Lammerts Eröffnungsrede zur Bundesversammlung gegen Trump und AfD – Darf der das?
Bundestagspräsident Norbert Lammert hat heute eine fulminante und bravouröse Rede zur Eröffnung der Bundesversammlung gehalten, mit einem starken Plädoyer gegen den Vormarsch nationalistischer und protektionistischer Politik in den USA, in Europa und nicht zuletzt auch Deutschland, gegen “America First” und für internationale Zusammenarbeit und die Europäische Union. Unüberhörbar war, wem Lammerts kritische Worte galten – einerseits dem frisch gewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump, andererseits aber auch der AfD und den von ihr entsandten Wahlmännern und -frauen. Dies zeigte gerade auch die Betonung der Holocaust-Erinnerungskultur für das internationale Ansehen Deutschlands, mit welcher sich Lammert indirekt auf die unsägliche Rede von Björn Höcke in Dresden bezog. Die Regie der Übertragung auf Phoenix tat das Übrige, um deutlich zu machen, wer gemeint war: Immer wieder blendete sie während dieses Redeteils die Versammlungsmitglieder aus der AfD, Frauke Petry, Alexander Gauland etc. ein – und nicht zuletzt auch den von der AfD vorgeschlagenen Bundespräsidentenkandidaten Albrecht Glaser, seines Zeichens selbst Mitglied der AfD-Führungsriege.
In den Medien wird die Rede zu Recht als gelungene Kritik an dem gegenwärtig grassierenden Populismus in Amerika und Europa gefeiert. Nun scheint mir aber das Problem zu sein, dass mit Albrecht Glaser gerade ein Vertreter dieser kritisierten politischen Strömung zur Wahl zum Bundespräsidenten stand. Angesichts der deutlichen Kritik Lammerts an der gerade auch von Glaser und seiner Partei getragenen Politik stellt sich mir bei aller Sympathie die Frage: darf er das verfassungsrechtlich eigentlich?
Nach § 8 S. 1 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten leitet der Präsident des Bundestages die Sitzungen und Geschäfte der Bundesversammlung. Diese kann beschließen, dass die Geschäftsordnung des Bundestages für ihren Geschäftsgang sinngemäß gilt, was die heutige Bundesversammlung im Anschluss an die Eröffnungsrede getan hat (mit der Abweichung, Anträge zur Geschäftsordnung und deren Begründung auf das Schriftliche zu beschränken). Nach § 7 Abs. 1 S. 2 der Geschäftsordnung des Bundestages wahrt der Bundestagspräsident die Würde und die Rechte des Bundestages, fördert seine Arbeiten, leitet die Verhandlungen gerecht und unparteiisch und wahrt die Ordnung im Hause. Sinngemäß muss das Gebot der Unparteilichkeit daher auch für die Eröffnungsrede in der Bundesversammlung gelten. Lammert wird in Ausübung dieses Amtes zur weitgehenden politischen Neutralität verpflichtet. Dass die sinngemäße Anwendung der Geschäftsordnung des Bundestages erst nach der Rede beschlossen wurde, ist für ihre Geltung schon während der Rede unerheblich: Bis zum Beschluss ihrer sinngemäßen Anwendung durch die Bundesversammlung gilt gemäß § 8 S. 2 des Gesetzes über die Wahl des Bundespräsidenten ebenfalls Geschäftsordnung des Bundestages sinngemäß, die nur für den Fall eines abweichenden Beschlusses von eben dieser Regel endet.
Erfüllt Lammerts Rede nun dieses Gebot der Unparteilichkeit? Das kann man zumindest mit Blick auf bestimmte Teile kaum behaupten. Letztlich hat Lammert mit seiner Rede vor den Mitgliedern der Bundesversammlung Wahlwerbung gegen den Kandidaten der AfD betrieben.
Es ist davon auszugehen, dass sich Lammert als erfahrener Kenner der Formalien seines Amtes dieser Problematik bewusst war. Dass er die Rede gleichwohl so gehalten hat, verdient aus politischer Sicht großen Respekt. Aus rechtlicher Perspektive aber bleibt sie (leider) dennoch problematisch: Man stelle sich nur einmal vor, eine gleichartige Rede gegen die Politik der Großen Koalition hätte ein AfD-Mitglied als Präsident oder Präsidentin des Bundestags zur Eröffnung der Bundesversammlung gehalten: Der Vorwurf des Missbrauchs dieses Leitungsrechts zu politischen Zwecken würde ihm oder ihr sofort um die Ohren gehauen. So sehr man die Rede inhaltlich loben und die Auffassung Lammerts teilen kann und sollte: man muss sich dabei auch die Frage stellen, ob sich ein Hinwegsehen über einen solchen Verfahrensverstoß aufgrund politischer Sympathien in Zukunft, in der sich die Mehrheitsverhältnisse gegebenenfalls umkehren, nicht rächt.
Verfassungsrechtlich interessant ist die Frage, was die AfD jetzt unternehmen könnte. Denkbar wäre ein Organstreit nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG, § 13 Nr. 5 BVerfGG. Die Wahl des Bundespräsidenten kann man zwar zumindest im Rahmen eines Organstreits nach dem Bundesverfassungsgericht (Rn. 63 ff.) nicht für ungültig erklären lassen. Ein Organstreitantrag könnte sich aber darauf richten, in Karlsruhe feststellen zu lassen, dass das passive Wahlrecht des Kandidaten der AfD aus Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG verletzt ist. Vor knapp drei Jahren hatte das Bundesverfassungsgericht bereits entschieden, dass die Mitglieder der Bundesversammlung mit eigenen Rechten durch das Grundgesetz und andere Rechtsakte ausgestattet und daher parteifähig sind (Rn. 61). Dies gilt gerade auch für den hier indirekt von Lammert angegriffenen Kandidaten der AfD. Ein auch denkbarer Antrag, festzustellen, dass die Wahl wegen der Rede ungültig war, wäre wohl auch in dem dafür statthaften Verfahren schon unzulässig: Die Mehrheitsverhältnisse zumindest dieser Bundesversammlung waren derart eindeutig, dass die Aussichtslosigkeit der Wahl des AfD-Kandidaten auch bei Unterlassen der problematischen Redeteile offenkundig wäre, selbst wenn man davon ausginge, dass einige Wahlmänner und -frauen sich von der Lammertrede in ihrer Entscheidung beeinflusst hatten lassen.
Jedenfalls für den Kandidaten der AfD ließe sich mit einigem Argumentationsaufwand zumindest auch die notwendige Antragsbefugnis im Organstreit begründen, denn Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG gibt jedem und jeder Deutschen das passive Wahlrecht, wenn er oder sie das vierzigste Lebensjahr vollendet hat und das Wahlrecht zum Bundestages besitzt. Das geschäftsordnungsrechtliche Gebot der Unparteilichkeit des Bundestagspräsidenten bei der Leitung der Bundesversammlung ist insoweit verfassungsrechtlich zwingend: Die Bühne des Bundestagspräsidenten zur Eröffnung der Bundesversammlung genießt enorme öffentliche Aufmerksamkeit und ist damit ein einmaliges Forum. Sie zur Verbreitung der eigenen politischen Ansichten zu nutzen, ist wegen dieser Breitenwirkung besonders verlockend. Macht er im Rahmen dieser Eröffnungsrede Wahlkampf für oder gegen einzelne Kandidaten und Kandidatinnen, beeinflusst dies potenziell die Mitglieder der Bundesversammlung in ihrer Wahlentscheidung, was wiederum die Wahlchancen der jeweiligen Kandidaten und Kandidatinnen erhöht oder mindert – durch eine staatliche Maßnahme. Die Leitung der Bundesversammlung ist aber eine verwaltungstechnische, keine politische Aufgabe und der Bundestagspräsident daher aus gutem Grund zur politischen Neutralität verpflichtet. Politisch äußern darf er sich im Bundestag, dort jedoch auch nur in seiner Funktion als Abgeordneter aus dem Plenum heraus, nicht aber als Bundestagspräsident auf dem Stuhl des Präsidiums. Da abweichend hiervon die Wahl des Bundespräsidenten gemäß Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ohne Aussprache erfolgt, entfällt die Möglichkeit politischer Äußerungen des Bundestagspräsidenten als Mitglied der Bundesversammlung in eben dieser Institution in Gänze.
Hinzu kommt, dass die Wahl nach Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ohne Aussprache erfolgt. Sinn und Zweck der Norm soll sein, das Ansehen und die Autorität des oder der künftigen Bundespräsidenten oder -präsidentin zu schützen – das Staatsoberhaupt steht als Repräsentant des Landes eben über der Parteipolitik. Auch dieses Gebot könnte Lammert verletzt haben, indem er – und noch dazu auch gerade nur er – sich eben doch politisch in der Sache äußerte. Sollte wider Erwarten doch der unliebsame Kandidat gewählt werden, steht ja auch die Frage im Raum, ob dann tatsächlich konkret er oder sie als gewählter Präsident oder Präsidentin in Ansehen und Autorität beschädigt ist. Die Bundesversammlung ist letztlich anders als der Bundestag kein politisches Forum, sondern nach dem Bundesverfassungsgericht “reines Kreationsorgan” (Rn. 90).
Dass ein solcher Antrag begründet wäre, scheint mir dann aber doch eher unwahrscheinlich. Die Mitglieder der Bundesversammlung bleiben frei in der Entscheidung, welchen Kandidaten sie wählen, und der Einfluss der Rede des Bundestagspräsidenten auf diese individuelle Wahlentscheidung wäre wohl eher unerheblich. Verlangt man für eine Verletzung des passiven Wahlrechts des Kandidaten zur Wahl des Bundespräsidenten das Übertreten einer gewissen Erheblichkeitsschwelle, wäre zwar immer noch die Geschäftsordnung der Bundesversammlung, aber eben nicht das verfassungsmäßige Wahlrecht des Bundespräsidentenkandidaten aus Art. 54 GG verletzt.
Anders sähe es allerdings aus, wenn ein Kandidat oder eine Kandidatin unter diesen Bedingungen tatsächlich gewählt würde – dann müsste er oder sie mit beschädigter Autorität ins Amt starten. Könnte das Bundesverfassungsgericht um einen entsprechenden Feststellungstenor herumkommen?
Folgt man meiner Argumentation, bleibt die Frage, was der Bundestagspräsident im Rahmen der Eröffnungsrede zur Bundesversammlungdann überhaupt sagen darf: historische Abrisse, Aufgaben und Bedeutung des Amtes des Bundespräsidenten beschreiben, die verfassungsrechtliche Lage und ihre Gründe darlegen, insbesondere etwa die zur nur indirekten Wahl des Bundespräsidenten. Er könnte auch allgemein verfassungsrechtlich garantierte Staatsstrukturprinzipien erörtern, wohl vor allem das Demokratieprinzip.
Keine Frage: die politische Auseinandersetzung mit dem Populismus und all seinen Gefahren soll und muss geführt werden, die Rede Lammerts war notwendig. Richtiger Ort hierfür ist nach dem Verfassungsgefüge des Grundgesetzes aber der Bundestag. Hier wird durch Verfahrensregeln wie der Festsetzung von Redeanteilen etc. eine strukturierte Debatte gewährleistet. Die Bundesversammlung vermag dies nach ihrer Konzeption nicht zu leisten: Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG verbietet gerade die mündliche Aussprache und damit die Möglichkeit zur Gegenrede. Äußert sich der Bundestagspräsident in der Bundesversammlung dann dennoch politisch, stört er die verfassungsrechtlich wohl austarierte Struktur des politischen Diskurses innerhalb der verfassungsmäßigen Institutionen.
nachträgl. Anmerkung: Unberücksichtigt gelassen hatte ich zunächst, dass im Rahmen des Organstreits nur organschaftliche Rechte geltend gemacht werden können. Ob das passive Wahlrecht aus Art. 54 Abs. 1 S. 1 GG ein solches organschaftliches Recht ist, ist zweifelhaft. Ob das Recht die Beschwerdebefugnis im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde begründet, ist aber ebenso unklar, da Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a) GG Art. 54 Abs. 1 S. 2 GG anders als Art. 38 GG gerade nicht nennt. Wie steht es also um die Justiziabilität um das passive Wahlrecht der Kandidaten?
Ohne zunächst in eine mögliche, rechtliche Bewertung eintreten zu wollen, stellt sich mir nach der Lektüre der gestrigen Rede – die auch ich durchweg gelungen fand – die Frage, wo genau Herr Lammert den Kandidaten der AfD expressis verbis kritisiert habe. Ausweislich des veröffentlichten Manuskripts als auch der Aufzeichnungen in diversen Kanälen ist diese mithin ausdrücklich nicht festzustellen. Etwaige redaktionelle Bilder der jeweiligen Sender sind zugegebenermaßen effektvoll, aber nicht Herrn Lambert – dessen persönliche Einflussnahme auf die Regie dann wohl in concreto gering bis nichtig sein sollte – anzulasten.
Betrachtet man sich das gestrige Wahltheater, zu dem man 1260 echte und falsche Schauspieler angekarrt hat, um die Statistenrolle des sogenannten Souveräns zu kaschieren, dann kommen bei mir Erinnerungen an die Volkskammer auf.
Man hätte sich letztendlich das ganze sparen können, da das Ergebnis dank Parteienklungel bereits Wochen vorher feststand, und damit kann dann auch Lammerts Fehlgriff die Sache nicht weiter runterziehen.
Ich bin nächste Woche in Mainz. Dort werden Büttenreden deutlich besser formuliert als in Berlin.
Präsident Gauck wird mir jedenfalls immer mit seinem bezeichnenden Satz in Erinnerung bleiben: “Die Eliten sind gar nicht das Problem, die Bevölkerungen sind das Problem.”
qed
Ich finde es etwas schade, dass Sie sich so sehr auf den (m.E. nachrangigen) prozessrechtlichen Teil konzentrieren.
Die Frage, ob Lammert gegen eine (bestehende?) Neutralitätspflicht verstoßen hat bleibt leider unbeantwortet.
Folgende Fragen stellen sich: Ergibt sich die Neutralitätspflicht wirklich aus der GOBT? Ist diese überhaupt justiziabel? Dann wohl doch eher direkt aus dem GG.
Weiter stellt sich die (am Ende angedeutete) Frage, inwieweit die Betonung und Interpretation von Verfassungsprinzipien (Antinationalsozialismus-Wunsiedel-Erinnerungskultur, Repräsentation vs. Populismus(?)) gegen Neutralitätspflichten verstoßen können?
Problematisch ist m.E. auch der Schluss von den Mehrheitsverhältnissen auf eine “Heilung“. Zugespitzt könnte so das BVerfG den Bundespräsidenten auch gleich selbst bestimmen. Eine Anlehnung an die Mandatsrelevant bei Parlamentswahlen geht m.E. fehl, da es sich in diesen Fällen um örtlich/zeitlich begrenzte Verstöße handelt.
Trotzdem vielen Dank für den Beitrag, der auch den Bundestagspräsidenten an seine Neutralitätspflicht erinnert. Das bestehen solcher hat Lammert iÜ auf einer Veranstaltung der KAS vor einiger Zeit i.Ü. abgestritten. Er könne sich auch als BTPräs auf Art. 5 I GG berufen. #abstrus
@Felix R.
“Antinationalsozialismus” als “Verfassungsprinzip” – das ist ja mal ne ganz neue, beängstigende Variante des Gesinnungsstaates….
Hier scheint eine neue Generation furchtbarer Juristen heranzuwachsen.