05 March 2020

Kinderrechte ins Grundgesetz – Potenzial für eine menschen­rechtliche Erfolgsgeschichte

Bundesinnenminister Seehofer hat sich kürzlich zwar dafür ausgesprochen, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, den Entwurf aus dem BMJV aber als „ein bisschen zu detailliert und zu weitgehend“ bezeichnet. Aktuell hat eine Petition an den Bundestag gegen die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz das erforderliche Quorum von 50.000 Mitzeichnungen erreicht. Die Bedenken der Kritiker lassen sich jedoch leicht ausräumen, tatsächlich stärken Kinderrechte im Grundgesetz auch die Rechte der Eltern. Zudem würde dieser Schritt auch Deutschlands Bindung an internationale kinderrechtliche Standards wirksam stärken.

Im Koalitionsvertrag haben sich die Regierungsparteien darauf verständigt, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern (Rn. 801 ff.). Die dazu eingesetzte Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat ihren Bericht im Oktober 2019 veröffentlicht, und seit Ende November existiert ein erster Referentenentwurf aus dem BMJV, der zwar noch nicht formal, indes schon seit langem medial öffentlich ist. Der Entwurf zielt auf eine Einfügung eines Absatzes 1a in Artikel 6 GG – und ist bereits vielfach diskutiert worden (im Verfassungsblog hier und hier, in einer Ausarbeitung des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestages wie auch in einer Stellungnahme des Deutschen Instituts für Menschenrechte).

Harmonisierung mit internationalen kinderrechtlichen Standards

Skeptiker sehen keine verfassungsrechtliche Schutzlücke, da Kinder zweifellos Träger_innen von Grundrechten sind. Das ganze Vorhaben wird deshalb häufig als reine Symbolpolitik abgetan. Sie verweisen dabei auf die Rechtsprechung des BVerfG, was durchaus seine Berechtigung hat – indes muss auch die kritische Frage gestellt werden: Darf man darauf vertrauen, dass diese Auslegungen des BVerfG gemeinhin bekannt sind? Gesetze wie Gerichtsentscheidungen in Deutschland dokumentieren aus Sicht der Monitoring-Stelle UN-Kinderrechtskonvention, dass die Rechtsprechung des BVerfG über die Rechte des Kindes bei relevanten staatlichen Stellen entweder nicht bekannt ist – oder mitunter ignoriert wird.

Auch wenn man annehmen würde, dass die Rechtsprechung des BVerfG gemeinhin bekannt ist: Bei der Aufnahme von Kinderrechten im Grundgesetz geht es nicht nur darum, die etablierte Rechtsprechung des BVerfG nun auch im positiven Verfassungsrecht zu verankern. Es geht vielmehr auch darum, die zentralen Prinzipien der UN-Kinderrechtskonvention im Grundgesetz niederzulegen und eine sachliche Kongruenz im menschenrechtlichen Mehrebenensystem zu wahren (so auch die Empfehlung des UN-Ausschusses für die Rechte des Kindes, Rn. 10).

Dabei muss besondere Sorgfalt angewandt werden, denn die bestehenden internationalen Standards sollten durch eine Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz nicht abgesenkt werden. Ob ein treaty override durch den Gesetzgeber auch bei Menschenrechtsverträgen möglich ist, ist – insbesondere im Lichte des Art. 1 Abs. 2 GG – völlig zu Recht umstritten; bei einem treaty override durch den verfassungsändernden Gesetzgeber greifen diese Bedenken jedoch nicht mehr. In diesem Lichte ist es bei dem Blick auf Entwurf aus dem BMJV wichtig, sich vor Augen zu halten, dass es einen signifikanten Qualitätsunterschied zwischen einer vorrangigen Berücksichtigung des Kindeswohls i.S.d. Art 3 Abs. 1 UN-KRK und einer angemessenen Berücksichtigung des Kindeswohls, von dem im Entwurf des BMJV die Rede ist, gibt. Eine vorrangige Berücksichtigung verschiebt den Abwägungsmaßstab zugunsten von Kindern – zu bedenken ist an dieser Stelle aber, dass die Rechte von Kindern abwägungsfähig bleiben. Einen absoluten Vorrang gibt es insofern nicht, anders als Kritiker es vielfach dramatisierend darstellen. Eine angemessene Berücksichtigung hingegen ist eine verfassungsrechtlich leere Formulierung, weil jede grundrechtliche Position bei Abwägungen angemessen zu berücksichtigen ist. Wer mit der Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz die Rechtsposition von Kindern stärken will, darf keinesfalls den bestehenden besonderen Abwägungsmaßstab zur Disposition stellen.

Das gilt erst recht vor dem Hintergrund der Prämisse, die das BVerfG kürzlich in der Entscheidung zum Recht auf Vergessen I aufgestellt hat: Die Anwendung der Grundrechte des Grundgesetzes gewährleistet das  Schutzniveau der GRC. Diese Vermutung würde massiv entwertet, wenn der verfassungsändernde Gesetzgeber sich nicht uneingeschränkt an den Standards der UN-Kinderrechtskonvention orientiert – denn Art. 24 GRC ist den Schlüsselnormen der UN-Kinderrechtskonvention nachgebildet (S. 25).

Das Beteiligungsrecht von Kindern als verfassungsrechtliches Novum

Auch wenn der Begriff nicht in der UN-Kinderrechtskonvention auftaucht, wird Art. 12 UN-KRK unlängst als „Recht auf Beteiligung“ rezipiert. Es ist eine der Schlüsselnormen der UN-Kinderrechtskonvention. In ihr steckt das Recht eines Kindes auf Gehör und Berücksichtigung seiner Ansicht. Und es scheint gerade jenes Beteiligungsrecht zu sein, welches Skeptikern so viel Sorge bereitet. Sie tragen oft vor, ein Äquivalent zu Art. 12 UN-KRK brauche es nicht im Grundgesetz, weil es bereits Art. 103 GG geben würde. Dabei verkennen sie, dass das Beteiligungsrecht aus Art. 12 UN-KRK sich keinesfalls nur auf das gerichtliche Verfahren bezieht, sondern auf sämtliches staatliches Handeln. Auch Art. 24 GRC verwendet diesen weiten Anwendungsbereich.

Häufig steht die Frage im Raum, in welchen konkreten Fällen ein solch weites Beteiligungsrecht denn beispielsweise greife – einfacher zu beantworten wäre wohl eher die Frage, in welchen Fällen Art. 12 UN-KRK nicht greift (keine Auswirkung hat diese Norm etwa auf das Wahlrecht – auch diese Sorge steht völlig unbegründet im Raum). Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes hat als Anwendungsbeispiele etwa Entscheidungen im schulischen Raum bzw. in sonstigen (frühkindlichen) Bildungseinrichtungen, die Aufstellung von Schutzkonzepten und Präventionsstrategien in Einrichtungen, die von Kindern besucht werden, oder die Inanspruchnahme von Leistungen der Gesundheitsversorgung benannt.

Dieses Beteiligungsrecht entfaltet also seine besondere Bedeutung gerade bei der Ermittlung und Bestimmung des Kindeswohls – es ist hierfür schlicht notwendige Voraussetzung, und wer die besondere Bedeutung des Kindeswohls im Grundgesetz verankern will, kommt um nicht darum herum, gleichzeitig ein Beteiligungsrecht festzuschreiben. Auch diese Lerngeschichte findet sich schon in Art. 24 GRC, und der verfassungsändernde Gesetzgeber sollte sich dem nicht verschließen.

Dass die UN-Kinderrechtskonvention Schutz, Förder- und Beteiligungsrechte garantiert, ist in der politischen wie auch in der akademischen Debatte längst angekommen. Man muss jedoch die Interdependenz dieser drei Dimensionen im Blick behalten, insbesondere wie Beteiligung und Schutz zusammenwirken: Die Beteiligung von Kindern – ihnen also die Gelegenheit zum Gehör zu geben und sich mit ihren Ansichten auseinanderzusetzen – ist auch eines der wirksamsten Instrumente des Kinderschutzes. Dies setzt freilich voraus, dass gewisse kindgerechte Standards bei der Beteiligung eingehalten werden.

Das Grundgesetz kennt bisher kein Äquivalent zu Art. 12 UN-KRK, und das BVerfG hat in seiner Rechtsprechung ein solches Beteiligungsrecht von Kindern, welches nicht nur in unmittelbaren Verfahrenskontexten Anwendung findet, auch noch nicht konstruiert. Wird künftig ein Äquivalent zu Art. 12 Abs. 1 UN-KRK im Grundgesetz verankert, so wird dies die Ausbildung und Praxis aller Berufsfelder, die mit Kindern zusammenarbeiten, maßgeblich prägen. Zwar wird durch Art. 12 Abs. 1 UN-KRK bereits jetzt ein Beteiligungsrecht von Kindern rechtsverbindlich statuiert – diese formaljuristische Einordnung ist aber ohne Mehrwert, solange dieses Recht in der Praxis schlicht weitgehend ignoriert wird.

Die kritischen Anmerkungen des Bundesinnenministers dürften gerade auch in Richtung Beteiligungsrecht gehen. Der Einwand, die neue Regelung im Grundgesetz dürfe nicht zu detailreich sein, ist jedoch nicht durchschlagend – Art. 24 GRC zeigt schließlich, dass auch eine textlich schlanke Formulierung möglich ist, die im vollen Einklang mit der UN-Kinderrechtskonvention steht. Möglicherweise steuern fiskalische Erwägungen diese ablehnende Haltung – hier ist indes aber zu berücksichtigen, dass ein Beteiligungsrecht im Grundgesetz keine neuen Verpflichtungen begründen würde, sondern nur bereits bestehende verbindliche menschenrechtliche Verpflichtungen, die in Teilen noch nicht umfassend umgesetzt wurden, mit grundgesetzlichem Rang bekräftigen würde.

Kinderrechte im Grundgesetz stärken auch die Elternrechte

Das bestehende Eltern-Kind-Verhältnis ist in Deutschland wohl austariert – und wird nicht nur durch Art. 6 GG, sondern ebenso auch durch Art. 5 UN-KRK garantiert. Ängste, wie sie auch in der genannten Petition zum Ausdruck kommen, beruhen auf der Annahme, dass der Staat durch die Verankerung von Kinderrechten im Grundgesetz neue Befugnisse bekommen könnte, um in die elterliche Erziehung der Kinder einzugreifen. Diese Annahme verkennt, dass es neben dem Eltern-Kind-Verhältnis auch noch ein Kind-Staat-Verhältnis gibt, welches durch eine Grundgesetzänderung betroffen wäre. In diesem Verhältnis stehen die Eltern auf der Seite ihres Kindes, nicht auf der Seite des Staates. Die Eltern profitieren in diesem Verhältnis deshalb davon, wenn die Rechte ihrer Kinder gestärkt werden. Wer zu dieser Einsicht nicht bereit ist, dem bietet sich noch ein anderer Ausweg als das grundsätzliche Vorhaben, Kinderrechte im Grundgesetz zu verankern, zu diskreditieren: Die Gesetzesbegründung. Denn naturgemäß begrenzt der gesetzgeberische Wille den Spielraum für Auslegungen – und dieser ist nirgends besser zu dokumentieren als in der Gesetzesbegründung. Hält die Gesetzesbegründung explizit fest, dass das bestehende Eltern-Kind-Verhältnis nicht berührt werden soll, würde das den Angst-Szenarien (wie etwa eine Kita-Pflicht) jegliche Grundlage entziehen.

Wünschenswert für den Fortgang der Debatte wäre es, schnell das parlamentarische Verfahren einzuleiten. Unverzichtbar hierfür ist eine fachliche Ehrlichkeit, die lösungsorientiert dazu beiträgt, die Rechte von Kindern im Grundgesetz zu verankern und sie so wirksam zu stärken. Eine solche Umsetzung ist möglich, auch der europäische Gesetzgeber ist diesen zukunftsweisenden Schritt längst gegangen.


SUGGESTED CITATION  Gerbig, Stephan: Kinderrechte ins Grundgesetz – Potenzial für eine menschen­rechtliche Erfolgsgeschichte, VerfBlog, 2020/3/05, https://verfassungsblog.de/kinderrechte-ins-grundgesetz-potenzial-fuer-eine-menschenrechtliche-erfolgsgeschichte/, DOI: 10.17176/20200305-214640-0.

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