Lesarten des UN-Migrationspaktes und der Wert parlamentarischer Debatte
Mit einem Entschließungsantrag hat die AfD-Fraktion den Deutschen Bundestag gezwungen, am vergangenen Donnerstag über den Globalen Pakt für eine sichere, geordnete und reguläre Migration (UN-Migrationspakt) zu beraten. Der Pakt, der im Rahmen der Vereinten Nationen ausgehandelt wurde, liegt seit Juli 2018 im Entwurf vor. Mittlerweile ist auch eine deutsche Übersetzung verfügbar. Am 11. Dezember 2018 soll der Pakt auf einer zwischenstaatlichen Konferenz im Marrakesch von über 190 Staaten als politische Absichtserklärung verabschiedet werden.
Der Entschließungsantrag der AfD-Fraktion ist schrill und überzeichnet. Vorwürfe, es handele sich um einen „Angriff auf die nationale Souveränität der Bundesrepublik Deutschland“ oder „auf die Verfassungsordnung Deutschlands und das Selbstbestimmungsrecht des deutschen Volkes“, halten einer nüchternen Analyse nicht stand. So betont Rn. 15 Buchst. b des Paktes den rechtlich unverbindlichen Charakter, während Rn. 15 Buchst. c die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten hervorhebt:
Nationale Souveränität. Der Globale Pakt bekräftigt das souveräne Recht der Staaten, ihre nationale Migrationspolitik selbst zu bestimmen, sowie ihr Vorrecht, die Migration innerhalb ihres Hoheitsbereichs in Übereinstimmung mit dem Völkerrecht selbst zu regeln. Innerhalb ihres Hoheitsbereichs dürfen die Staaten zwischen regulärem und irregulärem Migrationsstatus unterscheiden, einschließlich bei der Festlegung ihrer gesetzgeberischen und politischen Maßnahmen zur Umsetzung des Globalen Paktes, unter Berücksichtigung der verschiedenen nationalen Realitäten, Politiken, Prioritäten und Bestimmungen für Einreise, Aufenthalt und Arbeit und im Einklang mit dem Völkerrecht[.]
Hingegen fällt die Begründung, die die AfD ihrem Entschließungsantrag beigefügt hat, erstaunlich differenziert aus, und sie lässt einen erheblichen juristischen Sachverstand erkennen. Es soll hier nicht der Versuch unternommen werden, diese Begründung im Einzelnen auf ihre Stichhaltigkeit zu untersuchen und zu widerlegen. Das hat Dana Schmalz bereits getan. Hier soll vielmehr aufgezeigt werden, mit welcher Einseitigkeit die AfD die Aspekte aufs Korn nimmt, die aus einer nationalstaatlichen Perspektive bedenklich erscheinen könnten. Dazu soll zunächst der Gegenstandpunkt eingenommen werden. Auf dieser Grundlage sind dann Folgerungen für den Umgang mit dem Migrationspakt in der parlamentarischen Demokratie des Grundgesetzes zu ziehen.
Der Migrationspakt schützt Staaten wie Deutschland im Umgang mit Migrationsdruck
Einige Aussagen des Paktes fordern gerade diejenigen heraus, die von der individuellen Freiheit und einer gemeinsamen Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft ausgehen. So ist es bemerkenswert, mit welcher Konsequenz der Pakt das Interesse der potenziellen Zielstaaten schützt, Migration auf die ihnen genehmen Zuwanderer beschränken zu können.
Das zentrale Bekenntnis zur souveränen Migrationssteuerung findet sich in der bereits zitierten Rn. 15 Buchst. c. Dabei ist das englische Original noch deutlicher als die deutsche Übersetzung: Wo letztere schlicht vom „Hoheitsbereich“ spricht, führt das englische Original die „sovereign jurisdiction“ an. Geschützt wird also das eigene Staatsgebiet als Raum souveräner Herrschaft. Wenn dann auch noch auf die „verschiedenen nationalen Realitäten, Politiken, Prioritäten und Bestimmungen“ abgestellt wird, bleibt es jedem Staat unbenommen, den eigenen Zuzugsbedarf mit Null anzusetzen und darzulegen, dass seine Gesellschaft keine Migranten aufnehmen kann.
Die Interessen der Zielstaaten an Migrationskontrolle scheinen auch in Ziel 4 durch, wo die Heimatstaaten verpflichtet werden, ihren Staatsangehörigen Papiere auszustellen. Sicher liegt das Ausstellen von Papieren vielfach im Individualinteresse. Rn. 20 erstreckt die Pflicht aber ausdrücklich auch auf die Phase der Rückkehr und beseitigt damit das häufig auftretende Abschiebungshindernis fehlender Papiere. In dieser Situation dient Ziel 4 weder den Migranten noch den Heimatstaaten, sondern allein den Zielstaaten von Migration. Ziel 4 ergänzt damit das nachfolgende Ziel 21, dass die Staaten auf eine „Zusammenarbeit bei der Ermöglichung einer sicheren und würdevollen Rückkehr und Wiederaufnahme“ festlegt. Dort heißt es unter anderem, ganz im Sinne Deutschlands und anderer Zielstaaten unerwünschter Migration:
Wir verpflichten uns ferner, zu gewährleisten, dass unsere Staatsangehörigen ordnungsgemäß empfangen und wiederaufgenommen werden, unter voller Achtung des Menschenrechts auf Rückkehr in das eigene Land und der Verpflichtung der Staaten, ihre eigenen Staatsangehörigen wiederaufzunehmen.
In diesem Zusammenhang buchstabiert Rn. 37 Buchst. c die Kooperationspflicht der Heimatstaaten aus mit dem Bekenntnis,
bei der Feststellung der Identität von Staatsangehörigen und der Ausstellung von Reisedokumenten für eine sichere und würdevolle Rückkehr und Wiederaufnahme von Personen, die im Hoheitsgebiet eines anderen Staates kein Bleiberecht haben, zusammenarbeiten, indem zuverlässige und effiziente Instrumente zur Feststellung der Identität der eigenen Staatsangehörigen geschaffen werden …
Der Schutz der potenziellen Zielstaaten setzt freilich nicht erst bei der Rückführung, sondern schon vor der Einreise an. So geht es im Ziel 9 um die „Verstärkung der grenzübergreifenden Bekämpfung der Schleusung von Migranten“. Dort, wo Grenzen offen sind, gibt es keine Schleuser, weil niemand sie braucht. „Smuggling of Migrants“, also „Menschenschmuggel“, entwickelt sich nur dort, wo Staaten ihre Grenzen für die Einwanderung schließen. Die Kriminalisierung des Menschenschmuggels sichert mithin das souveräne Recht zur Grenzkontrolle. Dasselbe gilt für Ziel 11, wo ein „Integriertes, sicheres und koordiniertes Grenzmanagement“ gefordert wird. Das Grenzmanagement soll sicher sein für „Staaten, Gemeinschaften und Migranten“. Es geht also auch um individuelle Sicherheit. An erster Stelle steht aber das Interesse von Zielstaaten wie Deutschland, sich vor Personen zu schützen, die potenziell gefährlich erscheinen. Dazu gehört gemäß Rn. 27 Buchst. b auch die Vorverlagerung der Grenzkontrolle in den Ausgangsstaat durch „Vorabkontrollen ankommender Personen, Vorabübermittlung von Passagierinformationen durch Beförderungsunternehmen und Nutzung der Informations- und Kommunikationstechnologien“.
Folgerungen
Natürlich geht es nicht darum, den Migrationspakt abzulehnen, weil er die nationalen Interessen Deutschlands und anderer potenzieller Zielstaaten von Migration schützt. Vielmehr ist anzuerkennen, dass der Migrationspakt unterschiedliche Interessen zum Ausgleich bringt. Man mag ihn als guten Kompromiss ansehen. Freilich lebt die Demokratie von der öffentlichen Debatte, und in der parlamentarischen Demokratie ist das Parlament der Ort, um diese Debatte zu entfalten. Diesen funktionalen Aspekt hat das Bundesverfassungsgericht 2003 in seinem ersten Kopftuchurteil betont (2 BvR 1436/02, Rn. 68). Zur Ablehnung einer Bewerberin auf eine Lehramtsstelle allein wegen ihres Kopftuchs hieß es dort:
Nach der Verfassung sind die Einschränkung von grundrechtlichen Freiheiten und der Ausgleich zwischen kollidierenden Grundrechten aber dem Parlament vorbehalten, um sicherzustellen, dass Entscheidungen von solcher Tragweite aus einem Verfahren hervorgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Ausmaß von Grundrechtseingriffen in öffentlicher Debatte zu klären …
Das Parlament musste also eingeschaltet werden, weil es als Volksvertretung die unterschiedlichen politischen Strömungen repräsentiert und weil es öffentlich verhandelt, so dass seine Befassung eine breite Debatte auslösen kann.
Auf den UN-Migrationspakt lässt sich dies nicht unmittelbar übertragen, weil das internationale Dokument kein Rechtsakt ist, der in Individualrechte eingreifen könnte. Handelt die Bundesregierung auf der völkerrechtlichen Ebene, verlangt Art. 59 Abs. 2 Satz 1 GG eine parlamentarische Mitwirkung nur bei völkerrechtlichen Verträgen. Wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 12.7.1994 zu NATO-Einsätzen außerhalb des Bündnisfalles bestätigt hat, ist dies technisch-formal zu verstehen (2 BvE 3/92 u.a., Rn. 264 f.). Als politisches Dokument wird der Migrationspakt nicht erfasst, auch wenn er in wesentlichen Teilen geltendes Völkerrecht bekräftigt und seinerseits die Auslegung bestehender Verträge sowie die Entwicklung von Völkergewohnheitsrecht beeinflussen mag.
Das schließt es jedoch nicht aus, dass die Bundesregierung den Bundestag über den von ihr mitverhandelten Migrationspakt informiert und darlegt, warum sie den Pakt unterstützt. Vor dem Parlament kann sie erklären, wie sich der Pakt in die generelle deutsche Migrations- und Migrationsfolgenpolitik einfügt, welche Teile des Paktes sie gutheißt und welche sie nur deshalb akzeptiert, weil sie den Pakt in seiner Gesamtheit als guten Kompromiss ansieht. Bedenkt man, wie stark die Migrationspolitik spätestens seit 2015 innenpolitisch umstritten war und ist, entspricht es der Logik des ersten Kopftuchurteils, den Migrationspakts als Teil der deutschen Migrationspolitik im Deutschen Bundestag zu rechtfertigen, anstatt auf der internationalen Ebene unter Ausschluss von Bundestag und Öffentlichkeit eine Selbstverpflichtung zu formulieren. Die Initiative der AfD zu überlassen, erscheint nicht nur politisch fahrlässig, sondern auch demokratietheoretisch fragwürdig.
Für die Pessimisten ist das Glas halb leer, für die Optimisten halb voll.Für die Realisten ist das Glas einfach zu gross.
Migrationspakt: Die USA sagen NEIN. Australien sagt NEIN. Österreich sagt NEIN. Ungarn sagt NEIN. Polen sagt NEIN. Dänemark sagt NEIN. Tschechien sagt NEIN. Italien sagt NEIN. Kroatien sagt NEIN. Slowenien sagt NEIN und die Schweiz sagt später NEIN und die Briten haben mit dem Brexit bereits NEIN gesagt. Weitere Länder werden folgen.
Warum sagen die alle NEIN? Bei einem völlig „unverbindlichen Vertrag“? Ist das wirklich nur ein „Kommunikationsgau“?
Prof. Dr. Merkel Interview DLF: „Die Vereinbarung wird ganz sicher völkerrechtliche Wirkungen haben.“ „Vereinbart werden Ziele. Wie diese Ziele umgesetzt werden, bleibt Sache der Staaten. Dass sie umzusetzen sind, wird vereinbart – und zwar wirklich rechtlich verbindlich.“
Die Bundesregierung betreibe da eine „suggestive Irreführung“. Der Pakt werde „eine gewisse Sogwirkung auslösen“ und die „Migration aus den armen Staaten in die wohlhabenden Staaten deutlich verstärken“, „aus Afrika vor allem. (…) Wir werden neue Migrationswellen kriegen.“
Da hat uns der zukünftige Verfassungsgerichtspräsident Dr. Hauwarth im Bundestag genau das Gegenteil erzählt.
Was ist denn nun zutreffend?
Das Interview mit Prof. Merkel (ab Min. 11:00) inkl. Ausschnitt des Interviews mit Prof. Harbarth (ab Min. 18:56) im Podcast zur Frage der Rechtsverbindlichkeit (beides) und genuinen demokratischen Debatte (Min. 21:40) etc.pp.. Merkel: Nicht blauäugig sein! (bis zum Ende)
https://ondemand-mp3.dradio.de/file/dradio/2018/11/08/081118_trump_flippt_aus_dlf_20181108_1700_d2bd2aee.mp3?fbclid=IwAR2Q2IuuiTfVUhEaVzV4XCrH-_yAv0S-Rh20V4qwrejhdlPzkwmPvtI3fEQ
In diesem Pakt, so darf man wohl frei nach dem paktgeschädigten Faust klagen: „ Zwei Seelen …!“ Dazu aus einem Leserbrief in der FAZ v. 12.11. – („Durch die Hintertür“): „… Es gehört zu den Basics der juristischen Methodenlehre, bei der Auslegung von Normen oder Gesetzeswerken auch andere rechtliche Wertungen mit einzubeziehen. So könnte es kommen, dass im Asyl- und Flüchtlingsrecht die wohlwollende Migrationscharta der UN gewissermaßen durch die Hintertür Einzug hält und zu einer migrationsfreundlicheren Haltung bei den hiesigen Gerichten führt. Das wäre Wasser auf die Mühlen all derer, die ihre Bindekraft aus der verfehlten Flüchtlingspolitik beziehen.”
Und ein paar Seiten weiter (gleiche Ausgabe) in einer Art Sammelrezension: „ Je heterogener Gesellschaften durch Einwanderung werden, desto mehr bröckelt also nicht nur der gemeinsame Wille zum Sozialstaat, es nehmen potentiell auch soziale Konflikte und Verteilungskä