Krokodilstränen der Demokratie
Die andauernde Debatte um das Wahlrecht zeigt ein Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen an
Zu den urbanen Mythen der juristisch-journalistisch-politischen Welt gehört seit einiger Zeit die Behauptung, an der Misere mit dem Bundestagswahlrecht sei eigentlich nur das Bundesverfassungsgericht schuld. Diese Legende ist in etwa so stichhaltig wie die Erzählung, in der Kanalisation von New York würden Krokodile leben (oder mutierte Schildkröten). Denn auch wenn es eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts war, die vor zehn Jahren die bis heute nicht gelöste Aufgabe an den Gesetzgeber stellte, eine offensichtliche Paradoxie des Wahlrechts zu beseitigen – es war weder das Bundesverfassungsgericht, das diese Paradoxie in das System hineingeschrieben hat, noch ist es das Gericht, das sich seitdem als unfähig erweist, eine tragfähige Neuregelung zu finden. Vielmehr zeigt sich an der fortdauernden Misere, dass der Gesetzgeber selbst sich in den unterschiedlichsten politischen Mehrheitskonstellationen beständig als unfähig erweist, eine tragfähige Lösung für das Wahlrecht zu finden. Der aktuelle Vorschlag aus der Ampel-Koalition, der schon Ende des Jahres Gesetz werden könnten, setzt diese Entwicklung leider nahtlos fort.
Brachial, aber effektiv
Der erste Schritt in diesem neuen Modell recycelt letztlich den Vorschlag, den die SPD in der letzten Legislaturperiode unter der Bezeichnung „Kappungsmodell“ gemacht hat. Er sieht vor, dass die Wahlkreismandate nicht mehr automatisch an diejenigen Bewerber*innen vergeben werden, die in ihrem Wahlkreis eine relative Mehrheit der Erststimmen erreichen (wobei relativ bedeutet, dass dies, wie bei der letzten Bundestagswahl, auch recht häufig weniger als 30 % sein können). Als zusätzliche Voraussetzung für den Mandatsgewinn wird vielmehr festgeschrieben, dass dieses Direktmandat auch vom Zweitstimmenanteil der Partei gedeckt sein muss. Welches Mandat das nicht ist, bemisst sich nach dem Erststimmenanteil des/der Kandidat*in im Vergleich zu den Parteikolleg*innen. Wer den geringsten Erststimmenanteil (trotz relativer Mehrheit) hat, erhält kein Mandat. Es werden also der Sache nach die Überhangmandate „gekappt“, die über die durch sie ausgelöste Verteilung von Ausgleichsmandaten die eigentliche Ursache für die beständige Vergrößerung des Bundestages sind.
Dieser Schritt ist vielleicht nicht die eleganteste aller diskutierten Lösungen, nicht der für den Bürger transparenteste Weg und politisch durchaus streitbar. Aber er stellt jedenfalls eine zwar brachiale, aber effektive Möglichkeit dar, um eine feste Größe des Parlaments zu garantieren – eine Leistung, die das geltende Wahlrecht sehr krachend verfehlt. Mit dem Grundgesetz vereinbar ist das Modell insoweit ebenfalls. Die verfassungsrechtlichen Bedenken, die hier vereinzelt vorgetragen werden, sind im Ergebnis nicht besonders stichhaltig. Das liegt insbesondere daran, dass gerade nicht einem gewählten Abgeordneten das Mandat wieder weggenommen, sondern lediglich eine neue, zusätzliche Bedingung für die Wahl eingeführt wird.
Im zweiten Schritt verfassungswidrig
Verfassungswidrig ist allerdings der zweite Schritt im Ampelmodell. Denn bei der Konsequenz, dass durch das Kappungsmodell einzelne Wahlkreise nicht mehr durch einen direkt gewählten Abgeordneten vertreten sind, will man es nicht belassen. Stattdessen soll nun ein*e alternative*r Wahlkreissieger*in bestimmt werden, die/der das Mandat erhält, obwohl er/sie die relative Mehrheit der Erststimmen verfehlt hat. Gelingen soll dies durch eine Ersatzstimme, die nun jede*r Wähler*in zusätzlich zur Erststimme abgeben können soll und mit der er/sie seine*n zweitliebste*n Kandidat*in ausweisen kann. Diese Ersatzstimme wird dann ausgewertet, wenn der/die Wahlkreiserste aufgrund der Kappungsregel kein Mandat erhält. In einem zweiten Durchgang wird dann bei den Wähler*innen, die mit der Hauptstimme für die/den (im Ergebnis erfolglosen) Wahlkreiserste*n votiert haben, die Ersatzstimme ausgezählt, bei allen anderen Wähler*innen bleibt es bei der Wertung der Hauptstimme. Der/die auf diese Weise ermittelte „alternative Wahlkreiserste“ erhält dann in diesem zweiten Schritt das Wahlkreismandat – vorausgesetzt wiederum, dass dieses Mandat vom Zweitstimmenergebnis der Partei gedeckt ist. Ist dies nicht der Fall, schließt sich eine dritte Verteilungsrunde an, bei der dann die Ersatzstimmen all derjenigen Wähler*innen ausgewertet werden, die mit der Hauptstimme für den/die „alternative*n Wahlkreiserste*n“ gestimmt haben. Die Stimmen der Wähler*innen, die ursprünglich für den/die Wahlkreisersten votiert haben, müssen dabei allerdings unberücksichtigt bleiben – bei ihnen sind sowohl Haupt- als auch Ersatzstimme schon „verbraucht“.
Dass das Modell um diesen zweiten Schritt ergänzt wurde, lässt sich vermutlich nur mit der unerschütterlichen Anhänglichkeit der Abgeordneten selbst zu den Wahlkreismandaten erklären. Niemand scheint die Geschichte der besonderen persönlichen Bindung der Wahlkreisabgeordneten so sehr zu glauben wie sie. Angesichts der Tatsache, dass selbst im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Wahl mehr als 37 % der Wähler keinen einzigen Wahlkreiskandidaten benennen können und mehr als 20 % der Wähler sich lediglich an den Namen eines einzigen Kandidaten erinnern, und vor dem Hintergrund, dass auch über die Listen gewählte Abgeordnete fast ausnahmslos Wahlkreisbüros unterhalten und Wahlkreisarbeit leisten, erscheint dieses Narrativ allerdings doch reichlich zweifelhaft.
Doch unabhängig von der politischen Intention, die hinter diesem Vorschlag steckt: Mit dem Grundgesetz vereinbar ist dieser Mechanismus nicht, weil er gleich in zweierlei Hinsicht den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt. Dies betrifft zunächst die erste Stufe der „Ersatzkandidatenkür“, bei der die Ersatzstimmen derjenigen Wähler*innen ausgewertet werden, die mit ihrer Hauptstimme für die/den erfolglose/n Wahlkreiserste*n gestimmt haben. Ihnen wird in der zweiten Runde der Stimmverteilung in verfassungswidriger Weise eine doppelte Erfolgschance eingeräumt. Um das damit verbundene verfassungsrechtliche Problem zu durchdringen, muss man sich kurz vor Augen führen, welche Anforderungen der Grundsatz der Wahlgleichheit aus Art. 38 I 1 GG an das Wahlgesetz stellt. Er verlangt nämlich, dass die Stimme eines/r jeden Wahlberechtigten grundsätzlich den gleichen Zählwert und die gleiche rechtliche Erfolgschance haben muss. Alle Wähler*innen sollen mit der Stimme, die sie abgeben, den gleichen Einfluss auf das Wahlergebnis haben. Dieser Maßstab wirkt sich in den Systemen der Mehrheits- und der Verhältniswahl unterschiedlich aus. Dem Zweck der Mehrheitswahl entspricht es, dass nur die für den/die Mehrheitskandidat*in abgegebenen Stimmen zur Mandatszuteilung führen. Die auf die/den Minderheitskandidat*in entfallenden Stimmen bleiben hingegen bei der Vergabe der Mandate unberücksichtigt. Die Wahlgleichheit fordert hier über den gleichen Zählwert aller Stimmen hinaus nur, dass bei der Wahl alle Wähler*innen mit annähernd gleichem Stimmgewicht am Kreationsvorgang teilnehmen können (BVerfGE 95, 335, 353; 121, 266, 295 f.).
Doppelte Erfolgschancen, verbrauchte Stimmen
An dieser Voraussetzung fehlt es, wenn die Wahlentscheidung im Wahlkreis, wie hier, weiter grundsätzlich nach der Mehrheitsregel vorgenommen werden soll, diejenigen Wähler*innen, die für die/den Wahlkreiserste*n votieren, die/der das Wahlkreismandat nicht erringt, aber eine zweite Chance erhalten, mit ihrer Stimme über das Wahlkreismandat zu entscheiden. Denn das Stimmgewicht, mit dem sie hier am Kreationsvorgang teilnehmen, ist gerade nicht mehr gleich zwischen den Wähler*innen verteilt. Man mag dogmatisch darüber streiten, ob man diese erste Verzerrung als einen – in keinem Fall zu rechtfertigenden – Eingriff in die Zählwertgleichheit oder „nur“ als Eingriff in die Erfolgschancengleichheit zu klassifizieren hat. Denn selbst wenn ein solcher Eingriff nur die Erfolgschancengleichheit beträfe und daher einer Rechtfertigung durch kollidierende Güter von Verfassungsrang im Grundsatz zugänglich wäre: Da es sich hier nicht um eine unwesentliche Verzerrung handelt, sondern um eine doppelte Erfolgschance, die manche Wähler*innen erhalten und andere eben nicht, wäre der Eingriff in die demokratische Gleichheit so schwerwiegend, dass eine Rechtfertigung unmöglich wäre. Verteidiger*innen dieses Modells wollen dem entgegenhalten, dass man diese starren Regeln des Mehrheitswahlrechts auf die Wahlkreiskandidatenkür nach dem reformierten Modell nicht anwenden dürfe, da ja gerade eine modifizierte Mehrheitswahl vorgenommen würde. Doch bei diesem Argument handelt es sich um einen Taschenspielertrick. Denn die Regel, nach der am Ende das Mandat vergeben werden soll, ist und bleibt die Mehrheitsregel (und nicht die Verhältnisregeln, die auf die Kür eines Einzelkandidaten auch schon aus logischen Gründen keine Anwendung finden kann). Daran muss sich der Mechanismus dann auch messen lassen.
Damit sind die verfassungsrechtlichen Probleme aber noch nicht vollständig benannt. Denn die Privilegierung derjenigen Wähler*innen, die für die/den ursprünglichen Wahlkreisersten gestimmt haben, verkehrt sich in einer möglicherweise notwendigen weiteren Runde der alternativen Kandidatenkür in ihr Gegenteil. Weil jede/r Wähler*in nämlich nur eine Ersatzstimme abgeben kann, können bei einer dritten Runde der Ergebnisermittlung keinerlei Stimmen dieser Wähler*innen mehr berücksichtigt werden – Haupt- und Ersatzstimme sind in den ersten beiden Runden bereits „verbraucht“ worden. Damit kommt aber bei der letztlich verbindlichen Ergebnisermittlung der Stimme dieser Wähler*innen überhaupt kein Zählwert mehr zu, ihre Stimme wird schlicht nicht berücksichtigt. Eine solche Ungleichheit des Zählwerts lässt sich aber verfassungsrechtlich nie rechtfertigen, weil sonst die Grundanforderungen an eine demokratische Wahl nicht mehr erfüllt wären.
Ein großes Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen
Jenseits dieser juristischen Detailfragen sollte aber auch ein weiteres Argument nicht vergessen werden, das sich auf der Grenzlinie zwischen juristischer und politischer Kritik befindet: Insbesondere die alternative Mandatszuteilung durch die Ersatzstimme macht das Wahlrecht für die Wähler*innen noch schwerer nachvollziehbar. Das ist nicht nur politisch problematisch, sondern stellt ab irgendeinem Punkt auch die Eignung der Wahl zur Vermittlung von Legitimität infrage. Dies könnte sich auch auf praktischer Ebene niederschlagen. Würde das Modell tatsächlich in der diskutierten Form beschlossen, erhielten die Wähler*innen in Zukunft drei Stimmzettel. Zwei von ihnen (derjenige für die Erststimme, die dann Personenstimme heißen soll, und derjenige für die Ersatzstimme) müssten im Hinblick auf die Kandidatenauswahl gleich aussehen, dürften aber nicht gleich ausgefüllt werden. Die Vermutung liegt nahe, dass der Anteil ungültiger Ersatzstimmen dabei ganz erheblich sein könnte.
Auch diese Reform wird, sollte sie beschlossen werden, mit größter Wahrscheinlichkeit in Karlsruhe landen. Aus der Union wurden schon entsprechende Schritte angekündigt. Das ist einerseits angesichts der offensichtlichen verfassungsrechtlichen Mängel der geplanten Reform begrüßenswert. Andererseits führt aber eine Situation, in der der Gesetzgeber beständig ein verfassungswidriges Wahlrecht beschließt, das dann vom Bundesverfassungsgericht einkassiert werden muss, nicht nur zu den genannten ungerechtfertigten Vorwürfen gegenüber dem Gericht. Es bringt Karlsruhe auch in die unaushaltbare Situation, ab irgendeinem Punkt entweder ein verfassungswidriges Wahlrecht passieren lassen zu müssen oder aber durch beständige Verwerfung des Wahlrechts, also der normativen Infrastruktur unserer Demokratie, selbst einen faktischen Baustein zur demokratischen Destabilisierung leisten zu müssen.
Die Schuld für die Misere dann an das Gericht zu delegieren, ist paradox. Denn das Elend mit dem Wahlrecht ist nichts anderes als ein großes Scheitern unserer parlamentarischen Strukturen, und zwar, wie man gerade sieht, unabhängig von den politischen Mehrheiten. Innerhalb des Parlaments sind es sind daher auf allen Seiten des politischen Spektrums wohl vor allem demokratische Krokodilstränen, die in den unterschiedlichen Konstellationen um das Wahlrecht vergossen wurden und weiter vergossen werden. Im aktuellen Verfahren scheint nicht einmal die Ampel-Koalition selbst von der Verfassungskonformität ihres Wahlrechts wirklich überzeugt zu sein, wenn es zu einer möglichen Verfassungsklage nur heißt, man sei beraten worden und könne jedenfalls „in den Verfahren gut argumentieren.“ Für einen derart zentralen Punkt unserer Demokratie ist das einfach nicht genug.
Sehr geehrte Frau Prof. Schönberger, Sie hatten Ihre Position zur Ersatzstimme ja schon in der Wahlrechtskommission vorgetragen und ich bin dankbar, Ihre Gedankengänge hier noch einmal in größerer Ausführlichkeit nachlesen zu können. Leider kann ich Ihre Argumentation aber teilweise immer noch nicht nachvollziehen und komme jedenfalls zu gänzlich anderen Schlussfolgerungen als Sie.
Bei der These, dass das reine Kappungsmodell (ohne Ersatzstimme) wahrscheinlich noch verfassungskonform ist, stimme ich völlig mit Ihnen überein – allerdings nur im Ergebnis, nicht in der Begründung. Sie sehen eine mögliche Verfassungswidrigkeit offenbar nur aus Sicht der Fast-Mandatsgewinner, die trotz relativer Mehrheit kein Mandat zugeteilt bekommen, nicht aber aus der Sicht der betroffenen Wähler/innen, deren Stimmen im Kappungsfall keinen Erfolgswert entfalten würden. Die Erststimmen dieser Wähler/innen blieben genauso unberücksichtigt wie jene Zweitstimmen, die auf Parteien entfallen, die unterhalb des Sperrquorums landen. Hier wie dort scheitert die Berücksichtigung der Stimmen an der fehlenden Zweitstimmendeckung der jeweiligen Partei, was auf den ersten Blick nicht nach einer Verfassungskonformität aussieht.
Doch bekanntlich kann eine Einschränkung de