Kurven und Kosten in Corona Times
Flatten the curve ist das Gebot der Stunde. Egal ob in sozialen Netzwerken oder in den täglichen Sondersendungen – überall die Grafik mit den zwei sich schneidenden Glockenkurven, die eine hoch und spitz, die andere eher flach und bauchig. Wer sie sieht, weiß intuitiv, welche Kurve vorzugswürdig ist: Bauchig muss sie sein, denn sie verläuft unterhalb der magischen Linie der Überlastung des Gesundheitssystems.
Dass Grafiken diese Macht haben, ist ein Segen. Wochenlang diskutierte das ganze Land halb besorgt, halb amüsiert über Corona, sah Bilder aus China, von Sperrzonen und öffentlichen Desinfektionsstellen. Christian Drosten und andere Virologen mahnten uns immer wieder, dass Corona anders ist, dass wir die Bedrohung ernstnehmen müssen – und wir feierten Karneval, als wäre nichts gewesen. Doch dann kamen die zwei Glockenkurven, und auf einmal sahen wir es mit eigenen Augen: Schaffen wir es nicht, die Kurve abzuflachen, werden Menschen sterben. Viele Menschen. Und wir begannen, unser Verhalten zu ändern. Erst freiwillig, nun mit immer stärkerem staatlichen Zwang. Und der Großteil von uns nimmt es hin, ja unterstützt die Maßnahmen sogar ausdrücklich, denn wir tun es ja aus einem guten Grund: Flatten the Curve!
Dass Grafiken diese Macht haben, ist ein Fluch. Denn die Corona-Kurve ist deshalb so kraftvoll, weil sie Komplexität reduziert. Sie enthält nur vier Informationen: Die Anzahl der Infektionen, wenn keine Maßnahmen gegen die Ausbreitung unternommen werden, die Anzahl der Infektionen, wenn Maßnahmen kommen, den Zeitraum, in dem es zu Erkrankungen kommt und die Grenzlinie, an der das Gesundheitssystem überfordert ist. Sie beschränkt sich so ausschließlich auf ein Kriterium: Die Gefahr für Menschenleben aufgrund einer Corona-Infektion. Worüber sie aber nichts sagt, sind die gesellschaftlichen Folgekosten. Und damit meine ich nicht nur die „harten“ Kosten für Unternehmen und Betriebe, sondern vor allem die sozialen Kosten, die mit den Eindämmungsmaßnahmen einhergehen. Kinder aus ärmeren Familien, die nicht mehr die Arche oder andere Hilfsorganisationen aufsuchen können, um zumindest ein warmes Essen am Tag zu bekommen. Beziehungen, die in Zeiten des Homeoffices in die Brüche gehen, wie man es etwa in China beobachten konnte. Geschweige denn von den institutionellen Verschiebungen im rechtsstaatlichen Gefüge, auf die Uwe Volkmann und Thorsten Kingreen in ihren Blogposts eindringlich hingewiesen haben.
Aber sind diese Kosten überhaupt relevant, wenn es um Menschenleben geht? Hat ein Menschenleben – zugespitzt formuliert – überhaupt ein Preisschild, bis zu dem wir bereit sind, es zu schützen? Auch ich habe keine befriedigende Antwort auf die altbekannte Gretchenfrage, und möglicherweise gibt es sie auch gar nicht. Aber es ist jedenfalls soziale Realität, dass wir auf Makroebene, bei gesamtgesellschaftlichen Fundamentalfragen typischerweise Nutzen mit Kosten aufrechnen, Vor- und Nachteile abwägen und so erst zu Kompromissen gelangen. Und es ist keineswegs so, dass Menschenleben hiervon ausgenommen sind. Sie haben nur, so makaber es klingt, einen mehr oder weniger hohen Preis. Uwe Volkmann und Thorsten Kingreen haben mit dem Straßenverkehr dafür ein gutes Beispiele geliefert, der exakt nach dieser Logik funktioniert. Umweltschutzstandards wie etwa zur Luftqualität sind ein anderes. Doch entsprechendes gilt für die Corona-Krise selbst. Und hier zeigt sich die Sprengkraft, ja – wenn es nicht so tragisch wäre – die Ironie der gegenwärtigen Situation in ihrer ganzen Schärfe: Die magische Linie der Corona-Kurve, die Belastungsgrenze des Gesundheitssystems, basiert ihrerseits auf einer Kosten-Nutzen-Betrachtung, einer Abwägungen von Menschenleben gegen Kosten der Intensivbetreuung. Dass wir in Deutschland rund 30.000 Intensivplätze haben, ist das Ergebnis eines Kompromisses. Wir sind als Gesellschaft bereit, trotz der damit verbundenen Kosten, medizinische Kapazitäten für Krisen vorzuhalten. Aber eben nur in einer bestimmten Größenordnung. Es ist gerade nicht so, dass Menschenleben bislang um jeden Preis geschützt werden. Wäre es so, hätten wir von vornherein mehr Betten und Pflegekräfte vorgehalten, denn das eine Pandemie möglich ist, ja kommen wird, war immer ein reelles Szenario. Nun ist es eingetreten. Und im Angesicht der Krise verschieben wir die ursprüngliche Kompromisslinie, erhöhen also gewissermaßen den Preis, den wir als Solidargemeinschaft bereit sind zu zahlen.
Dass diese Verschiebung innerhalb weniger Wochen möglich ist, ist per se bemerkenswert. Klimaaktivist*innen haben einen Punkt, es ist in der Tat bezeichnend, zu welchen Einschnitten eine Gesellschaft bereit ist, wenn sie denn will. Allerdings weist ihr Einwurf noch auf einen weiteren, tieferliegenden Aspekt hin: Die Corona-Krise ist auch und gerade ein handfester Generationenkonflikt. Denn wenn die bisherigen Erkenntnisse stimmen, dann ist die Krankheit vor allem für Risikogruppen gefährlich, und der weit größte Anteil davon sind ältere Menschen. Jüngere sind dagegen erheblich weniger gefährdet, allerdings treffen sie die Eindämmungsmaßnahmen besonders stark. Es geht hier nicht um den selbstverständlichen Verzicht auf Partys oder Grillen im Park, sondern um viel mehr. Versteht man Generationengerechtigkeit vor allem als eine Frage von Möglichkeiten und Chancen, wird sichtbar, dass die langfristigen Folgekosten das wahre Problem sind. Denn die Möglichkeiten und Chancen werden sich mit ziemlicher Sicherheit verschlechtern. Wenn die Eindämmungsmaßnahmen tatsächlich bis weit ins laufende Jahr anhalten und wenn die volkswirtschaftlichen Prognosen auch nur ansatzweise zutreffen, wird unsere Gesellschaft danach eine andere sein. Eine Gesellschaft im Lockdown vor dem ökonomischen Kollaps zu bewahren, ist sagenhaft teuer und wird deutliche Lücken in den öffentlichen Haushalten hinterlassen. Und diese Haushalte sind es, die Kitas, Schulausstattungen und Studienplätze finanzieren. Hier schlicht auf Solidarität der Jüngeren zu pochen, ist zu einfach.
Um es ausdrücklich klarzustellen: Damit ist nicht gesagt, dass wir deshalb die Eindämmungsmaßnahmen zurück fahren oder gar über Bord werfen sollten. Es ist eine der großartigsten, nicht hintergehbaren Errungenschaften moderner Gesellschaften, dass survival of the fittest gerade nicht der Maßstab ist. Aber es ist wichtig, diese Fragen nicht eindimensional anzugehen. Das Virus bedroht uns alle, und zwar auf eine extrem ambivalente Art und Weise. Dieser Ambivalenz müssen wir versuchen gerecht zu werden, auch und gerade im Krisenmodus. Dabei könnte die Kontrollfrage helfen, welchen Umgang wir präferieren würden, wenn wir die Folgen des Virus für uns selbst nicht abschätzen könnten. Welche allgemeine Regel würden wir wählen, wenn wir nicht wissen, ob wir jung oder alt sind, ob wir zur Risikogruppe zählen oder vor einem Leben mit Chancen und Möglichkeiten stehen? Es ist gut möglich, dass uns im Zweifel Vorsorge- und Eindämmungsmaßnahmen so wichtig sind, dass wir in jedem Fall die Folgekosten auf uns nehmen. Es kann sogar sein, dass wir erkennen, dass wir in bestimmten Punkten bislang auf dem Holzweg waren. Dass es fundamentale Fragen gibt, die wir erst gar nicht einer strengen Kosten-Logik unterwerfen wollen, wie etwa die Gesundheitsvorsorge oder auch die konsequente Bekämpfung des Klimawandels (womit Corona zumindest etwas Gutes hätte). Aber wir sollten in einem vielstimmigen gesellschaftlichen Diskurs darüber streiten und nicht die berühmte normative Kraft das Faktischen für uns entscheiden lassen. So wichtig es angesichts der verbreiteten Sorglosigkeit war – und auch noch immer ist – das Corona-Virus auf eine Schicksalsfrage um Leben und Tod zu zuzuspitzen, so wichtig ist es, sich möglichst schnell einzugestehen, dass es längst um viel mehr geht. Flatten the curve bringt nichts, wenn danach nur noch die Feststellung bleibt, dass alles platt ist.
Danke für Ihre Richtungsweisenden Gedanken die ich uneingeschränkt teile!!
Lieber Herr Schirmer, spontanes Kompliment für diesen Beitrag! Sie haben die Fragen, die den Beiträgen von Thorsten Kingreen und mir erst nur angerissen worden sind, um viele sinnvolle Überlegungen angereichert; damit wird langsam vielleicht doch eine Gegen-Sicht und eine Richtung deutlich, in der wir weiterdenken müssen. Und es muss darüber überhaupt auch erst einmal eine gesellschaftliche und politische Diskussion in Gang gebracht werden, wie Thorsten Kingreen und Sie das zu Recht fordern. Vielleicht noch eine Ergänzung, weniger hinsichtlich der Gesichtspunkte, die in die vorzunehmenden Abwägungen einzustellen sind, als hinsichtlich ihrer möglichen Bezugsobjekte: Wenn wir über Abwägung sprechen, geht es nicht um ein Entweder-Oder, also bloß die Entscheidung zwischen dem Hände-in-den Schoß-Legen (samt Hoffen auf die Herdenimmunität etc.) und dem nahezu totalen Shutdown der Gesellschaft, wie ihn Italien angesichts von 800 Toten pro Tag nun zu praktizieren versucht. Das Problem stellt sich vielmehr für jede einzelne der Maßnahmen, die derzeit und künftig ergriffen werden, von der Schließung der Schulen oder Kirchen bis hin zu der des kleinen Buchladens um die Ecke, den es in ein paar Wochen nicht mehr geben wird. Und auch hinsichtlich des möglichen Nutzens müssten wir vielleicht genauer differenzieren, wie viele Menschenleben durch die bloße Abflachung der Kurve (langfristig geht man ja wohl noch immer von einem Durchseuchungsgrad von 60-70 % aus) tatsächlich gerettet werden können (d.h. durch die Bereithaltung der Möglichkeit medizinischer Behandlung) und wie viele eben auf längere Sicht doch nicht; wenn wir den bitteren Realitäten der Krankheit ins Auge sehen, wird es immer Menschen geben, die so schwer erkranken, dass ihnen auch durch die beste Behandlung nicht zu helfen ist. Aber hoffen wir nun erst einmal, dass die jetzt ergriffenen Maßnahmen greifen werden und irgendwo Licht am Ende des Tunnels sichtbar wird; was sollen wir sonst auch machen?
Ein wirklich sehr erhellender Text, ganz herzlichen Dank! Und bei der Gelegenheit der Dank an das Team vom Verfassungsblog: Niemals war der Blog und Eure harte Arbeit wichtiger als in diesen Tagen!!!
Ihr Text, lieber Herr Schirmer, ist ehrlich, weil er zeigt, dass es keinen Königsweg gibt, aber er vermittelt doch eine Perspektive für den Mittelweg zwischen (einem möglicherweise noch konsequenteren) Schutz vor Infizierungen für Risikogruppen und kontrollierter Infizierung der anderen. Das heißt:
Auf der einen Seite frage ich mich, ob es wirklich noch sinnvoll ist, dass Risikogruppen nach wie vor selbst einkaufen gehen müssen; hier müssten wir vielleicht noch viel konsequenter sein und schnellstens eine Liefer-Infrastruktur etablieren und auszubauen, die es ja in den Großstädten zum Teil schon gibt.
Auf der anderen Seite müssen wir uns für die anderen Gruppen doch irgendwann eingestehen: Selbst wenn wir die jetzigen Abschottungsmaßnahmen noch Monate aufrecht erhalten würden, stünden wir nach einer Lockerung vor dem Problem einer neuerlichen Infektionswelle. Irgendwann müssen die meisten von uns Gesunden wohl einfach infizieren.
Sehr erhellend ist hier für mich: https://www.imperial.ac.uk/media/imperial-college/medicine/sph/ide/gida-fellowships/Imperial-College-COVID19-NPI-modelling-16-03-2020.pdf