13 June 2018
Klar und stringent: Beamte dürfen nicht streiken – acht Thesen zur gestrigen Entscheidung des BVerfG
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat eine Entscheidung von großer Tragweite für das Berufsbeamtentum in Deutschland getroffen: Es hat das Streikverbot für Beamte bestätigt – ausnahmslos und für alle Beamten.
- Das Streikverbot für Beamte zählte bislang zu den unbestrittenen Grundsätzen des deutschen Beamten(verfassungs)rechts. Zwar war man sich nicht so ganz sicher, ob es sich wirklich um einen hergebrachten Grundsatz des Berufsbeamtentums nach Art. 33 Abs. 5 GG handelt. Jedoch war ein Streikrecht für Beamte sowohl rechtlich als auch politisch ein Tabu. Dass Beamte nicht streiken dürfen, erschien lange Zeit als so selbstverständlich, dass man es nicht einmal für nötig empfand, das Streikverbot in den Beamtengesetzen zu verankern. Es stand fest: Jedem Beamten ist es unbenommen, Mitglied in Gewerkschaften und Berufsverbänden zu sein (vgl. § 52 BeamtStG) und sich darin auch aktiv zu engagieren. Das Mittel des Arbeitskampfes steht ihm jedoch nicht zur Verfügung. Vielmehr werden die Arbeitsbedingungen der Beamten und ihre Besoldung durch den parlamentarischen Gesetzgeber geregelt, nicht – wie für die Angestellten des öffentlichen Dienstes – durch Tarifvertrag.
- Diese Gewissheiten sind durch eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 21.4.2009 (68959/01) zum Recht des türkischen öffentlichen Dienstes erschüttert worden. Der EGMR hat in dieser Entscheidung dem Art. 11 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ein Streikrecht entnommen und dieses auch auf Angehörige des öffentlichen Dienstes (in der Türkei) erstreckt. Obwohl die Struktur des öffentlichen Dienstes in der Türkei mit der in der Bundesrepublik Deutschland nicht zu vergleichen ist, hat es nicht lange gedauert, bis in Deutschland das Streikverbot für Beamte zur Disposition gestellt wurde. Manche Verwaltungsgerichte haben ein Streikrecht (speziell für verbeamtete Lehrkräfte) anerkannt, manche verworfen. Das Bundesverwaltungsgericht sah gar den Gesetzgeber gefordert (BVerwGE 149, 117).
- In der Folge der genannten Rechtsprechung des EGMR wurde die Diskussion um ein Streikrecht für Beamte, zumal für beamtete Lehrer mit großer Vehemenz und teilweise auch Härte geführt. Die Debatte hatte freilich nicht nur eine beamten- und verfassungsrechtliche Dimension, sondern vor allem auch eine politische. Die Gegner des Berufsbeamtentums sahen eine willkommene Möglichkeit, dem Berufsbeamtentum in Deutschland, das in der Öffentlichkeit ohnehin nicht sonderlich beliebt ist, einen entscheidenden Schlag zu versetzen. Denn das Streikverbot für Beamte ist einer der wenigen, wenn nicht der einzige Akzeptanzanker des Berufsbeamtentums in der Bevölkerung und in der politischen Öffentlichkeit. Wenn Beamte streiken dürften, hätten sie „das Beste aus zwei Welten“ ( Wißmann): Auf der einen Seite die Sicherheit des Beamtenstatus, zumal die lebenslange Arbeitsplatzgarantie, eine verfassungsrechtlich verbürgte, vom BVerfG überprüfbare sowie auf dem Rechtsweg durchsetzbare amtsangemessene Alimentation auch im Ruhestand („Pension“) sowie die Befreiung von der gesetzlichen Krankenversicherung. Und auf der anderen Seite das Recht, höhere Besoldung und bessere Arbeitsbedingungen mit Arbeitskampf zu erstreiken. Einer solchen „Rosinenpickerei“ (so das BVerfG ausdrücklich in Rn. 158) hat das BVerfG einen Riegel vorgeschoben und dabei auch klar gemacht: Es besteht gar kein Bedürfnis für ein Streikrecht für Beamte; denn diese können die verfassungsrechtlich garantierte amtsangemessene Besoldung auf dem Rechtsweg, notfalls vor dem BVerfG durchsetzen – anders als die Angestellten des öffentlichen Dienstes, deren Vergütung durch Tarifvertrag (TVÖD, TVL) festgelegt wird und denen deshalb auch ein Streikrecht zukommt.
- In der Diskussion wurde auch wenig beachtet, dass ein Streikrecht für Beamte erhebliche Folgewirkungen für das System des Beamtenrechts insgesamt mit sich brächte. Die Rechte und Pflichten des Beamten, zumal seine Besoldung, werden in der Bundesrepublik Deutschland durch Parlamentsgesetz, nicht durch Tarifvertrag festgelegt. Ein Streikrecht für Beamte würde also auch bedeuten: Arbeitskampf gegen das Parlament – eine krude Vorstellung, die mit dem Beamtenverhältnis als gegenseitigem Dienst- und Treueverhältnis nicht kompatibel ist. Der Staat schuldet dem Beamten von Verfassungs wegen Fürsorge, im Gegenzug darf er erwarten, nicht mit Streiks überzogen zu werden.
- Dieses Große und Ganze, das System und die institutionelle Bedeutung des Beamtentums als Garant der Stabilität, Funktionsfähigkeit und Verlässlichkeit einer rechtsstaatlichen Staatsverwaltung hatte das BVerfG offenkundig vor Augen, als es gestern seine einstimmig getroffene Grundsatzentscheidung zum Streikverbot für Beamte mit hoher argumentativer Klarheit und Stringenz getroffen hat: Es bleibt beim Streikverbot und zwar für alle Beamten, auch wenn dieses einfachgesetzlich nicht geregelt ist. Das BVerfG hat ausdrücklich anerkannt, dass das Streikverbot einen eigenständigen Grundsatz des Berufsbeamtentums im Sinn des Art. 33 Abs. 5 GG darstellt, der das von Art. 9 Abs. 3 GG grundsätzlich umfasste Streikrecht in verfassungsrechtlich zulässiger, zumal verhältnismäßiger Weise beschränkt.
- Das BVerfG ist nicht der Versuchung erlegen, zwischen Beamten mit und ohne Streikrecht zu differenzieren, wie es in der aufgeregten Diskussion im Vorfeld der Entscheidung vielfach gefordert worden war. Eine Unterscheidung zwischen Beamten im Kernbereich der Hoheitsverwaltung (ohne Streikrecht) und solchen im „Randbereich“ (mit Streikrecht) lehnt das BVerfG in großer Deutlichkeit ab. Wie sollte eine solche Unterscheidung auch sachgerecht und trennscharf möglich sein? Daher kann es auch für verbeamtete Lehrer kein Streikrecht geben. Einem solchen stehe zudem – so das BVerfG unmissverständlich – das Gebot der Funktionsfähigkeit des Schulwesens (Rn. 160) entgegen. Den Einwand, die Gewerkschaften würden von einem Streikrecht für verbeamtete Lehrer nur in zurückhaltender Weise Gebrauch machen, lässt das BVerfG mit Recht nicht gelten. Es wäre wohl auch naiv anzunehmen, dass neue Macht- und Drohpotenziale nicht genutzt würden. An den Arbeitskämpfen im Bereich der Daseinsvorsorge (Personennahverkehr, Deutsche Bahn, Kitas etc.) lässt sich in regelmäßig wiederkehrender Deutlichkeit ablesen, wie hier Erpressungspotenziale auf dem Rücken Dritter ausgespielt werden. Die Karlsruher Richter haben sichergestellt, dass solche Kampfrituale zu Lasten Dritter (Eltern und Schüler) den Schulen – jedenfalls soweit sie verbeamtete Lehrer beschäftigen – erspart bleiben.
- Dabei hat es das BVerfG keineswegs auf einen Konflikt mit dem EGMR angelegt, sondern seine bisherige konventionsfreundliche Grundhaltung ausdrücklich unterstrichen (Rn. 126 ff.). Das BVerfG hat sich nicht einfach auf den Standpunkt gestellt, die Rechtsprechung des EGMR zum Streikrecht im öffentlichen Dienst sei auf Deutschland nicht übertragbar. Vielmehr zieht das BVerfG ausdrücklich auch Art. 11 EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR heran (Rn. 153 ff.) und gelangt dabei in überzeugender Weise zum Ergebnis, dass ein Eingriff in Art. 11 EMRK, soweit ein solcher im deutschen Beamtenstreikverbot gesehen werden kann, nach Art. 11 Abs. 2 EMRK gerechtfertigt sei (Rn. 176 ff.). Das heißt im Klartext: Das verfassungsrechtlich gebotene Streikrecht für Beamte in Deutschland verstößt nicht gegen Art. 11 EMRK. Es besteht kein Normkonflikt zwischen Art. 33 Abs. 5 GG und Art. 11 EMRK, den der Gesetzgeber aufzulösen habe, wie das BVerwG noch gemeint hatte.
- Fazit: Dem BVerfG ist es in beeindruckender Weise gelungen, das deutsche Beamtenstreikverbot nicht nur verfassungsrechtlich zu fundieren und gegen politische Erosionstendenzen abzusichern, sondern es auch mit Art. 11 EMRK und der Rechtsprechung des EGMR in Einklang zu bringen. Der EGMR muss sich nicht provoziert fühlen, im Gegenteil. Sicher ist aber auch, dass der EGMR Gelegenheit haben wird, seine Sicht der Dinge darzustellen. Die in Karlsruhe unterlegenen Beschwerdeführer haben den Gang nach Straßburg bereits angekündigt.
SUGGESTED CITATION
Lindner, Josef Franz: Klar und stringent: Beamte dürfen nicht streiken – acht Thesen zur gestrigen Entscheidung des BVerfG, VerfBlog, 2018/6/13, https://verfassungsblog.de/klar-und-stringent-beamte-duerfen-nicht-streiken-acht-thesen-zur-gestrigen-entscheidung-des-bverfg/, DOI: 10.17176/20180613-124703-0.
„An den Arbeitskämpfen im Bereich der Daseinsvorsorge (Personennahverkehr, Deutsche Bahn, Kitas etc.) lässt sich in regelmäßig wiederkehrender Deutlichkeit ablesen, wie hier Erpressungspotenziale auf dem Rücken Dritter ausgespielt werden. Die Karlsruher Richter haben sichergestellt, dass solche Kampfrituale zu Lasten Dritter (Eltern und Schüler) den Schulen – jedenfalls soweit sie verbeamtete Lehrer beschäftigen – erspart bleiben.“
Oh jeh, oh jeh. Eine große Mehrheit der verbeamteten Autoren auf dem Verfassungsblog lässt hier regelmäßig eine kritische Distanziertheit zu „Ihrem“ Staat durchschimmern. Die acht Thesen des Autors sind hingegen Lobhudelei auf das Verfassungsgericht, welches eine große Chance verpasst hat, das Beamtenrecht den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen anzupassen.
Sie wollen eine Bahn, die nicht streikt? Dann verbeamten Sie die Schaffner und Lockführer, bezahlen Sie diese ordentlich! Sie wollen Ihr Kind nicht selber betreuen, weil die Kita streikt? Dann zahlen Sie die Erzieher*innen vernünftig, Ihr Kind sollte es Ihnen wert sein! Und Ihr Vater im Altenheim auch.
„Erpressungspotential auf dem Rücken anderer“ – dieser Beitrag ist zum fremdschämen. Gehen Sie doch einmal in die Schulen dieses Landes und schauen Sie sich um – nicht in das Gymnasium, wo Ihre Kinder sicher untergebracht sind/waren, sondern in die Haupt- und Realschulen und sehen sich die Umstände an, unter denen dort unterrichtet wird. Oder gehen Sie in andere, auf skandalöse weise unterfinanzierte Bereiche der Verwaltung, nicht zuletzt der Justiz.
Ein Streikrecht auch hier gäbe den Beamten einen echten Hebel, für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen. Den Untergang des geordneten Verwaltungsstaats an die Wand zu malen, wenn die Beamten ein Streikrecht an die Hand bekommen, offenbart ein sehr merkwürdiges, völlig veraltetes Beamtenverständnis. Scheinbar wünscht sich der Autor vor allem eins: Ein Staat, der unter allen Umständen einfach funktioniert, no matter what.
“‘Erpressungspotential auf dem Rücken anderer’ – dieser Beitrag ist zum fremdschämen.”
Es ist doch aber tatsächlich so: in der freien Wirtschaft trifft der Streik den Arbeitgeber, der keine Güter produziert, Dienstleistungen erbringt etc. und dadurch Einnahmeausfälle zu befürchten hat. Das macht ihn verhandlungsbereit.
Im Bereich der Daseinsvorsorge – bleiben wir beim Beispiel der KiTa – trifft es schwerlich den Bürgermeister persönlich, sondern die betroffenen Eltern, deren Kinder nicht betreut werden. Die Quittung bekommen die Verantwortlichen dann allenfalls/frühestens bei der nächsten Wahl.
Es ist ein strukturelles Phänomen, das der Situation geschuldet ist und wohl auch gar nicht gelöst werden kann. Ich finde nur die Heuchelei schwer erträglich, mit den Streiks sollten ja nicht die Bürger getroffen werden, sondern die öffentlichen Arbeitgeber. Ist doch Quatsch, natürlich sind die Bürger gerade der Hebel; der Volkszorn soll Druck auf die Arbeitgeber ausüben.
Und wer hat den Bürgermeister gewählt? Die Gesellschaft, die nicht bereit ist – gerade im Bereich der Daseinsvorsorge! – Arbeit fair zu entlohnen. Nein, es trifft genau die richtigen. Am allerwenigsten habe ich dabei Mitleid mit Politikern, die abgewählt werden, weil es ihnen nicht gelingt, die Gestaltungsmittel der Politik so einzusetzen, dass strukturelle Ungerechtigkeiten zumindest ansatzweise gelöst werden, z.B. gut ausgestattete Kitas mit fair bezahltem Personal zu schaffen.
Das Urteil mag in sich schlüssig sein. Wenn das BVerfG aber die Treuepflicht und das Streikverbot dem Alimentationsgebot gegenüber stellt, hätte es zumindest erwähnen sollen (und besser noch auch argumentativ berücksichtigen sollen), dass es in BVerfGE 140, 240 zur Dichte der verfassungsrechtlichen Prüfung der Besoldung folgendes formuliert hat: “Dem weiten Entscheidungsspielraum des Gesetzgebers entspricht vielmehr eine zurückhaltende, auf den Maßstab evidenter Sachwidrigkeit beschränkte Kontrolle der einfachgesetzlichen Regelung … Im Ergebnis beschränkt sich die materielle Kontrolle dabei auf die Frage, ob die Bezüge der Beamten evident unzureichend sind. Ob dies der Fall ist, muss anhand einer Gesamtschau verschiedener Kriterien und unter Berücksichtigung der konkret in Betracht kommenden Vergleichsgruppen geprüft werden.”
M.E. lässt sich der angeblich weite Gestaltungsspielraum des Besoldungsgesetzgebers und die Prüfung (nur) auf eine evident unzureichende Alimentation nicht mit der Argumentation gegen das Streikrecht von Lehrern in Einklang bringen. Die dem Streikverbot zugrundeliegende Treuepflicht z. B. der beamteten Lehrerinnnen und Lehrer sollte eine gegenläufige Treuepflicht des Staates hinsichtlich der Besoldung und somit deren striktere verfassungsrechtliche Prüfung zur Folge haben.
Völlig daneben ist hingegen der Beitrag von Prof. Lindner hinsichtlich der “Erpessungspotentiale auf dem Rücken Dritter”. Streik ist immer “Erpressung” mit dem von Art. 9 Abs. 3 GG gerade erlaubten Übel, dass die Arbeitsleistung kollektiv nicht erbracht wird (aber dann auch nicht bezahlt werden muss). Da der Staat kein Abstraktum ist, beinhaltet dies “natürlich” die Erpressung der (betroffenen) Bürgerinnen und Bürger als (mittelbare) Arbeitgeber der öffentlichen Angestellten. Das ist gerade der von Art. 9 GG vorgesehene Mechanismus, gegen den sich für die als wichtig (staatstragend) angesehenen Bereiche der Staat gerade mit dem Beamtenstatus und dem sich daraus ergebenden Streikverbot schützen kann. Kritisch ist freilich, wenn die bestreikten öffentlichen Arbeitgeber gleichwohl Entgelte von den “mittelbar” bestrikten Bürgerinneun und Bürger verlangen und teils (angeblich) aus Kulanz z. B. Kita-Gebühren für Streikwochen erstatten. Könnte es nicht sein, dass die Koalitationsfreiheit und das Streikrecht der öffentlichen Angestellten Gebührensatzungen, auf Grund deren der bestreikte Arbeitgeber sogar Geld einspart, verbietet?
Ein Streikrecht scheint zunächst nur im Rahmen von Privatautonomie möglich.
Im Verhältnis zum Staat lässt sich kaum klar begrenzbarbar vermeiden, dass dies staatliche Autorität berührt. Staatliche Autorität im Rahmen des Grundgesetzes bezweckt ein Ordnungsgefüge zu Gunsten der Bürger als Inhaber von Staatsgewalt. Eine verhältnismäßigere Begrenzung solcher Berührung von staatlicher Gewalt kann weniger genügend klar sicherbar scheinen. Ein Beamtenstreikverbot kann daher nur individuell subjektiv beschwerend, aber kaum insgesamt objektiv unverhältnismäßig scheinen.
Warum sollten Beamten-Darsteller in einer Staatssimulation nicht streiken dürfen?