Länderleitentscheidungen durch das Bundesverwaltungsgericht
Der Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren
Die Entscheidungspraxis in Asylverfahren ist sowohl beim BAMF als auch bei den Gerichten uneinheitlich. Dabei hängt nicht nur die Beurteilung der Glaubwürdigkeit der Antragsstellenden von den jeweiligen Entscheider*innen oder Richter*innen ab, sondern auch die Beurteilung der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat. Die Bundesregierung schlägt nun vor, das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) sogenannte Länderleitentscheidungen treffen zu lassen, ihm also eine Tatsachenkompetenz zu grundlegenden Fragen zu verleihen. Die hinter der Uneinheitlichkeit stehenden Probleme werden damit nur teilweise gelöst. Statt auf top-down Lösungen zu setzen, sollte eine Rationalisierung der Entscheidungspraxis bottom-up angestrebt werden. Der Weg: Transparenz und eine wissenschaftliche Begleitung.
Das Bundesverwaltungsgericht als Tatsacheninstanz
Im Koalitionsvertrag verspricht die Ampelregierung „schnellere Entscheidungen in Asylprozessen sowie eine Vereinheitlichung der Rechtsprechung“. Diese Forderung hat sie nun in einem Gesetzesentwurf konkretisiert, der vom Bundeskabinett am 2. November 2022 gebilligt wurde. Neben dem Recht auf eine unabhängige Asylverfahrensberatung, Neuerungen zur BAMF-Anhörung und zur Widerrufsprüfung enthält der Entwurf eine grundlegende prozessrechtliche Reform: Zukünftig soll das BVerwG im Asylrecht nicht mehr nur über Rechtsfragen, sondern darüber hinaus auch über Tatsachenfragen von grundsätzlicher Bedeutung entscheiden. Eine solche Tatsachenrevision wäre möglich, wenn ein Oberverwaltungsgericht (OVG) die allgemeine Lage in einem Herkunftsstaat anders als ein anderes OVG oder als das BVerwG beurteilt. De lege lata ist dem BVerwG eine solche Entscheidung nicht möglich, weil es nach § 137 Abs. 2 VwGO keine eigene Tatsachenermittlung vornehmen kann. Das will der Gesetzesentwurf ändern. Die Bundesregierung erhofft sich davon mittel- und langfristig eine Beschleunigung der Verfahren und mehr Rechtssicherheit, weil Grundsatzfragen höchstgerichtlich und damit einheitlich geklärt würden. Wie so oft scheint für den Gesetzgeber das entscheidende Argument die Verfahrensbeschleunigung zu sein. Der Republikanische Anwält*innenverein (RAV) hat allerdings in seiner Stellungnahme zum Entwurf bereits zu Recht kritisiert, dass der genaue Zusammenhang zwischen einer Vereinheitlichung der Entscheidungspraxis und ihrer Beschleunigung nicht erklärt wird.
Die Bewertung kollektiver Gefährdungslagen
Uneinheitliche Entscheidungspraxis entsteht zu kollektiven Gefährdungslagen. In der asylrechtlichen Entscheidung müssen BAMF und Gerichte eine Prognose zur Gefährdung der Antragsteller*in im Herkunftsland vornehmen. In vielen Fällen muss zunächst fallübergreifend die Gefährdung eines Kollektivs bewertet werden, um anschließend die Gefährdung einzelner Antragsteller*innen abzuleiten. Bei der Flüchtlingseigenschaft muss zum Beispiel geklärt werden, ob syrischen Wehrdienstverweigerern grundsätzlich politische Verfolgung durch das Assad-Regime droht oder ob Jesiden im Nordirak vom ‚IS‘ verfolgt werden. Beim nationalen Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG geht es etwa darum, ob das Kollektiv der alleinstehenden, gesunden, jungen Männer bei der Rückkehr nach Afghanistan oder Nigeria von lebensbedrohlicher Verelendung betroffen ist und welche Risiko- und Schutzfaktoren (zB die persönliche Resilienz oder das familiäre Netzwerk) dafür bewertet werden müssen.
Der Ausgangspunkt der meisten Verfahren ist also die generelle Lage in einem Herkunftsstaat. Auf dieser Grundlage müssen dann – konkreter, aber noch oberhalb der Einzelfallbetrachtung – Gefährdungslagen für bestimmte Kollektive bewertet werden. Sowohl die generelle Lage als auch die Gefährdung bestimmter Kollektive ist von einer starken Dynamik geprägt. So hat sich etwa die humanitäre Situation in Afghanistan erst durch den Ausbruch der Corona-Pandemie und dann im August 2021 durch die Machtübernahme der Taliban immer wieder verändert, was insbesondere eine kontinuierliche Neubewertung der Gefährdung des Kollektivs der alleinstehenden, gesunden, jungen Männer bedeutet hat.
Es reicht nicht aus, das Bundesverwaltungsgericht zur Tatsacheninstanz zu machen
Die Zulassung von Länderleitentscheidungen durch das BVerwG kommt einer prozessrechtlichen Revolution gleich, sie wird das Problem der uneinheitlichen Bewertung kollektiver Gefährdungslagen aber nicht lösen. Es stellen sich zwei grundlegende Probleme: Erstens besteht die Gefahr, dass eine Entscheidung des BVerwG eine bestimmte Bewertung über einen längeren Zeitraum festschreibt, obwohl neue Entwicklungen im Zielstaat eine abweichende Einschätzung erfordern. Zweitens könnten das BAMF und die unteren Instanzen die Länderleitentscheidung als Schablone verwenden, ohne den Besonderheiten des jeweiligen Einzelfalls gerecht zu werden.
Insbesondere der lange Rechtsweg steht der Aktualität von Länderleitentscheidungen entgegen. Das Problem ist die Hürde zwischen erster Instanz und Berufungsgerichten. Aktuell müssen die Parteien die Berufung beim OVG beantragen und dabei umfangreich darlegen, dass es sich um eine klärungsbedürftige Tatsachenfrage von grundlegender Bedeutung handelt. Stattdessen sollte den Verwaltungsgerichten (VG) ermöglicht werden, die Berufung selbst zuzulassen. Damit würde die aufwändige Beantragung einer Berufungszulassung nicht den Prozessparteien obliegen und die VG könnten gezielt Verfahren auswählen, die relevante fallübergreifende Tatsachenfragen aufwerfen. Der Vorschlag war 2019 sowohl in einem Gesetzesentwurf der Grünen als auch in einem Gesetzesentwurf der SPD-geführten Bundesländer enthalten. Er wurde in der damaligen Anhörung des Innenausschusses von den Sachverständigen begrüßt. Es wäre sinnvoll, ihn auch im aktuellen Gesetzentwurf wieder aufzunehmen.
Die Gefahr für die Einzelfallgerechtigkeit bei folgenden Verfahren könnte abgeschwächt werden, wenn eine Länderleitentscheidung des BVerwG möglichst umfassend zur allgemeinen Lage im Herkunftsstaat Stellung nimmt. Das würde bedeuten, im Sinne eines obiter dictum gefahrenerhöhende Faktoren zu berücksichtigen, die für das vorliegende Verfahren nicht unmittelbar entscheidungserheblich sind. Wenn das Gericht etwa feststellt, dass syrische Wehrdienstverweigerer grundsätzlich nicht als Oppositionelle verfolgt werden, muss es, um dem Anspruch einer Leitentscheidung gerecht zu werden, auch eruieren, bei welchen Risikofaktoren eine solche Verfolgung doch anzunehmen ist. Das britische Country Guidance Verfahren, von dem die Idee der Tatsachenrevision inspiriert wurde, kann eine Orientierung bieten. Im Gesetzesentwurf von 2019 war außerdem eine Evaluation der Tatsachenrevision nach einigen Jahren gefordert, was im aktuellen Gesetzesentwurf ergänzt werden sollte.
Warum Entscheidungspraxis als bottom-up-Prozess sinnvoller ist
Bei der Tatsachenrevision kann es immer nur um besonders grundlegende Themen gehen, die über einen längeren Zeitraum die Entscheidungspraxis zu einem Herkunftsstaat bestimmen. Im Grunde passt die Lösung jedoch nicht zur verfassungsrechtlichen Konzeption der Tatsachenfindung im Verwaltungsverfahren, denn Rechtsprechung ist aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit „konstitutionell uneinheitlich“; zwischen Gerichten gibt es keine formalisierte Bindung. Trotzdem spielen fremde Gerichtsentscheidungen für die Rechtsfindung eine große Rolle. Sie sind dabei keine bindenden Vorgaben, sondern Teil eines Diskurses, der das Potenzial hat, die Entscheidungsfindung zu rationalisieren. Das gilt insbesondere für die Bewertung kollektiver Gefährdungslagen im Asylrecht. Die Tatsachengerichte nehmen in hohem Maße Bezug auf fremde Gerichtsentscheidungen, um die Lage in den Herkunftsländern zu beurteilen. Das führt zu einem Diskurs, der vor allem auf Ebene der ersten Instanz stattfindet. Die Entscheidungsfindung sollte deshalb weniger top-down als vielmehr bottom-up gestaltet werden. Folgende Veränderungen sind dafür sinnvoll:
Erstens legen das BAMF und viele Gerichte ihre Bewertung kollektiver Gefährdungslagen in den Entscheidungsgründen selten offen. Sie referieren häufig allgemeine Erkenntnisse zur Lage im jeweiligen Land und schließen von dort direkt auf den Einzelfall. So wird nicht deutlich, wie die Gefährdung eines Kollektivs unabhängig vom Einzelfall bewertet wird. Ein informierter Diskurs zwischen den Gerichten ist dann kaum möglich, weil die Entscheidungen nicht der dafür notwendigen Qualität entsprechen. Eine Ausnahme ist teilweise die Rechtsprechung zu Abschiebungsverboten nach Afghanistan, wo die Gerichte zunehmend die Bewertung kollektiver Gefährdungslagen transparent machen, bevor Einzelfälle darunter subsummiert werden. Bei anderen Herkunftsstaaten passiert das kaum. Die teilweise geringe Qualität der Entscheidungen wird auch durch das Berufungsrecht gefördert. Denn im Asylrecht kann sich die Berufung, anders als im normalen Verwaltungsverfahren, nicht auf die Unrichtigkeit der Entscheidung des VG stützen. Paradoxerweise riskiert das VG die Berufung also nur, wenn es sich umfangreich mit den Details der Lage im Herkunftsland auseinandersetzt und sich daraus eine grundlegende Tatsachenfrage oder eine Divergenz mit dem eigenen OVG ergibt. Geht es auf kollektive Gefährdungslagen erst gar nicht ein, ist der Weg zur Berufung versperrt. Das sollte sich ändern und eine Zulassung der Berufung auch bei offensichtlicher Unrichtigkeit der Entscheidung des VG erlaubt werden. Auch im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit ist diese Angleichung überfällig.
Zweitens sollten die Gerichte und das BAMF ihre Entscheidungen systematisch veröffentlichen und so sowohl den eigenen Diskurs als auch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung erleichtern. Die Gerichte veröffentlichen ihre Entscheidungen auf Urteilsdatenbanken wie juris oder Beck-Online. Manche Kammern veröffentlichen zwar viele, häufig gleichlautende Entscheidungen, andere veröffentlichen allerdings gar nicht. Fehlende Leitsätze und eine unübersichtliche Strukturierung erschweren die Navigation in den Entscheidungstexten. Das BAMF veröffentlicht seine Bewertung kollektiver Gefährdungslagen überhaupt nicht. Es arbeitet mit internen Weisungen, insbesondere sogenannten Herkunftsländerleitsätzen, mit denen die eigene Entscheidungspraxis vereinheitlicht werden soll. Sie sind jedoch weder den Gerichten noch der Öffentlichkeit zugänglich. Das Argument: Antragsteller*innen könnten sonst ihren Vortrag an die Leitsätze anpassen. Interessanterweise wird im aktuellen Gesetzesentwurf die Tatsachenkompetenz des BVerwG genau damit begründet, dass Antragsteller*innen so frühzeitig die Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels einschätzen können. Echte Transparenz sollte auf allen Ebenen der Maßstab sein für eine Entscheidungspraxis, die hunderttausende Menschen betrifft.
Zur Bewertung kollektiver Gefährdungslagen ziehen die Gerichte Herkunftslandinformationen heran. Vor allem die Lageberichte des Auswärtigen Amtes sowie dessen Auskünfte auf konkrete Anfragen sind wichtige Erkenntnismittel in Asylverfahren, sind aber ‚Verschlusssachen‘ und müssen gegen teilweise hohe Gebühren über das Informationsfreiheitsgesetz erfragt werden. Sie sollten grundsätzlich freigegeben werden. Weitere Länderberichte stammen von Nichtregierungsorganisationen oder internationale Stellen wie UNHCR und EuAA (ehemals EASO), wobei letztere häufig über die Darstellung der Lage im Herkunftsstaat bereits Hinweise zur rechtlichen Einordnung geben. Wenn das BVerwG zur Tatsacheninstanz wird, sollte es, drittens, mit einer Fachstelle ausgestattet werden, die die Richter*innen bei der Ermittlung und Auswertung der Fülle dieser unterschiedlichen Informationen unterstützt. OVG sind teilweise bereits mit solchen Stellen ausgestattet. Mit ihnen muss sich eine potenzielle neue Stelle am BVerwG eng vernetzen. Neben der Unterstützung beim Landeswissen sollte die Fachstelle außerdem die Entscheidungspraxis in Form von öffentlich zugänglichen Rechtsprechungsübersichten wissenschaftlich aufbereiten, um den Diskurs der unteren Instanzen abzubilden. Aufgrund der vielen unterschiedlichen Fallkonstellationen ist dieser Diskurs auch nach Einführung der Tatsachenrevision weiterhin maßgeblich. Sinnvoll sind solche Übersichten aber nur dann, wenn sie, siehe oben, auf Grundlage einer systematischen Veröffentlichungspraxis und einer strukturierten Entscheidungsbegründung zu kollektiven Gefährdungslagen erstellt werden.
Trotz kollektiver Gefährdungslagen: Der Einzelfall zählt
Weiterhin tragen einzelne Entscheider*innen und Richter*innen die Verantwortung für die Richtigkeit der Entscheidung. Sie müssen dabei eine eigene Überzeugung gewinnen und diese tagesaktuell an die Umstände der jeweiligen Antragsteller*in anpassen. Je stärker die Bewertung kollektiver Gefährdungslagen auf höhere Gerichte verlagert wird, desto größer ist die Gefahr, dass die Überzeugungsbildung hinter einem ‚blinden‘ Vertrauen auf fremde Bewertungen zurücktritt. Statt eine Vereinheitlichung auf Kosten der Einzelfallgerechtigkeit zu riskieren, sollte die Entscheidungsfindung rationalisiert werden durch einen stärkeren Diskurs der Entscheidungspraxis. Dazu braucht es eine Unterstützung der Meinungsbildung, durch systematische Transparenz und wissenschaftliche Begleitung.