Keine Waffenlieferungen in Krisengebiete?
Hinterfragung eines Grundsatzes deutscher Rüstungsexportpolitik
Die Ukraine sieht sich gegenwärtig einer massiven Bedrohung durch russische Streitkräfte an ihrer Grenze ausgesetzt und hat die Bundesregierung zum wiederholten Male um Unterstützung in Form von Waffenlieferungen gebeten. Insbesondere Kriegsschiffe zur Verteidigung der entlang der Küsten im Schwarzen und Asowschen Meer verlaufenden Grenzen zu Russland sowie Luftabwehrsysteme forderte der ukrainische Botschafter vor wenigen Tagen. Seither ist ein Streit darum entbrannt, ob derartige Lieferungen, insbesondere von „Defensivwaffen“, als Unterstützungsmaßnahme infrage kommen: Während einzelne Vertreter der FDP und der CDU solche Lieferungen befürworten, lehnen Bundeskanzler Scholz und Außenministerin Baerbock in Fortführung der Position der Vorgänger-Regierung dies ab.
Dabei berufen sie sich auf eine erstmals 1971 verschriftlichte Kabinettserklärung: die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“. Darin steht, dass Waffen grundsätzlich nur an Bündnispartner (damals NATO-Staaten, heute auch EU-Mitgliedstaaten sowie sog. gleichgestellte Drittstaaten, derzeit Australien, Japan, Neuseeland, Schweiz) geliefert sollen. Ansonsten sollen Rüstungsgüter nur in begründeten Ausnahmefällen und unter Beachtung des Grundsatzes exportiert werden, dass Lieferungen nicht in Länder genehmigt werden „(…), die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche droht, in denen ein Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen droht oder bestehende Spannungen und Konflikte durch den Export ausgelöst, aufrechterhalten oder verschärft würden“ (Politische Grundsätze III. Nr. 7). Bekräftigt wird dieser Grundsatz durch eine ganz ähnliche europäische Regelung: Nach Art. 2 III des Gemeinsamen Standpunkts 2008/944/GASP des Rates v. 8.12.2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern verweigern die EU-Mitgliedstaaten die Erteilung von Ausfuhrgenehmigungen für Militärgüter, „die im Endbestimmungsland bewaffnete Konflikte auslösen bzw. verlängern würden oder bestehende Spannungen oder Konflikte verschärfen würden.“
Dass Deutschland durch Waffenlieferungen nicht dazu beitragen will, Konflikte anzuheizen, ist ein auf den ersten Blick einleuchtendes Ziel, das in der deutschen, tendenziell militärskeptischen Öffentlichkeit überwiegend Zustimmung findet. Gleichwohl deckt die verfassungs- und auch die völkerrechtliche Perspektive auf diesen Grundsatz deutscher Rüstungsexportpolitik Wertungswidersprüche auf, die die Frage aufwerfen, aus welchen Gründen und mit welcher Zielsetzung Deutschland überhaupt Rüstungsgüter exportiert.
Ein schwer durchzuhaltender Grundsatz
Zunächst einmal wurden die bis heute in veränderter Form fortgeltenden „Politischen Grundsätze“ vor dem Hintergrund einer Konflikt- und Interessenkonstellation verabschiedet, die im Wesentlichen bis heute andauert: Auf der einen Seite ist es naheliegend, dass Deutschland als Exportvizeweltmeister mit starkem Hochtechnologie- und Maschinenbausektor technologisch avancierte Waffen produziert und exportiert. Gerade für einen aus historischen Gründen militärisch weitgehend unselbständigen Staat wie die Bundesrepublik sind Rüstungsexporte offenbar ein attraktives außen- und sicherheitspolitisches Instrument der Einflussnahme, das sich oft unterhalb des Radars öffentlicher und internationaler Aufmerksamkeit bewegt. Auf der anderen Seite steht eine ebenfalls aus historischen Gründen militärskeptische, teilweise pazifistische Öffentlichkeit, die seit Abschaffung des Wehrdienstes 2011 zu großen Teilen keinerlei Berührungspunkte zur Bundeswehr aufweist. Institutionell spiegelt sich in diesem Widerspruch die seit Jahrzehnten andauernde Auseinandersetzung über den richtigen Ort der Entscheidung über die Exporte: Während die Bundesregierung ein Interesse daran hat, die Entscheidungen im geheim tagenden Bundessicherheitsrat zu treffen, fordert die kritische Öffentlichkeit auch in Gestalt der LINKEN, Grünen, teilweise auch der FDP und der in dieser Frage gespaltenen SPD mehr Regulierung, Transparenz und parlamentarische Mitsprache der auf höchster Regierungsebene unter Geheimhaltung getroffenen Genehmigungsentscheidungen. In eklatantem Widerspruch steht die geltende institutionelle Lösung zum wehrverfassungsrechtlichen Parlamentsvorbehalt: Während die Entsendung von Soldaten in die Welt in kleinteiligen, auf ein Jahr befristeten Einzelfallentscheidungen des Bundestags ergeht, erfolgt die Entsendung von Rüstungsgütern durch geheime Entscheidungen der Bundesregierung ohne parlamentarische Mitsprache und gerichtliche Kontrolle.
Faktisch befindet sich Deutschland auf der Weltrangliste der Waffen exportierenden Staaten weit oben, derzeit auf Platz vier. Bei den Empfängerstaaten handelt es sich keineswegs nur um Staaten, die nicht in Konflikte verwickelt sind. Insbesondere Lieferungen an Staaten, die im Jemen-Konflikt involviert sind, haben in der Vergangenheit Kritik hervorgerufen. Zwischen 2001 und 2021 hat die Bundesrepublik Waffen an die afghanische Armee (die jetzt in die Hände der Taliban gefallen sind) und 2014 an die vom IS bedrohten kurdischen Peschmerga im Irak geliefert. Der Grundsatz, nicht in Spannungsgebiete zu liefern, wurde mithin in der Vergangenheit nicht immer konsequent eingehalten. Das ist kein Argument dafür, ihn über Bord zu werfen, macht es aber schwieriger zu rechtfertigen, der Ukraine Rüstungslieferungen jetzt zu verweigern.
Gewaltverbot und Rüstungsexport
Völkerrechtlich verstoßen Gewalteinsätze (wie der russische Angriff auf die Krim 2014, die andauernden Interventionen im Donbass und eine mögliche weitere bewaffnete Überschreitung der Grenze zur Ukraine) gegen das Gewaltverbot aus Art. 2 IV UN-Charta. Waffenlieferungen bzw. der Handel mit Waffen sind dagegen aus völkerrechtlicher Sicht zunächst einmal erlaubt: Die Regeln des Welthandelsrechts betreffen der Ausnahmevorschrift des Art. XXI b) ii) GATT zufolge nicht den Handel mit sicherheitsrelevanten Gütern. Der 2014 in Kraft getretene Vertrag über den Waffenhandel verpflichtet die Vertragsstaaten zur Ausfuhrkontrolle und stellt einige andere Prüfungskriterien auf, schweigt jedoch zur Frage der Lieferung in Krisengebiete. Möglicherweise aus gutem Grund: Völkerrechtlich steht allen Staaten schon aus Gründen des inneren Gewaltmonopols sowie des in Art. 51 UN-Charta garantierten Rechts auf Selbstverteidigung gegen Angriffe von außen das Recht zur Aufrüstung zu. Hierfür können sie Waffen auch im Ausland einkaufen und verkaufen. Wird ein Staat völkerrechtswidrig angegriffen, so darf er sich nicht nur – individuell oder im Rahmen von Bündnissen kollektiv – verteidigen, andere Staaten dürfen hierfür Verteidigungshilfe leisten, auch in Form von Unterstützungshandlungen wie Waffenlieferungen. Im Rahmen eines bewaffneten Konflikts an den Aggressor zu liefern, würde dagegen wohl als Unterstützungshandlung eines völkerrechtswidrigen Verhaltens Rechtsfolgen nach den Regeln der Staatenverantwortlichkeit auslösen; die Belieferung aufständischer oder oppositioneller Kräfte mit dem Ziel der Destabilisierung eines Regimes kann gegen das Gewalt- oder Interventionsverbot verstoßen.
Auch die Wertung des Grundgesetzes, Vorbereitungshandlungen für einen Angriffskrieg in Art. 26 I GG explizit zu verbieten, Streitkräfte primär „zur Verteidigung“ aufzustellen, Art. 87 a I GG, und den Besitz von Kriegswaffen in Art. 26 II GG unter ein grundsätzliches Verbot (mit Befreiungsvorbehalt) zu stellen, unterstützt diesen Schluss: Waffen sind im Wesentlichen zur Wahrung des Gewaltmonopols nach innen und zu Verteidigungszwecken nach außen da. Daher sollte auch der Handel mit Kriegswaffen diesem Zweck dienen – der Ermöglichung von Verteidigungshandlungen im Falle eines völkerrechtswidrigen bewaffneten Angriffs. Stellt die Bundesregierung nun eine (keine Rechtsqualität genießende und nicht immer konsequent eingehaltene) Selbstverpflichtung auf, nicht in Spannungsgebiete zu liefern, so schafft dies einen Wertungswiderspruch zu der Zielsetzung, Kriegswaffen zu Verteidigungszwecken zu produzieren und zu handeln. Dieser Widerspruch wird in den Politischen Grundsätzen zwar ein Stück weit entschärft, indem am Ende des Art. III.7. hinzugefügt wird: „Lieferungen an Länder, die sich in bewaffneten äußeren Konflikten befinden oder bei denen eine Gefahr für den Ausbruch solcher Konflikte besteht, scheiden deshalb grundsätzlich aus, sofern nicht ein Fall des Artikels 51 der VN-Charta vorliegt.“ Aufgehoben wird er damit jedoch nicht.
Selbstverständlich ist kein Staat verpflichtet, einem anderen Staat Waffen zu verkaufen. Gleichwohl stellt der Wertungswiderspruch den Grundsatz, nicht in Spannungsgebiete zu liefern, in Frage. Zudem wirft er die Frage auf, zu welchem Zweck wir Waffen in alle Weltregionen liefern – wenn nicht, um Staaten damit zur Verteidigung zu ermächtigen, wenn sie sich einer akuten Bedrohungslage ausgesetzt sehen. Dies gilt umso mehr, wenn wir einer Bedrohungslage rhetorisch, mithilfe von Sanktionen und möglicherweise auch im Rahmen der NATO mit Waffengewalt entgegentreten wollen. Auch die auf dem Gebiet der Rüstungsexportpolitik noch am wenigsten umstrittene Grundsatzentscheidung, unsere verbündeten EU- und NATO-Partner grundsätzlich zu beliefern, folgt dieser Überlegung: Diesen Staaten haben wir in Art. 5 NATO und Art. 42 VII EUV Verteidigungshilfe zugesagt, weswegen es folgerichtig ist, zu ihrer Verteidigung schon unterhalb der Schwelle eines bewaffneten Angriffs durch Waffenlieferungen beizutragen. Für ein konzertiertes und waffentechnisch inter-operables Verteidigungsszenario ist die Errichtung gemeinsamer oder jedenfalls koordinierter und gepoolter Systeme sinnvoll. Die Grundsatzentscheidung für Exporte in unsere Partnerstaaten folgt damit ebenfalls einer Verteidigungslogik.
All die anderen Gründe und Motivlagen, die in Exportentscheidungen hineinspielen – Allianzenbildung, internationale Einflussnahme, Schaffung einer do ut des-Situation im Gegenzug für andere Vorteilsgewährungen, beschäftigungs- und industriepolitische Gründe und vieles mehr – stellen sich dagegen jedenfalls aus völkerrechtlicher Sicht weniger eindeutig dar. Ihr Erfolg ist auch schwerer zu bemessen. Wie gesagt: Es gibt keine Pflicht zur Waffenlieferung, weder in einen EU-, NATO- oder Drittstaat. Gleichwohl erscheint es vor dem Hintergrund der allgemein anerkannten Erlaubnis, zu Verteidigungszwecken zu rüsten, sinnwidrig, Rüstungsexporte gerade dann zu verbieten, wenn ein Einsatz zu Verteidigungszwecken wahrscheinlicher wird, weil ein Konflikt sich zuspitzt. Dies könnte allenfalls dann überzeugen, wenn es in jedem Fall dazu beitragen würde, Spannungslagen abzubauen, keine Waffen in Krisengebiete zu liefern. Gerade in Fällen großer militärischer Asymmetrie, wie sie im Moment zwischen dem russischen und dem ukrainischen Militär besteht, können Waffenlieferungen jedoch durchaus zur Stabilisierung beitragen. Eine militärisch gestärkte Ukraine könnte die Kosten eines Angriffs für Russland maßgeblich erhöhen, ohne selbst in die Lage versetzt zu werden, offensiv zu agieren.
Warum überhaupt Rüstungsgüter exportieren?
Das Nein zu Waffenlieferungen an die Ukraine wirft also grundsätzlich die Frage auf, wozu die Bundesrepublik eigentlich Waffen in großem Umfang exportiert. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Bundesrepublik Rüstungsgüter am liebsten exportieren würde, damit die gelieferten Leopard-Panzer oder Patrouillenboote im Empfängerstaat in der Garage stehen bzw. im Hafen lagern: Finanziell wollen wir von den Exporten profitieren, aber sich über die mit den Exporten möglicherweise verfolgten Ziele zu verständigen ist schwierig, politisch wenig opportun und wird daher meist vermieden. Umso begrüßenswerter ist es, dass sich die Ampelregierung im Koalitionsvertrag zweierlei vorgenommen hat: Auf einer allgemeinen Ebene hat sie sich zum Ziel gesetzt, binnen eines Jahres – erstmalig in der Geschichte der Bundesregierung – eine nationale Sicherheitsstrategie zu entwickeln (S. 145). Darüber hinaus hat sie den Erlass eines Rüstungsexportgesetzes angekündigt (S. 146). Es ist zu hoffen, dass im Zuge beider Projekte eine öffentliche Verständigung auch über die Frage erreicht wird, in welche Länder zu welchen Zwecken Waffen geliefert werden sollen. Dies würde nicht nur die Rechtssicherheit erhöhen, sondern auch die Transparenz von Exportentscheidungen, ihre parlamentarische und möglicherweise auch gerichtliche Kontrolle sowie die Redlichkeit und Kohärenz gegenüber Empfängerstaaten wie der Ukraine.
Auch mit Blick auf die außen-, sicherheits- und verteidigungspolitische Entwicklung der Europäischen Union (die bereits seit 2003 über eine außen- und sicherheitspolitische Strategie verfügt) wäre die Herstellung von mehr politischer Klarheit und mehr politischem commitment in rüstungs(export)politischen Fragen wünschenswert. Die EU versucht in den letzten Jahren im Rahmen von europäischer Verteidigungsunion, PESCO, der neuen Generaldirektion Defence and Space und mittels weiterer Instrumente und Projekte, eine größere Einigkeit und Schlagkraft in sicherheits- und verteidigungspolitischen Fragen herzustellen. Ohne gemeinsame Zielsetzung und Strategie werden Deutschland und die EU als Ganze sich angesichts zahlreicher internationaler Herausforderungen und Konflikte nicht positionieren und wirksam agieren können. Eine Verständigung über innerdeutsche Befindlichkeiten, Sensibilitäten, rote Linien und eine allgemeine Sicherheitsstrategie wäre hierfür eine gute Voraussetzung.