kriminalisierenden Framings sind geeignet, im Nachgang jegliches Vorgehen der Polizei zu rechtfertigen und standen in ihrer Drastik in keiner Relation zur Demonstration selbst: Die Versammlung wurde nun bereits zum dritten Mal von einem weniger autonom geprägten Bündnis organisiert, das dezidiert bemüht ist, der Polizei wenig Anlass zum Eingreifen zu bieten.

Doch nicht nur im Vorhinein werden seitens der Polizei bestimmte Szenarien heraufbeschworen. Bereits das Einsatzkonzept der Demobegleitung selbst ist in diesem Sinne problematisch, weil es die Versammlung nach außen hin kriminalisiert. Im Ergebnis kann dies Bürger*innen davon abhalten, an Versammlungen teilzunehmen und so die Versammlungsfreiheit beeinträchtigen. Dies funktioniert teilweise so verselbstständigt, dass es als Effekt gar nicht mehr hinterfragt wird. Wenn die Polizei ein Spalier bildet, dann wird sie das wohl begründet tun – so die Annahme. Dahinter können dann nur gefährliche Demonstrant*innen stecken, die eng begleitet durch die Polizei durch die Straßen geleitet werden müssen. Verstärkt wird dieses Gefühl bei den Außenstehenden dadurch, dass die politischen Inhalte der Versammlung sie nicht mehr erreichen. Es wird unklar, worum es überhaupt geht und ob sie sich vielleicht mit den verfolgten Zielen identifizieren. Bei den betroffenen Demonstrant*innen sorgt diese Polizeitaktik für den Verlust der Kontrolle über die eigene Versammlung und Frustration. Jeglicher eigener politischer Ausdruck, das Ziel der Demonstration, die Selbstermächtigung, sich auf die Straße zu begeben, wird zunichte gemacht.

Protest als Bewährungsprobe für die Versammlungsfreiheit

Polizeiliche Einsatztaktiken lassen sich in ihrer Gesamtheit juristisch teilweise schwer fassen und hängen in ihrer Rechtfertigung von polizeilichen Informationen ab. Während der Demonstration selbst haben die Versammlungsteilnehmer*innen wenig Handhabe gegen deeskalativ-offensives Vorgehen. Im Nachgang lässt sich der Ausgang der eng begleiteten Demonstration wahlweise als absehbar oder polizeitaktischer Erfolg erklären. Die Befriedung der Demonstration – auch zum Preis ihrer Unkenntlichmachung – gilt als Maßstab und Ziel der Polizeiarbeit. Dabei gerät aus dem Fokus, dass die Versammlungsfreiheit als demokratisches Element6) sich insbesondere in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung bewährt. Sie funktioniert durch die Offenlegung von widerstreitenden Meinungen, im Konflikt. Einhegende Polizeitaktiken, beschrieben vom Protest Policing, stehen dem entgegen. Denn sie sollen widerständige Elemente kontrollierbar machen.

Selbstverständlich können Eingriffe in die Versammlungsfreiheit gerechtfertigt sein. Dennoch ist der weitläufig akzeptierten Normalität der beschriebenen Einsatztaktik entgegenzutreten. Wenn Versammlungen neben ihrer freiheitssichernden auch eine demokratische Funktion zukommt und sie als “ein Stück ursprünglich-ungebändigter unmittelbarer Demokratie, das geeignet ist, den politischen Betrieb vor Erstarrung in geschäftiger Routine zu bewahren”7) weiterhin ihre stabilisierende Funktion verwirklichen soll, dann ist der Schutz auch ihrer Widerspenstigkeit elementar. Das Einsatzkonzept der Demobegleitung mag zwar aus einzeln betrachtet harmlosen Maßnahmen bestehen, muss jedoch bei einer Gesamtbetrachtung als schwerwiegender Eingriff in die Versammlungsfreiheit verstanden und diskutiert werden. Dabei sollten strenge Anforderungen an die sachlichen Grundlagen der Rechtfertigung gestellt werden und im Zweifel für eine ungebändigte Versammlungsfreiheit entschieden werden.

References

References
1 Winter, Protest policing und das Problem der Gewalt, Forschungsbericht 1998, S. 11 ff. Eine wichtige Referenz ist hierbei die PDV 100, die als VS-NfD allerdings der (wissenschaftlichen) Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.
2 Behrends, Polizei als lernende Organisation? Erkenntnisgewinne aus einer 70-jährigen Protestkultur für die heutige Polizei, in: Mecking (Hrsg.) Polizei und Protest in der Bundesrepublik Deutschland, S. 185 ff. (225).
3 Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG-Kommentar, Art. 8 Rn. 13; BVerfGE 65, 1 <43> – Volkszählung 1983; BVerfGE 140, 225 <228> – Rote Karte 2015; BVerwGE 160, 169 Rn. 31 – Tornado-Tiefflug 2018.
4 Winter, Protest policing und das Problem der Gewalt, Forschungsbericht 1998, S.  12 f.