30 July 2012

Laudatio für Gertrude Lübbe-Wolff aus Anlass der Verleihung des Hegel-Preises am 24. Juli 2012 in Stuttgart

Einer der zahlreichen Vorträge von Gertrude Lübbe-Wolff beginnt folgendermaßen: „Herr Gerhardt hat mich eingeladen, etwas über die aktuelle Bedeutung von Hegels Rechtsphilosophie zu sagen. Nichts lieber als das. An der Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie leide ich geradezu, und über das, woran man leidet, spricht man ja gern. Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie zeigt sich mir darin, dass ich öfter an Hegel denken muss, als mir lieb ist. Ich muss so oft an ihn denken, weil in unserer öffentlichen Kultur das Hegelwidrige so präsent ist.“

Der Hegel-Preis wird zwar für Verdienste um die Entwicklung der Geisteswissenschaften vergeben, nicht speziell für die Pflege der Hegelschen Philosophie. Aber selbst wenn er enger definiert wäre – das will ich mit dem Zitat ausdrücken -, hätten wir in Gertrude Lübbe-Wolff eine würdige Preisträgerin. Hegel gehört zu den Referenzpersonen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Bezugnahmen auf ihn ziehen sich durch die verschiedenen Stadien ihrer Forschung. Vier Aufsätze zwischen 1981 und 2009 erweisen sich schon im Titel als Auseinandersetzungen mit Hegel. Bei anderen begegnet man ihm im Text, und zwar nicht nur in den rechtsphilosophischen Abhandlungen der Autorin, sondern auch in den rechtsdogmatischen. In ihrer einflussreichen grundrechtsdogmatischen Habilitationsschrift ist Hegel zwar nicht der einzige zitierte Philosoph, aber als einziger kommt er ausführlich mit seinem Freiheitsverständnis zu Wort, weil neuere Variationen desselben Themas dem nichts mehr hinzugefügt hätten.

Die Neugier auf das Hegelwidrige, die ich möglicherweise mit dem Eingangszitat geweckt habe, will ich ungestillt lassen, um der Preisträgerin nicht vorzugreifen, falls sie darauf eingehen möchte, wie man unsere öffentliche Kultur mit Hilfe Hegels heben könnte. Was sie am Umgang mit Hegel kränkt, ist, dass sein Bild weithin von wenigen, genaugenommen drei, Formeln geprägt wird, die isoliert betrachtet Hegel dem Verdacht aussetzen, ein Wegbereiter des Totalitarismus zu sein: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, das Wirkliche als das Vernünftige, der Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee. Gertrude Lübbe-Wolff holt diese Textstellen in ihren Kontext zurück und deutet sie aus der Gesamtheit des Hegelschen Werks und der historischen Konstellation, in der und für die sie geschrieben wurden. Das ist charakteristisch für ihre Arbeitsweise. Verlass auf oberflächliche Eindrücke und ungefähre Auskünfte sind ihre Art nicht. Sie erlegt sich die Anstrengung der Gründlichkeit und Genauigkeit auf und erwartet sie auch von anderen, die in der Sache mitreden wollen.

Gertrude Lübbe-Wolff wäre allerdings als Rechtsphilosophin, die an Hegels Aktualität erinnert, nur unvollkommen gewürdigt. Die Philosophie ist sozusagen ihre familiäre Mitgift. Ich kann Ihnen einen Satz nicht vorenthalten, der sich in einem ganz und gar untypischen, sehr persönlichen Artikel findet. Zehn Juristen aus verschiedenen Ländern waren von einer Zeitschrift für vergleichendes Verfassungsrecht aufgefordert worden, je zehn Bücher zu nennen, die für ihre intellektuelle Entwicklung besonders wichtig waren, unter ihnen Gertrude Lübbe-Wolff. Zu ihren zehn Büchern zählten (nach meinen Einleitungsworten nicht mehr verwunderlich) Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“. In der Begründung heißt es: „Hegel is the third of the really important philosophers in my life. The two most important ones are my father and my husband.”

Was Gertrude Lübbe-Wolff auszeichnet, ist gerade nicht das Kreisen um einen philosophischen Fixpunkt, sondern ein doppelter Brückenschlag: der zwischen Philosophie und Jurisprudenz und der zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Die Felder, auf denen sie sich wissenschaftlich bewegt, sind zahlreich. Dazu gehören neben der Rechtsphilosophie das Verfassungsrecht, das Verwaltungsrecht, das Europarecht, die Rechtstheorie und die Rechtsgeschichte. Ein Gegenstand ragt aber schon bei rein quantitativer Betrachtung hervor. Mehr als die Hälfte ihrer Publikationen ist dem Umweltrecht gewidmet. Im Umweltrecht fand auch der erste Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis statt. Hier war sie zwischen Habilitation und Professur vier Jahre lang, von 1988 bis 1992, als Leiterin des Umweltamts der Stadt Bielefeld tätig.

Damals hatte sie sich als Umweltrechtlerin bereits einen Namen gemacht, beginnend mit einem Aufsatz von 1984 über die rechtliche Kontrolle inkrementaler summierter Gefahren am Beispiel des Immissionsschutzrechts. Bedingt durch die praktische Tätigkeit spitzte sich das wissenschaftliche Interesse auf das Wasserrecht zu. Da wird es dann auch ganz lebensnah: Undichte öffentliche Kanäle,  private Grundstücksentwässerung, Abwassersatzungen, Klärschlamm. Das sind Fragen, die sich dem wissenschaftlich arbeitenden Juristen gewöhnlich erst stellen, nachdem sie die praktischen Entscheidungsinstanzen, Verwaltungsbehörden und Gerichte, durchlaufen haben. Dem Wissenschaftler, der mit ihnen bereits im Normsetzungs- oder Rechtsanwendungsstadium zu tun hatte, vermitteln sie einen unschätzbaren Erfahrungsvorsprung.

Es ist schon häufiger bemerkt worden, dass die Defizite des Umweltschutzes weniger in der Gesetzgebung als in der Rechtsdurchsetzung liegen. Vollzugsfragen spielen deswegen eine erhebliche Rolle in den umweltrechtlichen Publikationen von Gertrude Lübbe-Wolff. Von diesen Erfahrungen zehren die von ihr verfassten oder herausgegebenen umweltrechtlichen Schriften auch nach der Rückkehr in die Wissenschaft, nämlich auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, nachdem sie einen vorangegangenen Ruf an die Universität Frankfurt ausgeschlagen hatte. Der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den sie 2000 erhielt, gab ihr die Möglichkeit, die Forschungen in größerem Maßstab fortzusetzen und auf Fragen der Wirkung von Recht allgemein zu erstrecken. Rechtswirkungsforschung ist zu einem ihrer bevorzugten Themen geworden.

Besonders bemerkenswert ist indessen, dass auch die praxis-orientierten Publikationen nicht unverbunden neben den rechtsphilosophischen, rechtstheoretischen, rechtshistorischen und verfassungsrechtlichen Abhandlungen stehen. Ich ziehe als Beispiel dafür eine kleine Schrift über „Recht und Moral im Umweltschutz“ von 1999 heran. Gertrude Lübbe-Wolff nahm  damit ein Thema wieder auf, das schon früh ihr Interesse gefunden hatte: das Verhältnis von Recht und Moral. Auslöser der Schrift war die noch heute anzutreffende Forderung nach Deregulierung im Umweltrecht, begründet teils ökonomisch mit der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Wirtschaft durch Entlastung von kostspieligen Auflagen, teils moralisch mit der Vorzugswürdigkeit von Eigenverantwortung vor Fremdsteuerung.

Gertrude Lübbe-Wolff diskutiert diese Forderung unter dem Gesichtspunkt der Aussichten auf eine effektive Lösung von Umweltproblemen, wenn das Recht als Steuerungsressource durch Moral ersetzt wird. Sie weist dabei auf zwei Besonderheiten hin, einmal auf die Eigenart des Gutes, um dessen Schutz es geht, also die Luft, das Wasser etc., zum anderen auf die Handlungsbedingungen derer, die diese Güter durch ihr Verhalten gefährden. Was die Güter angeht, so handelt es sich um solche, bei denen exzessiver Verbrauch, Wasserentnahme oder Nutzung der Gewässer zur Schadstoffentsorgung zum Beispiel, nicht spezifisch dem Nutzer zum Nachteil gereicht, sondern der Allgemeinheit, und bei dem Gebrauchsverzichte nicht spezifisch dem Nutzer, sondern ebenfalls der Allgemeinheit zugutekommen. Es geht mit einem Wort um Kollektiv- oder Gemeinschaftsgüter.

Was die Handlungsbedingungen anbelangt, so fällt ins Gewicht, dass der Beitrag des Einzelnen (zum Beispiel des einzelnen Autofahrers) zum Gesamtschaden minimal ist, sein Verzicht also die Umweltbelastung nicht spürbar reduziert. Unter diesen Umständen hängt die Verzichtbereitschaft aber davon ab, dass der Einzelne mit dem Verzicht nicht allein bleibt, sondern von vielen begleitet wird. Der individuelle Konsum ist freilich nur eine Seite des Problems. Erwerbswirtschaftliche Produktion ist die andere. Hier wird moralgeleitetes Verhalten nicht nur nicht belohnt, sondern sogar bestraft. Der Unternehmer, der die Umweltbelastung aus moralischen Erwägungen durch kostspielige Maßnahmen drosselt, verteuert sein Produkt. Er wird vom Markt verdrängt und verfehlt überdies sein Ziel, weil ein weniger skrupulöser Unternehmer seinen Platz einnimmt. In Gertrude Lübbe-Wolffs Worten: „Mit der Befolgung moralischer Grundsätze, die gravierende Verzichtleistungen außerhalb eines Zusammenhangs gesicherter Gegenseitigkeit bzw. Verallgemeinerung erfordern, sind die Menschen im allgemeinen überfordert.“

Von da ist es nicht weit zu Hegel und seiner Einsicht, dass es auf die Schaffung institutioneller Bedingungen ankommt, die egoistisches Verhalten erschweren und gemeinverträgliches begünstigen. Das kann nur durch Recht gelingen. Es wird jedem klar sein, dass es daher nicht um eine Entgegensetzung von Recht und Moral oder gar um eine Diskreditierung der Moral geht, sondern um die richtigen Einsatzorte für das eine und das andere Steuerungsmittel und ihre wechselseitige Stützung. Man kann dann immer noch deregulieren, wo überreguliert worden ist. Aber man kann Deregulierung nicht mehr pauschal als den besseren Weg zum Umweltschutz ausgeben. Es stimmt zuversichtlich, dass man mit einer solchen Grundeinstellung zur Vorsitzenden des Sachverständigenrats für Umweltfragen der Bundesregierung berufen werden kann.

Auch der Weg zu europäischen Themen führte für Gertrude Lübbe-Wolff  über das Umweltrecht. Dieses ist besonders stark von Europarecht überlagert oder geprägt. Ab den neunziger Jahren tritt es in ihren Schriften immer stärker in Erscheinung. Ins Allgemeinere musste sie ausgreifen, als ihr die Staatsrechtslehrervereinigung für die Jahrestagung 2000 das Thema „Europäisches und nationales Verfassungsrecht“ anvertraute. Damals konnte sie noch nicht ahnen, dass sie mit diesem Thema bald in eine Nahebeziehung treten sollte, nämlich durch das, was mittlerweile zu ihrer Hauptbeschäftigung geworden ist: Richterin im Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts. Sie wurde es im Jahr 2002, nachdem die Frage, ob sie bereit wäre, dieses Amt zu übernehmen, schon dreimal vorher an sie herangetreten, aber von ihr verneint worden war, weil die Familienpflichten es noch nicht erlaubten.

Mit dem Einzug in das Gericht verlagerte sich der Schwerpunkt ihrer Arbeit zum zweiten Mal von der Wissenschaft auf die Praxis und erlaubte ihr einen neuen Brückenschlag. Er verlagerte sich aber auch auf neue Themen. Man wird in Karlsruhe selten auf den Feldern eingesetzt, auf denen man seine Meriten erworben hat. Gertrude Lübbe-Wolff musste sich im Zweiten Senat als Berichterstatterin vornehmlich mit Strafvollzug und Asylrecht befassen. Das schlug sich bald auch in ihren Publikationen nieder. Später ging das Asylrecht in andere Hände über und neue Materien traten hinzu wie die bundesstaatliche Verteilung der Gesetzgebungskompetenzen und neuerdings das Finanzverfassungs- und das Haushaltsrecht. Damit ist es allerdings nicht getan. Jedes Mitglied des Gerichts hat Anteil an der ganzen Breite der Zuständigkeiten seines Senats.

Gertrude Lübbe-Wolff erhält den Hegel-Preis freilich nicht für ihre richterliche Tätigkeit. Das wäre auch unpassend. Trotzdem will ich diese Seite ihres Wirkens nicht gänzlich übergehen. Rechtsprechung und Rechtswissenschaft sind keine grundverschiedenen Tätigkeitsfelder. Die Methode, mit der man verfassungsrechtliche Probleme angeht, ist dieselbe. Die Unterschiede liegen auf einer anderen Ebene. Als Wissenschaftler sucht man sich seine Themen, als Verfassungsrichter bekommt man sie zugewiesen. Während man als Wissenschaftler nur kraft der Autorität des Arguments wirkt, hat man als Richter Entscheidungsbefugnis. Doch fällt man die Entscheidungen nicht allein. Sie sind das Ergebnis einer Beratung im Kollegium. Es genügt also nicht, dass man sich selbst zu einer Meinung durchringt. Man muss auch noch sieben Kollegen und Kolleginnen davon überzeugen.

Das geschieht freilich im Schutz des Beratungsgeheimnisses. Der Außenwelt bleibt der Anteil des einzelnen Richters, ja, meist sogar seine Stimmabgabe verborgen. Der einzelne Richter wird  nur in zwei Situationen deanonymisiert: wenn er in der Mündlichen Verhandlung das Wort ergreift und wenn er ein Sondervotum, eine dissenting opinion, verfasst. Wie steht es damit bei Gertrude Lübbe-Wolff?  Eines kann man auch als Außenstehender sagen: Sie ist als Richterin wie als Wissenschaftlerin eine Person von großer Eigenständigkeit und Eigenwilligkeit. In dem schon erwähnten Artikel über die einflussreichsten Bücher schildert sie ihre Schwierigkeiten, der Bitte um eine solche Liste überhaupt nachzukommen. „The reason may be the reluctance to accept the idea that any single book has had the power to influence me at all.“  Dann folgt das Eingeständnis, dass sie neun der zehn schließlich ausgewählten Bücher gelesen hatte, ehe sie 25 Jahre alt wurde. Ich lernte sie ein Jahr später kennen. Da war an Einfluss schon nicht mehr zu denken.

Es hat also nichts Überraschendes, dass Gertrude Lübbe-Wolff im Bundesverfassungsgericht eine große Dissenterin geworden ist, freilich nur nach deutschen Maßstäben. Sie hat in den zehn Jahren ihrer Zugehörigkeit zum Gericht neun Abweichende Meinungen abgegeben, so viele, wie ein Mitglied des amerikanischen Supreme Court in einem halben Jahr schreibt. Aber in Deutschland wird sie mit neun Sondervoten in diesem Zeitraum nur von ihrem Kollegen Gerhardt mit zehn übertroffen. Manche mögen daraus schließen, sie sei streitlustig. Das würde die Sache aber nicht treffen. Sie ist insistent, und sie ist nicht gewohnt, ihren Dissens zu verstecken oder in Watte zu packen. Ein Sondervotum aus dem Jahr 2004 beginnt mit den Worten: „Der Senat antwortet auf Fragen, die der Fall nicht aufwirft, mit Verfassungsgrundsätzen, die das Grundgesetz nicht enthält.“ Nicht immer gelingt einem Senat der Hegelsche Schritt von der These über die Antithese zur Synthese. Auch nach der ernsthaftesten Erörterung können Meinungsverschiedenheiten über die richtige Lösung bestehen bleiben. Aber es kommt vor, dass die Minderheit von gestern zur Mehrheit von morgen wird.

Zur Zeit wird das Bild der Öffentlichkeit vom Verfassungsgericht ganz von den Europa-Fragen beherrscht, die es zu entscheiden hat. Liest man Gertrude Lübbe-Wolffs europarechtliche Schriften, dann kann kein Zweifel daran bestehen, dass der in der Präambel des Grundgesetzes erklärte Wille des Deutschen Volkes, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, auch der ihre ist. Zu der neuerdings akut gewordenen Debatte über die Sperrwirkung von Artikel 79 Absatz 3 des Grundgesetzes hat sie schon in ihrem Vortrag auf der Staatsrechtslehrertagung im Jahr 2000 gesagt, diese Bestimmung wolle einen Rückfall Deutschlands in die Despotie verhindern. Das werde durch nichts besser gewährleistet als durch die europäische Integration. In der Abweichenden Meinung zur Karlsruher Entscheidung über den europäischen Haftbefehl hat sie das bekräftigt.

Lassen Sie mich noch ein letztes Mal die Liste der einflussreichsten Bücher hervorholen, weil sie eine Farbschicht freilegt, die unter den sonstigen schriftlichen Zeugnissen aus Gertrude Lübbe-Wolffs Feder eher verborgen bleibt. Die Liste enthält nur einen einzigen juristischen Autor, der aber gleich mit zwei Werken vertreten ist, „Der Zweck im Recht“ und „Der Kampf ums Recht“: Rudolf von Jhering. Gertrude Lübbe-Wolff würde ihn gern an Stelle Savignys auf dem Thron des größten deutschen Juristen sehen. An ihm rühmt sie unter manchem anderen seinen Sinn dafür – Sie erkennen das Hegelsche Thema wieder -, wie viel gute Sitten mit guten Gesetzen zu tun haben. Als Richterin verdanke sie ihm, „that I know the importance of what I am doing not only when examining the Treaty of Lisbon (heute müsste sie wohl schreiben: den Fiskalpakt) but also when dealing with the so-called petty cases“.

Für Rechtsprechung gibt es, wie gesagt keinen Hegel-Preis. Aber die wissenschaftliche und persönliche Haltung, die auch in den Judikaten zum Ausdruck kommt, hat ihn sehr wohl verdient.

Dieter Grimm ist Professor für Öffentliches Recht an der Humboldt-Universität zu Berlin und Permanent Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin, dessen Rektor er von 2001 bis 2007 war. Von 1987 bis 1999 war Dieter Grimm Richter des Bundesverfassungsgerichts.

Von DIETER GRIMM

Einer der zahlreichen Vorträge von Gertrude Lübbe-Wolff beginnt folgendermaßen: „Herr Gerhardt hat mich eingeladen, etwas über die aktuelle Bedeutung von Hegels Rechtsphilosophie zu sagen. Nichts lieber als das. An der Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie leide ich geradezu, und über das, woran man leidet, spricht man ja gern. Die Aktualität der Hegelschen Rechtsphilosophie zeigt sich mir darin, dass ich öfter an Hegel denken muss, als mir lieb ist. Ich muss so oft an ihn denken, weil in unserer öffentlichen Kultur das Hegelwidrige so präsent ist.“

Der Hegel-Preis wird zwar für Verdienste um die Entwicklung der Geisteswissenschaften vergeben, nicht speziell für die Pflege der Hegelschen Philosophie. Aber selbst wenn er enger definiert wäre – das will ich mit dem Zitat ausdrücken -, hätten wir in Gertrude Lübbe-Wolff eine würdige Preisträgerin. Hegel gehört zu den Referenzpersonen ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Bezugnahmen auf ihn ziehen sich durch die verschiedenen Stadien ihrer Forschung. Vier Aufsätze zwischen 1981 und 2009 erweisen sich schon im Titel als Auseinandersetzungen mit Hegel. Bei anderen begegnet man ihm im Text, und zwar nicht nur in den rechtsphilosophischen Abhandlungen der Autorin, sondern auch in den rechtsdogmatischen. In ihrer einflussreichen grundrechtsdogmatischen Habilitationsschrift ist Hegel zwar nicht der einzige zitierte Philosoph, aber als einziger kommt er ausführlich mit seinem Freiheitsverständnis zu Wort, weil neuere Variationen desselben Themas dem nichts mehr hinzugefügt hätten.

Die Neugier auf das Hegelwidrige, die ich möglicherweise mit dem Eingangszitat geweckt habe, will ich ungestillt lassen, um der Preisträgerin nicht vorzugreifen, falls sie darauf eingehen möchte, wie man unsere öffentliche Kultur mit Hilfe Hegels heben könnte. Was sie am Umgang mit Hegel kränkt, ist, dass sein Bild weithin von wenigen, genaugenommen drei, Formeln geprägt wird, die isoliert betrachtet Hegel dem Verdacht aussetzen, ein Wegbereiter des Totalitarismus zu sein: Freiheit als Einsicht in die Notwendigkeit, das Wirkliche als das Vernünftige, der Staat als Wirklichkeit der sittlichen Idee. Gertrude Lübbe-Wolff holt diese Textstellen in ihren Kontext zurück und deutet sie aus der Gesamtheit des Hegelschen Werks und der historischen Konstellation, in der und für die sie geschrieben wurden. Das ist charakteristisch für ihre Arbeitsweise. Verlass auf oberflächliche Eindrücke und ungefähre Auskünfte sind ihre Art nicht. Sie erlegt sich die Anstrengung der Gründlichkeit und Genauigkeit auf und erwartet sie auch von anderen, die in der Sache mitreden wollen.

Gertrude Lübbe-Wolff wäre allerdings als Rechtsphilosophin, die an Hegels Aktualität erinnert, nur unvollkommen gewürdigt. Die Philosophie ist sozusagen ihre familiäre Mitgift. Ich kann Ihnen einen Satz nicht vorenthalten, der sich in einem ganz und gar untypischen, sehr persönlichen Artikel findet. Zehn Juristen aus verschiedenen Ländern waren von einer Zeitschrift für vergleichendes Verfassungsrecht aufgefordert worden, je zehn Bücher zu nennen, die für ihre intellektuelle Entwicklung besonders wichtig waren, unter ihnen Gertrude Lübbe-Wolff. Zu ihren zehn Büchern zählten (nach meinen Einleitungsworten nicht mehr verwunderlich) Hegels „Grundlinien der Philosophie des Rechts“. In der Begründung heißt es: „Hegel is the third of the really important philosophers in my life. The two most important ones are my father and my husband.”

Was Gertrude Lübbe-Wolff auszeichnet, ist gerade nicht das Kreisen um einen philosophischen Fixpunkt, sondern ein doppelter Brückenschlag: der zwischen Philosophie und Jurisprudenz und der zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspraxis. Die Felder, auf denen sie sich wissenschaftlich bewegt, sind zahlreich. Dazu gehören neben der Rechtsphilosophie das Verfassungsrecht, das Verwaltungsrecht, das Europarecht, die Rechtstheorie und die Rechtsgeschichte. Ein Gegenstand ragt aber schon bei rein quantitativer Betrachtung hervor. Mehr als die Hälfte ihrer Publikationen ist dem Umweltrecht gewidmet. Im Umweltrecht fand auch der erste Brückenschlag zwischen Theorie und Praxis statt. Hier war sie zwischen Habilitation und Professur vier Jahre lang, von 1988 bis 1992, als Leiterin des Umweltamts der Stadt Bielefeld tätig.

Damals hatte sie sich als Umweltrechtlerin bereits einen Namen gemacht, beginnend mit einem Aufsatz von 1984 über die rechtliche Kontrolle inkrementaler summierter Gefahren am Beispiel des Immissionsschutzrechts. Bedingt durch die praktische Tätigkeit spitzte sich das wissenschaftliche Interesse auf das Wasserrecht zu. Da wird es dann auch ganz lebensnah: Undichte öffentliche Kanäle,  private Grundstücksentwässerung, Abwassersatzungen, Klärschlamm. Das sind Fragen, die sich dem wissenschaftlich arbeitenden Juristen gewöhnlich erst stellen, nachdem sie die praktischen Entscheidungsinstanzen, Verwaltungsbehörden und Gerichte, durchlaufen haben. Dem Wissenschaftler, der mit ihnen bereits im Normsetzungs- oder Rechtsanwendungsstadium zu tun hatte, vermitteln sie einen unschätzbaren Erfahrungsvorsprung.

Es ist schon häufiger bemerkt worden, dass die Defizite des Umweltschutzes weniger in der Gesetzgebung als in der Rechtsdurchsetzung liegen. Vollzugsfragen spielen deswegen eine erhebliche Rolle in den umweltrechtlichen Publikationen von Gertrude Lübbe-Wolff. Von diesen Erfahrungen zehren die von ihr verfassten oder herausgegebenen umweltrechtlichen Schriften auch nach der Rückkehr in die Wissenschaft, nämlich auf einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld, nachdem sie einen vorangegangenen Ruf an die Universität Frankfurt ausgeschlagen hatte. Der Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den sie 2000 erhielt, gab ihr die Möglichkeit, die Forschungen in größerem Maßstab fortzusetzen und auf Fragen der Wirkung von Recht allgemein zu erstrecken. Rechtswirkungsforschung ist zu einem ihrer bevorzugten Themen geworden.

Besonders bemerkenswert ist indessen, dass auch die praxis-orientierten Publikationen nicht unverbunden neben den rechtsphilosophischen, rechtstheoretischen, rechtshistorischen und verfassungsrechtlichen Abhandlungen stehen. Ich ziehe als Beispiel dafür eine kleine Schrift über „Recht und Moral im Umweltschutz“ von 1999 heran. Gertrude Lübbe-Wolff nahm  damit ein Thema wieder auf, das schon früh ihr Interesse gefunden hatte: das Verhältnis von Recht und Moral. Auslöser der Schrift war die noch heute anzutreffende Forderung nach Deregulierung im Umweltrecht, begründet teils ökonomisch mit der Erhaltung der Wettbewerbsfähigkeit der einheimischen Wirtschaft durch Entlastung von kostspieligen Auflagen, teils moralisch mit der Vorzugswürdigkeit von Eigenverantwortung vor Fremdsteuerung.

Gertrude Lübbe-Wolff diskutiert diese Forderung unter dem Gesichtspunkt der Aussichten auf eine effektive Lösung von Umweltproblemen, wenn das Recht als Steuerungsressource durch Moral ersetzt wird. Sie weist dabei auf zwei Besonderheiten hin, einmal auf die Eigenart des Gutes, um dessen Schutz es geht, also die Luft, das Wasser etc., zum anderen auf die Handlungsbedingungen derer, die diese Güter durch ihr Verhalten gefährden. Was die Güter angeht, so handelt es sich um solche, bei denen exzessiver Verbrauch, Wasserentnahme oder Nutzung der Gewässer zur Schadstoffentsorgung zum Beispiel, nicht spezifisch