08 July 2022

Krokodilstränen der Demokratie

Die andauernde Debatte um das Wahlrecht zeigt ein Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen an

Zu den urbanen Mythen der juristisch-journalistisch-politischen Welt gehört seit einiger Zeit die Behauptung, an der Misere mit dem Bundestagswahlrecht sei eigentlich nur das Bundesverfassungsgericht schuld. Diese Legende ist in etwa so stichhaltig wie die Erzählung, in der Kanalisation von New York würden Krokodile leben (oder mutierte Schildkröten). Denn auch wenn es eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war, die vor zehn Jahren die bis heute nicht gelöste Aufgabe an den Gesetzgeber stellte, eine offensichtliche Paradoxie des Wahlrechts zu beseitigen – es war weder das Bundesverfassungsgericht, das diese Paradoxie in das System hineingeschrieben hat, noch ist es das Gericht, das sich seitdem als unfähig erweist, eine tragfähige Neuregelung zu finden. Vielmehr zeigt sich an der fortdauernden Misere, dass der Gesetzgeber selbst sich in den unterschiedlichsten politischen Mehrheitskonstellationen beständig als unfähig erweist, eine tragfähige Lösung für das Wahlrecht zu finden. Der aktuelle Vorschlag aus der Ampel-Koalition, der schon Ende des Jahres Gesetz werden könnten, setzt diese Entwicklung leider nahtlos fort.

Brachial, aber effektiv

Der erste Schritt in diesem neuen Modell recycelt letztlich den Vorschlag, den die SPD in der letzten Legislaturperiode unter der Bezeichnung „Kappungsmodell“ gemacht hat. Er sieht vor, dass die Wahlkreismandate nicht mehr automatisch an diejenigen Bewerber*innen vergeben werden, die in ihrem Wahlkreis eine relative Mehrheit der Erststimmen erreichen (wobei relativ bedeutet, dass dies, wie bei der letzten Bundestagswahl, auch recht häufig weniger als 30 % sein können). Als zusätzliche Voraussetzung für den Mandatsgewinn wird vielmehr festgeschrieben, dass dieses Direktmandat auch vom Zweitstimmenanteil der Partei gedeckt sein muss. Welches Mandat das nicht ist, bemisst sich nach dem Erststimmenanteil des/der Kandidat*in im Vergleich zu den Parteikolleg*innen. Wer den geringsten Erststimmenanteil (trotz relativer Mehrheit) hat, erhält kein Mandat. Es werden also der Sache nach die Überhangmandate „gekappt“, die über die durch sie ausgelöste Verteilung von Ausgleichsmandaten die eigentliche Ursache für die beständige Vergrößerung des Bundestages sind.

Dieser Schritt ist vielleicht nicht die eleganteste aller diskutierten Lösungen, nicht der für den Bürger transparenteste Weg und politisch durchaus streitbar. Aber er stellt jedenfalls eine zwar brachiale, aber effektive Möglichkeit dar, um eine feste Größe des Parlaments zu garantieren – eine Leistung, die das geltende Wahlrecht sehr krachend verfehlt. Mit dem Grundgesetz vereinbar ist das Modell insoweit ebenfalls. Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die hier vereinzelt vorgetragen werden, sind im Ergebnis nicht besonders stichhaltig. Das liegt insbesondere daran, dass gerade nicht einem gewählten Abgeordneten das Mandat wieder weggenommen, sondern lediglich eine neue, zusätzliche Bedingung für die Wahl eingeführt wird.

Im zweiten Schritt verfassungswidrig

Verfassungswidrig ist allerdings der zweite Schritt im Ampelmodell. Denn bei der Konsequenz, dass durch das Kappungsmodell einzelne Wahlkreise nicht mehr durch einen direkt gewählten Abgeordneten vertreten sind, will man es nicht belassen. Stattdessen soll nun ein*e alternative*r Wahlkreissieger*in bestimmt werden, die/der das Mandat erhält, obwohl er/sie die relative Mehrheit der Erststimmen verfehlt hat. Gelingen soll dies durch eine Ersatzstimme, die nun jede*r Wähler*in zusätzlich zur Erststimme abgeben können soll und mit der er/sie seine*n zweitliebste*n Kandidat*in ausweisen kann. Diese Ersatzstimme wird dann ausgewertet, wenn der/die Wahlkreiserste aufgrund der Kappungsregel kein Mandat erhält. In einem zweiten Durchgang wird dann bei den Wähler*innen, die mit der Hauptstimme für die/den (im Ergebnis erfolglosen) Wahlkreiserste*n votiert haben, die Ersatzstimme ausgezählt, bei allen anderen Wähler*innen bleibt es bei der Wertung der Hauptstimme. Der/die auf diese Weise ermittelte „alternative Wahlkreiserste“ erhält dann in diesem zweiten Schritt das Wahlkreismandat – vorausgesetzt wiederum, dass dieses Mandat vom Zweitstimmenergebnis der Partei gedeckt ist. Ist dies nicht der Fall, schließt sich eine dritte Verteilungsrunde an, bei der dann die Ersatzstimmen all derjenigen Wähler*innen ausgewertet werden, die mit der Hauptstimme für den/die „alternative*n Wahlkreiserste*n“ gestimmt haben. Die Stimmen der Wähler*innen, die ursprünglich für den/die Wahlkreisersten votiert haben, müssen dabei allerdings unberücksichtigt bleiben – bei ihnen sind sowohl Haupt- als auch Ersatzstimme schon „verbraucht“.

Dass das Modell um diesen zweiten Schritt ergänzt wurde, lässt sich vermutlich nur mit der unerschütterlichen Anhänglichkeit der Abgeordneten selbst zu den Wahlkreismandaten erklären. Niemand scheint die Geschichte der besonderen persönlichen Bindung der Wahlkreisabgeordneten so sehr zu glauben wie sie. Angesichts der Tatsache, dass selbst im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Wahl mehr als 37 % der Wähler keinen einzigen Wahlkreiskandidaten benennen können und mehr als 20 % der Wähler sich lediglich an den Namen eines einzigen Kandidaten erinnern, und vor dem Hintergrund, dass auch über die Listen gewählte Abgeordnete fast ausnahmslos Wahlkreisbüros unterhalten und Wahlkreisarbeit leisten, erscheint dieses Narrativ allerdings doch reichlich zweifelhaft.

Doch unabhängig von der politischen Intention, die hinter diesem Vorschlag steckt: Mit dem Grundgesetz vereinbar ist dieser Mechanismus nicht, weil er gleich in zweierlei Hinsicht den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt. Dies betrifft zunächst die erste Stufe der „Ersatzkandidatenkür“, bei der die Ersatzstimmen derjenigen Wähler*innen ausgewertet werden, die mit ihrer Hauptstimme für die/den erfolglose/n Wahlkreiserste*n gestimmt haben. Ihnen wird in der zweiten Runde der Stimmverteilung in verfassungswidriger Weise eine doppelte Erfolgschance eingeräumt. Um das damit verbundene verfassungsrechtliche Problem zu durchdringen, muss man sich kurz vor Augen führen, welche Anforderungen der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 38 I 1 GG an das Wahlgesetz stellt. Er verlangt nämlich, dass die Stimme eines/r jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler*innen sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Dieser Maßstab wirkt sich in den Systemen der Mehrheits- und der Verhältniswahl unterschiedlich aus. Dem Zweck der Mehrheitswahl entspricht es, dass nur die für den/die Mehrheitskandidat*in abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen. Die auf die/den Minderheitskandidat*in entfallenden Stimmen bleiben hingegen bei der Vergabe der Mandate unberücksichtigt. Die Wahlgleichheit fordert hier über den gleichen Zählwert aller Stimmen hinaus nur, dass bei der Wahl alle Wähler*innen mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (BVerfGE 95, 335, 353; 121, 266, 295 f.).

Doppelte Erfolgschancen, verbrauchte Stimmen

An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn die Wahlentscheidung im Wahlkreis, wie hier, weiter grundsätzlich nach der Mehrheitsregel vorgenommen werden soll, diejenigen Wähler*innen, die für die/den Wahlkreiserste*n votieren, die/der das Wahlkreismandat nicht erringt, aber eine zweite Chance erhalten, mit ihrer Stimme über das Wahlkreismandat zu entscheiden. Denn das Stimmgewicht, mit dem sie hier am Kreationsvorgang teilnehmen, ist gerade nicht mehr gleich zwischen den Wähler*innen verteilt. Man mag dogmatisch darüber streiten, ob man diese erste Verzerrung als einen – in keinem Fall zu rechtfertigenden – Eingriff in die Zählwertgleichheit oder „nur“ als Eingriff in die Erfolgschancengleichheit zu klassifizieren hat. Denn selbst wenn ein solcher Eingriff nur die Erfolgschancengleichheit beträfe und daher einer Rechtfertigung durch kollidierende Güter von Verfassungsrang im Grundsatz zugänglich wäre: Da es sich hier nicht um eine unwesentliche Verzerrung handelt, sondern um eine doppelte Erfolgschance, die manche Wähler*innen erhalten und andere eben nicht, wäre der Eingriff in die demokratische Gleichheit so schwerwiegend, dass eine Rechtfertigung unmöglich wäre. Verteidiger*innen dieses Modells wollen dem entgegenhalten, dass man diese starren Regeln des Mehrheitswahlrechts auf die Wahlkreiskandidatenkür nach dem reformierten Modell nicht anwenden dürfe, da ja gerade eine modifizierte Mehrheitswahl vorgenommen würde. Doch bei diesem Argument handelt es sich um einen Taschenspielertrick. Denn die Regel, nach der am Ende das Mandat vergeben werden soll, ist und bleibt die Mehrheitsregel (und nicht die Verhältnisregeln, die auf die Kür eines Einzelkandidaten auch schon aus logischen Gründen keine Anwendung finden kann). Daran muss sich der Mechanismus dann auch messen lassen.

Damit sind die verfassungsrechtlichen Probleme aber noch nicht vollständig benannt. Denn die Privilegierung derjenigen Wähler*innen, die für die/den ursprünglichen Wahlkreisersten gestimmt haben, verkehrt sich in einer möglicherweise notwendigen weiteren Runde der alternativen Kandidatenkür in ihr Gegenteil. Weil jede/r Wähler*in nämlich nur eine Ersatzstimme abgeben kann, können bei einer dritten Runde der Ergebnisermittlung keinerlei Stimmen dieser Wähler*innen mehr berücksichtigt werden – Haupt- und Ersatzstimme sind in den ersten beiden Runden bereits „verbraucht“ worden. Damit kommt aber bei der letztlich verbindlichen Ergebnisermittlung der Stimme dieser Wähler*innen überhaupt kein Zählwert mehr zu, ihre Stimme wird schlicht nicht berücksichtigt. Eine solche Ungleichheit des Zählwerts lässt sich aber verfassungsrechtlich nie rechtfertigen, weil sonst die Grundanforderungen an eine demokratische Wahl nicht mehr erfüllt wären.

Ein großes Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen

Jenseits dieser juristischen Detailfragen sollte aber auch ein weiteres Argument nicht vergessen werden, das sich auf der Grenzlinie zwischen juristischer und politischer Kritik befindet: Insbesondere die alternative Mandatszuteilung durch die Ersatzstimme macht das Wahlrecht für die Wähler*innen noch schwerer nachvollziehbar. Das ist nicht nur politisch problematisch, sondern stellt ab irgendeinem Punkt auch die Eignung der Wahl zur Vermittlung von Legitimität infrage. Dies könnte sich auch auf praktischer Ebene niederschlagen. Würde das Modell tatsächlich in der diskutierten Form beschlossen, erhielten die Wähler*innen in Zukunft drei Stimmzettel. Zwei von ihnen (derjenige für die Erststimme, die dann Personenstimme heißen soll, und derjenige für die Ersatzstimme) müssten im Hinblick auf die Kandidatenauswahl gleich aussehen, dürften aber nicht gleich ausgefüllt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Anteil ungültiger Ersatzstimmen dabei ganz erheblich sein könnte.

Auch diese Reform wird, sollte sie beschlossen werden, mit größter Wahrscheinlichkeit in Karlsruhe landen. Aus der Union wurden schon entsprechende Schritte angekündigt. Das ist einerseits angesichts der offensichtlichen verfassungsrechtlichen Mängel der geplanten Reform begrüßenswert. Andererseits führt aber eine Situation, in der der Gesetzgeber beständig ein verfassungswidriges Wahlrecht beschließt, das dann vom Bundesverfassungsgericht einkassiert werden muss, nicht nur zu den genannten ungerechtfertigten Vorwürfen gegenüber dem Gericht. Es bringt Karlsruhe auch in die unaushaltbare Situation, ab irgendeinem Punkt entweder ein verfassungswidriges Wahlrecht passieren lassen zu müssen oder aber durch beständige Verwerfung des Wahlrechts, also der normativen Infrastruktur unserer Demokratie, selbst einen faktischen Baustein zur demokratischen Destabilisierung leisten zu müssen.

Die Schuld für die Misere dann an das Gericht zu delegieren, ist paradox. Denn das Elend mit dem Wahlrecht ist nichts anderes als ein großes Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen, und zwar, wie man gerade sieht, unabhängig von den politischen Mehrheiten. Innerhalb des Parlaments sind es sind daher auf allen Seiten des politischen Spektrums wohl vor allem demokratische Krokodilstränen, die in den unterschiedlichen Konstellationen um das Wahlrecht vergossen wurden und weiter vergossen werden. Im aktuellen Verfahren scheint nicht einmal die Ampel-Koalition selbst von der Verfassungskonformität ihres Wahlrechts wirklich überzeugt zu sein, wenn es zu einer möglichen Verfassungsklage nur heißt, man sei beraten worden und könne jedenfalls „in den Verfahren gut argumentieren.“ Für einen derart zentralen Punkt unserer Demokratie ist das einfach nicht genug.


SUGGESTED CITATION  Schönberger, Sophie: Krokodilstränen der Demokratie: Die andauernde Debatte um das Wahlrecht zeigt ein Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen an, VerfBlog, 2022/7/08, https://verfassungsblog.de/krokodilstranen-der-demokratie/, DOI: 10.17176/20220708-233741-0.

6 Comments

  1. Björn Benken Sat 9 Jul 2022 at 02:58 - Reply

    Sehr geehrte Frau Prof. Schönberger, Sie hatten Ihre Position zur Ersatzstimme ja schon in der Wahlrechtskommission vorgetragen und ich bin dankbar, Ihre Gedankengänge hier noch einmal in größerer Ausführlichkeit nachlesen zu können. Leider kann ich Ihre Argumentation aber teilweise immer noch nicht nachvollziehen und komme jedenfalls zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen als Sie.

    Bei der These, dass das reine Kappungsmodell (ohne Ersatzstimme) wahrscheinlich noch verfassungskonform ist, stimme ich völlig mit Ihnen überein – allerdings nur im Ergebnis, nicht in der Begründung. Sie sehen eine mögliche Verfassungswidrigkeit offenbar nur aus Sicht der Fast-Mandatsgewinner, die trotz relativer Mehrheit kein Mandat zugeteilt bekommen, nicht aber aus der Sicht der betroffenen Wähler/innen, deren Stimmen im Kappungsfall keinen Erfolgswert entfalten würden. Die Erststimmen dieser Wähler/innen blieben genauso unberücksichtigt wie jene Zweitstimmen, die auf Parteien entfallen, die unterhalb des Sperrquorums landen. Hier wie dort scheitert die Berücksichtigung der Stimmen an der fehlenden Zweitstimmendeckung der jeweiligen Partei, was auf den ersten Blick nicht nach einer Verfassungskonformität aussieht.

    Doch bekanntlich kann eine Einschränkung der Erfolgswertgleichheit nach ständiger Rechtsprechung durch einen „zwingenden“, verfassungsrechtlich „die Waage haltenden“ Grund legitimiert werden. Im Falle der Sperrklausel gilt die Sicherung der Funktionsfähigkeit des Parlaments als ein solcher legitimierender Grund, was meiner Ansicht nach auch analog für das Kappungsmodell reklamiert werden könnte. Im ersten Fall ist es der Schutz vor Parteienzersplitterung, im zweiten Fall wäre es der Schutz vor einer aus allen Nähten platzenden Volksvertretung. Bei der Überprüfung der Wahlrechtsänderung durch Verfassungsgerichte ist allein die Frage ausschlaggebend, ob die vom Gesetzgeber gewählte Maßnahme zur Erreichung des Zieles zweckdienlich ist, nicht jedoch, ob es noch andere alternative Wege zu diesem Ziel gäbe bzw. ob Maßnahmen existieren, die möglicherweise politisch wünschenswerter wären.

    Entscheidend ist nun der folgende Punkt: Das Einfügen einer Ersatzstimme in das Kappungsmodell dient keineswegs nur dem Ziel, keine „verwaisten“ Wahlkreise entstehen zu lassen (wie Sie es darstellen), sondern ist im Regelfall auch geeignet, den oben festgestellten Eingriff in die Erfolgswertgleichheit zu verringern! Ausnahme sind lediglich jene Situationen, wo jemand keine Ersatzstimme abgegeben hat oder wo die Ersatzstimme für eine/n Bewerber/in abgegeben wurde, deren/dessen Partei ebenfalls keine Zweitstimmendeckung aufweist. In diesen beiden Fällen könnten die Differenzierungen im Stimmwert, die durch eine Kappung entstünden, nicht beseitigt werden – in allen anderen Fällen aber sehr wohl.

    Da die Wähler/innen, deren (Haupt)-Erststimmen unberücksichtigt bleiben, auf dieser Stufe keinen Erfolgswert verbuchen können, können sie auch in dem Moment, wo ihre Ersatzstimmen ausgewertet werden, logischerweise kein doppeltes Stimmgewicht mehr erlangen. Denn wie der Name schon sagt: Die Ersatzstimme „ersetzt“ unter bestimmten Bedingungen die Hauptstimme vollständig. Auch wenn Sie, verehrte Frau Dr. Schönberger, nach meinem Empfinden zwar suggerieren, es gäbe ein doppeltes Stimmgewicht, so verwenden Sie doch den Begriff „Erfolgswert“ in Wirklichkeit nicht. Hingegen sprechen Sie von einer Verletzung der Zählwertgleichheit, was allerdings ein bloßes Missverständnis sein dürfte. Denn die Stimmen einiger Wähler/innen werden zwar doppelt ausgezählt, sie zählen aber immer nur für eine/n einzige/n Bewerber/in zur gleichen Zeit.

    Und was schließlich das Erfordernis einer gleichen rechtlichen Erfolgschance betrifft, wonach jede Stimme den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben muss, so dürfte diese Maßgabe ebenfalls gewahrt sein. Denn im Vorschlag der Ampel-Abgeordneten wird jede Hauptstimme bei der Ermittlung des Wahlergebnisses gleicherweise gezählt, wohingegen Ersatzstimmen ja erst dann ins Spiel kommen, wenn das Ergebnis der ersten Runde eine Stichauszählung erforderlich macht. Für jene Wähler/innen, die von der Kappung betroffen sind, zählt in diesem Stichwahlgang abweichend die Ersatzstimme, während für alle anderen Wähler/innen im Stichwahlgang die Stimme für dieselbe Person wie im Hauptwahlgang zählt. Somit haben ALLE Wähler/innen des Wahlkreises eine doppelte Erfolgschance und niemand ist benachteiligt. Ich kann deshalb beim besten Willen keinen Verstoß der geplanten Ersatzstimme gegen die Wahlrechtsgrundsätze erkennen – vielmehr würde es mit ihrer Hilfe sehr gut gelingen, die ansonsten unumgänglichen Eingriffe in die Wahlrechtsgleichheit abzumildern.

    Unverständlich ist mir auch, wie Sie zu der Einschätzung kommen, dass die Erststimme und die Ersatz-Erststimme auf getrennten Stimmzetteln abgegeben werden müssten. Viel naheliegender wäre es doch, wenn man z.B. die Erstpräferenz mittels des gewohnten Kreuzes, die Zweitpräferenz hingegen mittels des Zeichens „2“ auf demselben Stimmzettel ausdrücken würde. Damit würde auch der von Ihnen vorgetragene Grund für ungültige Ersatzstimmen gegenstandslos werden. Es ist letztlich genau umgekehrt wie von Ihnen angenommen: Erststimme und Ersatz-Erststimme müssen sogar zwingend auf demselben Stimmzettel abgegeben werden, weil im Kappungsfall ausschließlich die Ersatzstimmen der von der Kappung betroffenen Person wirksam werden sollen, nicht aber sämtliche Ersatzstimmen aller Wähler/innen.

  2. Johannes Krause Sat 9 Jul 2022 at 07:49 - Reply

    Danke für diesen Beitrag.

    Eine verfassungskonforme Lösung, die einer personalisierten Verhältniswahl entspräche und die Bundestagsgröße einhielte, wäre dabei so einfach:

    Über die Einführung von Mehrpersonenwahlkreisen mit offenen Listen und bspw. drei gleichwertigen Stimmen. So könnten die Wähler*innen (da offene Liste) Kandidierende der unterschiedlichen Listen wählen und da diese Stimme gleichsam als Parteistimme gewertet würde, das parteipolitische Stärkeverhältnis im Bundestag bestimmen.

    Aber für diese einfache Lösung hängen die Abgeordneten, wie Sie ebenfalls aufgeworfen haben, offenbar zu sehr an den Einpersonenwahlkreisen.

  3. Robert Helling Sun 10 Jul 2022 at 08:55 - Reply

    Ich glaube, der zweite Einwand ist sehr theoretisch, denn er würde nur ziehen, wenn zwei Parteien in einem Bundesland überhängen. Wie häufig kommt das vor?

  4. Rydberg Sun 10 Jul 2022 at 09:48 - Reply

    Wenngleich die angesprochenen verfassungsrechtlichen Probleme durchaus bestehen, finde ich es nicht gerechtfertigt dem Gesetzgeber die Alleinschuld daran zu geben. Mir ist kein Modell in der Literatur bekannt, welches die Paradoxie für alle Seiten zufriedenstellend löst und nicht als teilweise Verfassungswidrig bezeichnet wird. Und wenn selbst der Rechtswissenschaft das nicht gelingt, wie kann man dann vom Gesetzgeber verlangen das Problem perfekt zu lösen?

  5. Thomas Faelligen Sun 10 Jul 2022 at 09:56 - Reply

    Vielen Dank für diesen klugen Beitrag.

    Mir scheint, dass ein komplexes Wahlrecht grundsätzlich anfälliger für Verstöße gegen die Gleichheit der Wahl ist. Das war auch schon beim negativen Stimmgewicht so, das sich durch ein komplexes Zusammenspiel aus Überhangmandaten und Regionalisierung der Listenplätze ergab.

    Daher fürchte ich, dass jede Verkomplizierung in Form von Ausgleichen, nachträglichen Korrekturen, Sonderregelungen für bestimmte Fälle etc. nur weitere Probleme schaffen wird – so eben auch die Pläne der Ampelkoalition, sollten diese umgesetzt werden.

    Das Problem des zu großen Bundestages hat seinen Kern im Auseinanderfallen von Erst- und Zweitstimme. Viele Menschen stimmen taktisch ab, indem sie beide Stimmen trennen. Dieses Verhalten führt dann zu ausufernden Überhangmandaten. Auch ist taktisches Wählen als solches bereits kritisch, weil es es beispielsweise besonders anfällig für Beeinflussungen durch vorherige Umfragen ist. Zudem führt die derzeitige Praxis vermutlich zu einem erhöhten Stimmanteil für kleinere Parteien, weil z.B. CDU-Erststimmenwähler wenig Interesse haben, ihre Zweitstimme ebenfalls der CDU zu geben, wenn diese ohnehin durch Direktmandate einzieht und die Zweitstimme nur Auswirkungen darauf hat, wieviele davon Überhangmandate sind (in Wahrheit reduziert eine Zweitstimme für die CDU natürlich dennoch die Anteile anderer Parteien, aber wenn es je eine komplementäre kleinere Partei gibt, ist es taktisch klüger, dieser die Zweitstimme zu geben).

    Schon der erste von der Ampel angedachte Schritt, das Kappen von Überhangmandaten, ist eigentlich nur die Korrektur eines Designfehlers, obgleich bei ersatzlosem Kappen vermutlich Erst- und Zweitstimme wieder öfter zusammenfallen und die Problematik etwas entschärft würde.

    Ebenso stellt eine denkbare Vergrößerung der Wahlkreise eigentlich auch nur eine Verschiebung des Problems auf ein niedrigeres Level dar.

    Vielleicht ist es Zeit, über grundsätzliche Wahlrechtsänderungen nachzudenken?

    Am einfachsten wäre vermutlich ein Wegfall der Erststimme. Die Regionalisierung wäre dann eben nur noch über regionalisierte Listen gewährleistet. Für kritisch hielte ich hier, dass regionale Parteien oder parteilose Kandidaten nun keine Chance auf Einzug in den Bundestag mehr erhielten.

    Will man in erster Linie die personalisierte Wahl beibehalten, wäre es denkbar, die Zweitstimme kurzerhand abzuschaffen. Zwar wäre ein solches Wahlsystem zumindest ohne Stichwahl ebenfalls problematisch, und es würde die Zusammensetzung des Bundestages zugunsten der größeren Parteien verzerren, aber gerade dies wäre für dessen Arbeitsfähigkeit eher positiv. Auch haben kleine Parteien als Zünglein an der Waage in Koalitionen eher zu viel Gewicht, insofern könnte man auch argumentieren, dass das derzeitige System eine Verzerrung des Wählerwillens zugunsten kleinerer Parteien ist.

    Auf der anderen Seite könnte auch eine Regelung stehen, in welcher eine Stimme gleichzeitig Erst- und Zweitstimme ist. Eine Stimme entschiede dann sowohl über Zusammensetzung des Bundestages als auch über den Wahlkreissieger. Dann käme es zwar immer noch zu Abweichungen, die wohl über Überhangmandate korrigiert werden müssten, aber hoffentlich in geringerem Ausmaß.

    Hätten denn solche Alternativen überhaupt Aussicht auf Verfassungsmäßigkeit oder übersehe ich Gründe, die ein Festhalten am personalisierten Verhältniswahlrecht mit zwei getrennten Stimmen erzwingen?

    • Robert Helling Sun 10 Jul 2022 at 13:07 - Reply

      Die große Zahl von Überhangs- und Ausgleichsmandaten hängt nicht am Stimmensplitting, selbst wenn alle beide Kreuze bei der gleichen Partei machen, bliebe es bestehen, sondern daran, dass man bei relativer Mehrheit schon mit sehr kleinem Stimmenanteil Direktmandate gewinnt (in Zweifel auch sehr viele, wenn die Verhältnisse in den Wahlkreisen ähnlich sind), aber nur eben einen kleinen Anteil in der Verhältniswahl. Das Problem kommt durch die Schwäche der großen Parteien zustande, die die meisten Direktmandate mit immer knapperen Siegen (oft bekommen sie eben schon mit 25-30% den Sitz) unter sich ausmachen, ohne entsprechend viele Zweitstimmen zu gewinnen.

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