20 February 2023

Löschen für die Vielfalt

Das Bundesverwaltungsgericht gelangt mit einiger Anstrengung zu einer generellen Pflicht öffentlich-rechtlicher Rundfunkanstalten, Inhalte auf ihren Social Media-Präsenzen zu moderieren und Nutzendenkommentare ohne hinreichenden Sendungsbezug zu löschen. Die Chance, ein zukunftweisendes Judikat zum Auftrag des ÖRR in der plattformisierten Öffentlichkeit zu erlassen, lässt der 6. Senat ungenutzt, dabei hatte das erstinstanzlich befasste VG Leipzig einen Weg dorthin aufgezeigt.

Der Fall

Die Entscheidung vom 30. November 2022 (BVerwG 6 C 12.20) deren Gründe seit einigen Tagen vorliegen, befasst sich mit der Praxis der Mitteldeutschen Rundfunks (MDR), eine Präsenz auf Facebook vorzuhalten, um dort auf aktuelle Sendungen hinzuweisen und Kommentare entsprechend einer selbstgesetzten Netiquette zuzulassen, soweit sich diese inhaltlich auf die entsprechenden Sendungen beziehen. Ein Nutzer kommentierte rege unter den Beiträgen des MDR. Nachdem einer seiner Kommentare durch den MDR gelöscht wurde, begann er, in den Kommentarspalten gegen die von ihm als Zensur empfundene Inhaltsmoderation anzuschreiben, wobei seine Posts wiederum mangels Sendungsbezug gelöscht wurden, sodass sich der Kreislauf aus Echauffieren und Löschung fortspann. Die betrauten Verwaltungsgerichte erkannten den Eingriffscharakter der Löschungen und begaben sich auf die Suche nach Kompetenztiteln und Rechtfertigungserwägungen.

Wer die Entscheidungen liest, wird der verfassungsrechtlichen Maßstabslosigkeit gewahr, die in diesem Bereich auch noch etwa 15 Jahre, nachdem die Phänomene relevant wurden, vorherrscht. In diesem Feld hat man es mit einem hochkomplexen Interessengeflecht zu tun, bestehend aus gleichermaßen grundrechtsverpflichteten (Art. 1 Abs. 3 GG) wie auch grundrechtsberechtigten (Art. 19 Abs. 3 GG) ÖRR-Anstalten (Rn. 34), den mit ihnen interagierenden Privatpersonen, den ihrerseits privatrechtlich organisierten und die Kommunikationsarchitektur bereitstellenden Plattformunternehmen wie auch der potenziell in ihren Wettbewerbschancen durch die ÖRR-Aktivitäten beeinträchtigten privaten Medienunternehmen. Anstatt einen verfassungsrechtlich imprägnierten Verständnisvorschlag des Medienrechts zu unterbreiten, rettete man sich aber ins Kleinklein einer Staatsvertragsanlage.

Vom Unionsrecht in die Anlage

Das Gericht geht von einem Eingriff in die Meinungsfreiheit des Nutzers durch den MDR aus und prüft dessen Berechtigung. Als Rechtsgrundlage für die Kommentarlöschungen zog das BVerwG § 11d Abs. 5 RStV a.F. i. V. m. Ziff. 17 Hs. 1 der Anlage 4 zum RStV a.F. (heute § 30 Abs. 5 S. 1 Nr. 4 MStV i.V.m. Anlage zu § 30 Abs. 5 Ziff. 17 Hs. 1), die Negativliste öffentlich-rechtlicher Telemedien heran, die den Betrieb von „Foren, Chats ohne Bezug zu Sendungen und redaktionelle Begleitung“ durch ÖRR-Anstalten per se untersagt. Die Liste ist Resultat des sog. Beihilfekompromisses, der 2007 zwischen der Europäischen Kommission und Deutschland geschlossen wurde, um den ursprünglich durch Gerätegebühren, seit 2013 durch Haushaltbeiträge finanzierten ÖRR nicht als Verfälschung des privatwirtschaftlichen Medienwettbewerbs an den primärrechtlichen Vorgaben des Beihilferechts zerschellen zu lassen. Nachdem die deutsche Seite der Kommission eine lange Liste an Zusagen erteilt hatte (Ziff. 338 der Beihilfe-Entscheidung: Internet-Chats), die 2008 mit dem 12. RÄStV umgesetzt wurden, stellte die Kommission ihr beihilferechtliches Verfahren ein. Mit alldem sollen die Chancen privater Wettbewerber aufrechterhalten und damit mittelbar der Meinungsvielfalt gedient werden (Rn. 46).

Während die meisten in der Negativliste ausgeschlossenen Telemedien recht weit vom demokratischen Zentralanliegen öffentlicher Meinungsbildung entfernt liegen und mit Anzeigen- und Preisvergleichsportalen, Partner- und Tauschbörsen vornehmlich Telemedien betreffen, deren ökonomisches Primäranliegen und das damit provozierte Konkurrenzverhältnis zu privatwirtschaftlichen Anbietern augenfällig ist, provoziert die hier interessierende Ziff. 17 Fragen, die an die eigentliche Rolle und Funktion des ÖRR unter heutigen medialen Bedingungen rühren. Der Beihilfe-Kompromiss bezog die Chat- und Forenvorgaben nicht auf Kommentarspalten auf sozialen Netzwerken. Die sich dort entwickelnden Erwartungen des Publikums an Journalismus, die mit Schlagworten wie „Audience Turn“ oder „Participatory Turn“ umschrieben werden (Überblick bei Loosen/Reimer/Hölig 2020), und auch öffentlich-rechtliche Medienanbieter zu gewissen Anpassungen drängen (Jarren/Fischer, Leviathan Sonderband 37 (2021), 365), waren noch nicht vollauf absehbar. Es hätte deswegen nun nahegelegen, darüber nachzudenken, was uns der Auftrag des ÖRR, seine Programmfreiheit in digitalen Kommunikationsumgebungen zu sagen hat. Eine Prüfung der Verfassungskonformität des Verbotes müsste sich vertieft mit der Entwicklungsgarantie des öffentlich-rechtlichen Rundfunks auseinandersetzen. Hier zeigt sich dann das zentrale Problem der Gesamtkonstruktion des BVerwG: Würde man – zugunsten des Senders – von einer Verfassungswidrigkeit dieses Teils der Negativliste ausgehen, fehlte der Rechtsgrund für eine Löschung, da das Gericht eine Kuratierung der Inhalte anhand der „Hausregeln“ in Form der Netiquette und deren verfassungsrechtliche Verankerung nicht ernsthaft in Erwägung zieht (vgl. Rn. 58 ff., 68).

Wann kippt ein Forum?

Beginnt man mit dem BVerwG bei der Auslegung des einfachen Rundfunkrechts, stellt sich zunächst die Frage, ob die Kommentarspalte unter den MDR-Beiträgen ein Chat oder Forum im Sinne der Negativliste darstellt. Soll den Begriffen jeweils normativer Eigengehalt zukommen, liegt es nahe, den Chat als Gespräch unter gleichzeitiger Anwesenheit der Kommunizierenden, das Forum dagegen als thematisch gegliederte und weniger zeitgebundene Diskussionsplattform zu begreifen. Die Kommentarspalten bei Facebook regen dazu an, sich zu einem konkreten Post der ÖRR-Anstalt auszutauschen, sodass man insoweit von einem Forum sprechen kann. Ein solches ist nach Ziff. 17 der Negativliste verboten, wenn es „ohne Bezug zu Sendungen und redaktionelle Begleitung“ daherkommt.

Sendungsbezogen hat also das Forum, nicht der einzelne Kommentar zu sein (in diese Richtung auch Held in Binder/Vesting, RundfunkR, 4. Aufl. 2018, § 11d Rn. 139). Ein einzelner Kommentar auf thematischen Abwegen wird einem Forum kaum den Sendungsbezug nehmen. Versteht man den Sendungsbezug und die redaktionelle Begleitung als kumulativ zu wahrende Voraussetzungen, hätte es sonst jeder Nutzende in der Hand, die ÖRR-Präsenz zeitweilig durch einen neben der Sache liegenden Post zum rechtswidrigen Telemedium werden zu lassen – ein eher abwegiges Szenario. Wesentlich näher liegt es, für den erforderlichen Sendungsbezug auf das Gesamtgepräge der Diskussion abzustellen und einen Kipppunkt zu bestimmen, bei dem der Diskussionscharakter nicht mehr als auf die Sendung bezogen begriffen werden kann. Etwas anderes gilt lediglich, wenn die ÖRR-Anstalt ein Forum bereits sendungsfern selbst eröffnet.

Löschbefugnis nur bei Löschpflicht

Das BVerwG setzte freilich stattdessen den einzelnen Kommentar mit dem Forum gleich, entnahm Ziff. 17 der Anlage folgerichtig eine absolute Löschpflicht für sendungsferne Kommentare und musste im weiteren Prüfprogramm der überbeanspruchten Ziff. 17 auch noch eine dem Vorbehalt des Gesetzes genügende Befugnis für all die mit den Löschungen einhergehenden Grundrechtseingriffe entnehmen. Andernfalls hätte man sämtliche Facebookpräsenzen der ÖRR-Anstalten mit Kommentarfunktion als rechtswidrig begreifen müssen, weil die Anstalten den Vorgaben des einfachen Rundfunkrechts nicht in verfassungsmäßiger Weise genügen könnten und überdies nach der BVerwG-Lesart das Damoklesschwert der Unionsrechtswidrigkeit über denselben schwebte. Dass aber § 11d Abs. 5 S. 4 RStV a.F. i.V.m. Ziff. 17 der Anlage, der sprachlich eindeutig auf eine Unterlassungspflicht der Rundfunkanstalten beschränkt ist, zu Eingriffen in die Meinungsäußerungsfreiheit der Facebooknutzenden berechtigt, liegt alles andere als nahe. Anders als das BVerwG ausführt (Rn. 31), enthält die Negativliste auch gerade keinen materiellen Auftrag für die Rundfunkanstalten.

Hätte man dagegen wie hier auf das Gesamtgepräge der Kommentarspalte abgestellt, hätten sich interessante und wichtige Rechtsfragen angeschlossen, deren Beantwortung nun auf unbestimmte Zeit verschoben ist. Zunächst hätte sich zu klären aufgedrängt, ob und welche Spielräume dem MDR bei der redaktionellen Begleitung, also der Inhaltsmoderation seiner Kommentarspalten, zukommt. Die Spielräume hätten wiederum normativ verankert werden müssen, etwa im Auftrag des ÖRR auf Internetplattformen oder als Anhängsel einer Programmfreiheit ebendort. Letztere sichert einen journalistischen und künstlerischen Freiraum ab, der sich jedenfalls auf die Gestaltung der publizistischen Formate erstreckt (vgl. Cornils in Stern/Sodan/Möstl, StaatsR, 2. Aufl. 2022, § 120 Rn. 76), aber durchaus auch aufs Digitale ausstrahlen könnte (so das vorbefasste VG Leipzig, 1 K 1642/18, Rn. 89). Die Netiquetten der ÖRR-Anstalten hätten wiederum als Ausdruck dieser Gestaltungskompetenzen interpretiert werden können. Hier wären Aussagen zu treffen gewesen, die die seit Jahren schwelenden Diskussionen ein Stück weit hätten voranbringen können.

Rechtsstreit (weitgehend) gewonnen, an Macht verloren

Nun ist eine Löschpflicht natürlich für die mit ihr betrauten Organisationen bedeutend unliebsamer, als eine Löschbefugnis. Die ÖRR-Anstalten werden durch die Lösung des BVerwG aber nicht lediglich im Verhältnis zu den Nutzenden verstärkt in Anspruch genommen, sondern auch maßgeblich im Verhältnis zu den Plattform- und Netzwerkbetreibenden geschwächt. Facebook, Instagram, TikTok und Co. können nun mit einer einfachen Änderung ihrer Rechtezuweisungen die ÖRR-Anstalten dazu drängen, die Plattform zu verlassen, ohne sich mit einzelnen Sperrungen derselben die Finger schmutzig zu machen. Es genügt nun, recht unauffällig für Plattformpräsenzen eines bestimmten Zuschnitts die Befugnis zur Inhaltsmoderation unter eigenen Posts einzuschränken oder zu entziehen. Die ÖRR-Anstalten müssten dann, wollten sie das Verdikt der Rechtswidrigkeit vermeiden, den Dienst verlassen – ein Shadow Ban der etwas anderen Art. Man darf hoffen, dass sich die Journalistinnen und Journalisten in den Anstalten bei ihrer Berichterstattung über die großen Plattformunternehmen hiervon nicht beeinflussen lassen. Ein Entweder-oder – redaktionelles Angebot oder ganz offene Plattform – wird weder beim öffentlich-rechtlichen Rundfunk noch bei kommerziellen Angeboten der kommunikativen Funktion von Foren und ähnlichen Angebote gerecht. Wir brauchen Meta-Normen, die Möglichkeiten, Grenzen und Verfahren für „Hausregeln” unterschiedlicher Anbieter, auch für staatliche Foren, definieren. Das Gericht hat die Chance nicht genutzt, zu explorieren, was sich aus der Verfassung dazu ableiten lässt.