12 May 2025

„Lügen“ über das „Lüge-Verbot“?

Was der Koalitionsvertrag zu Desinformation sagt und was das mit dem Strafrecht zu tun hat

Glaubt man der BILD, der Berliner Zeitung oder dem Spiegel, steht uns unter der neuen Regierung ein „Lüge-Verbot“ ins Haus. Das wird aus einer Stelle im Koalitionsvertrag (S. 123) mit der Überschrift „Umgang mit Desinformation“ geschlussfolgert: „Die bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen ist durch die Meinungsfreiheit nicht gedeckt. Deshalb muss die staatsferne Medienaufsicht unter Wahrung der Meinungsfreiheit auf der Basis klarer gesetzlicher Vorgaben gegen Informationsmanipulation sowie Hass und Hetze vorgehen können.“

Diese Passage ist vor allem eines: vage. Was sie hingegen eher nicht ist, ist das Versprechen eines gesetzlichen „Lüge-Verbot“‘ oder gar eine neue, bislang unbekannten Einschränkung der Meinungsfreiheit. Hinter der Debatte verbirgt sich vielmehr ein grundlegendes Spannungsverhältnis: Wie kann der Staat gezielte Falschinformation bekämpfen, ohne die Meinungsfreiheit zu gefährden? Der Passus aus dem Koalitionsvertrag und die mediale Reaktion darauf geben daher Anlass, sich genauer mit dem Phänomen der Desinformation auseinanderzusetzen. Es geht dabei um ihre Funktionsweise, die Folgen, den verfassungsrechtlichen Rahmen und die Rolle des Strafrechts bei ihrer Bekämpfung.

Meinungsvielfalt oder Realitätsvielfalt?

Schon eine kurze Recherche liefert unzählige Beispiele für Fake News, gezielte Desinformation und ihre teils gravierenden gesellschaftlichen Auswirkungen. Ebenso bedenklich ist, dass solche Recherchen heute fast ausschließlich im Netz stattfinden und damit grundsätzlich anfällig für Manipulation sind. Zwar ist das Verhältnis von Wahrheit und Macht, Propaganda und politischer Herrschaft gut erforscht, doch all das Wissen darüber scheint uns kaum zu helfen, uns als demokratische Gesellschaft im Wettbewerb um die Deutungshoheit zu behaupten.

Das zeigt sich an einem besonders dramatischen Fall aus dem Sommer 2024: Kurz nach der Tötung dreier Kinder in Southport, UK, verbreitete sich auf X und in Telegram-Kanälen rasch das (falsche) Gerücht, der Täter sei ein muslimischer Asylbewerber gewesen. Die Lüge fiel auf fruchtbaren Boden: In den folgenden Tagen kam es zu Unruhen und Angriffen auf Flüchtlingsheime. Dass all dies auf einer gezielt gestreuten Falschmeldung beruhte, macht die Geschehnisse besonders verwerflich. Zugleich bleibt unbestritten, dass die Gewalt gegen Unschuldige das zentrale Problem ist.

Desinformation kann weitreichende Folgen haben. Politische Debatten verändern sich, wenn keine gemeinsame Faktenbasis mehr besteht. Die für demokratische Gesellschaften essenziellen Aushandlungsprozesse geraten ins Stocken, sobald der Minimalkonsens über Tatsachen brüchig wird. Dabei darf nicht übersehen werden, dass Meinungen und Tatsachen nicht immer leicht zu differenzieren sind, wissenschaftliche Erkenntnisse ständiger Veränderung unterliegen und Irrtümer menschlich sind. Und doch scheint – soweit im postfaktischen Zeitalter überhaupt noch möglich – eine gewisse Einigkeit darüber zu bestehen, dass insbesondere in sozialen Medien kaum noch von „Meinungsvielfalt“ im demokratischen Sinne die Rede sein kann. Stattdessen ist eine demokratiegefährdende Realitätsvielfalt entstanden, die das Fundament gemeinschaftlicher Verständigung untergräbt.

Desinformation ist längst nicht mehr nur unerwünschter Nebeneffekt der Digitalisierung, sondern ein gezielt eingesetztes Mittel zur bewussten Destabilisierung demokratischer Ordnungen. Eine Flut von Fake News untergräbt das Vertrauen in Institutionen und Medien. Probleme entstehen aber nicht nur durch eindeutig falsche Informationen, sondern auch durch verzerrte Darstellungen, Auslassungen oder die selektive Betonung bestimmter Perspektiven.

Ein anschauliches Beispiel bieten gerade die Reaktionen auf den Koalitionsvertrag: Ein angebliches „Lügenverbot“ klingt greifbarer als das komplexe „Vorgehen gegen Informationsmanipulation“, ein vermeintliches „Wahrheitsministerium“ erzeugt mehr Schlagzeilen als der Hinweis, dass der Vertrag ausdrücklich die „Wahrung der Meinungsfreiheit“ betont. Die Debatte dreht sich daher oft weniger um die Frage, ob eine Behauptung nachweisbar wahr oder falsch ist – das eigentliche Problem liegt regelmäßig in der Entkontextualisierung oder anderweitig verzerrten Darstellung.

(Nichts) Neues zur Meinungsfreiheit und Lüge

Im Koalitionsvertrag heißt es, „[d]ie bewusste Verbreitung falscher Tatsachenbehauptungen“ falle nicht unter den Schutz der Meinungsfreiheit. Wem der Satz gar nicht so neu vorkommt, erinnert sich vielleicht an eine ähnliche Formulierung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG):

„Infolgedessen endet der Schutz von Tatsachenbehauptungen erst dort, wo sie zu der verfassungsrechtlich vorausgesetzten Meinungsbildung nichts beitragen können. Unter diesem Gesichtspunkt ist unrichtige Information kein schützenswertes Gut. Das Bundesverfassungsgericht geht deswegen in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß die bewußt oder erwiesen unwahre Tatsachenbehauptung nicht vom Schutz der Meinungsfreiheit umfaßt wird.“ (vgl. BVerfGE 54, 208 [219]; 61, 1 [8])

Der Unterschied zwischen Meinung und Tatsachenbehauptung ist jedoch oft schwer zu fassen, weshalb Kritiker*innen befürchten, dass durch staatliche Definitionen von „unwahren“ Aussagen die Meinungsfreiheit erheblich eingeschränkt werden könnte. Tatsächlich spricht einiges dafür, dass die Behauptung von Tatsachen, „unabhängig von ihrer Güte, Richtigkeit, Wahrheit [oder] Rationalität“1), in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit fällt. Dies entspricht auch der Rechtsprechung des BVerfG, das jedoch zugleich darauf hinweist, dass die Anforderungen an eine Ausnahme vom Schutzbereich hoch sind, um befürchtete chilling-effects zu vermeiden.

Besonders konkret sind auch die sonstigen Aussagen des Koalitionsvertrags zu der Reichweite der geplanten Einschränkung nicht, etwa die erwähnte Notwendigkeit der Umsetzung des Digital Services Act (DSA) auf nationaler Ebene, was u.a. darauf abzielen soll, Plattformbetreiber*innen zur Verantwortung zu ziehen. Ebenso wenig wird erläutert, wie der „Wettbewerb um die Wahrheit“ gewonnen werden kann – oder vielmehr: der Wettbewerb darum, die Realität aus der Perspektive der Demokratieerhaltung wahrzunehmen und zu bewerten. Kann das Recht hierzu etwas beitragen? Insbesondere das Strafrecht?

Bestehende strafrechtliche „Lüge-Verbote“

Das Behaupten und (wissentliche) Verbreiten von falschen Tatsachen ist jedenfalls derzeit durch das geltende Strafrecht nur themenspezifisch und fragmentarisch erfasst. Wer einer anderen Person falsch Ehrenrühriges unterstellt, kann sich nach den §§ 186 f. StGB – bei der Unterstellung von Straftaten auch nach §§ 146d, 164 StGB – strafbar machen. Wer Lügen nutzt, um Hass gegen bestimmte Gruppen zu säeen, mag den § 130 Abs. 1, Abs. 2 StGB erfüllen. Das StGB kennt also durchaus Formen von „Lüge-Verboten“, nur geht es stets um den Schutz bestimmter Rechtsgüter: die persönliche Ehre, die Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden oder den öffentlichen Rechtsfrieden bzw. die Rechtsgüter verhetzter Gruppenangehöriger.

Die Lüge ist das Mittel der Tat, nie die Tat als solche. Eine vergleichbare Struktur zeigt sich auch bei anderen Delikten, die nicht das Desinformationsphänomen erfassen, wie die Aussagedelikte, §§ 153 ff. StGB, oder der Betrug, § 263 StGB. Ein allgemeines strafrechtliches Verbot der Lüge gibt es (mit besten Gründen) nicht. Eine Ausnahme bildet allenfalls das Verbot der sog. Ausschwitz-Lüge in § 130 Abs. 3 StGB. De lege lata besteht also jedenfalls kein umfassender strafrechtlicher Schutz vor bewusster Informationsmanipulation.

(Un-)denkbare Strafrechtsexpansionen

Angenommen, der Gesetzgeber erwägt in dieser Legislatur auch das strafrechtliche Instrumentarium, um der Behauptung und Verbreitung falscher Tatsachen beizukommen – wie könnten solche Maßnahmen aussehen?

Zunächst gilt weiterhin: Das Strafrecht darf kein allgemeines “Lüge-Verbot” etablieren. Soares verweist in diesem Zusammenhang auf die sog. deontologische Schranke der Kriminalisierung und warnt vor der Illegitimität eines direkten Wahrheitsschutzes.2) Denn wenn das Strafrecht allein der Wahrheit als solcher Geltung verschaffen soll, ohne dass damit ein weiteres Rechtsgut geschützt wird, schließt sich unweigerlich die Frage an, wer über diese Wahrheit entscheidet.3) Ein solcher Ansatz würde die staatliche Instanz zur Wahrheitsermittlung erheblich aufwerten – ein Szenario, das von Soares unter dem Schlagwort des ministry of truth verhandelt wird. Wer die Wahrheit schützt, schützt damit also auch das staatliche Wahrheitsnarrativ. Dieses bleibt jedoch in einer demokratischen Gesellschaft immer vorläufig und hypothetisch und darf nicht durch den Strafrechtsschutz als endgültig festgelegt werden.4)

Prinzipiell denkbar bleibt aber der Ausbau strafrechtlicher Reaktionsspielräume durch „indirekte Lüge-Verbote“, sei es durch minimalinvasive Anpassungen oder durch umfassendere Reformen. Zum ersteren zählt etwa der Vorschlag, § 126 StGB, die Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten, auszuweiten. Geschützt wird durch die Norm das kollektive Sicherheitsempfinden, bislang aber eben nur gegenüber der Androhung von Straftaten, nicht aber durch die gezielte Verbreitung von Falschinformation über z.B. eine Naturkatastrophe oder einen militärischen Überfall.

In ähnlicher Weise ließe sich der Volksverhetzungstatbestand, § 130 Abs. 1, Abs. 2 StGB, erweitern. Derzeit besteht eine Strafbarkeitslücke, wenn ein „zum Hass Aufstacheln“ an vermeintlich neutralen Aussagen scheitert, die den Anschein objektiver Fakten erwecken. Beispielhaft sind Falschbehauptungen hinsichtlich der statistisch erfassten – und angeblich steigenden – „Flüchtlingskriminalität“.

Geht es nicht um gruppen- sondern individuenbezogene Fake News, ließe sich auch über eine Anpassung des Ehrschutzes, geregelt in §§ 186 f. StGB, nachdenken. Derzeit setzt die Strafbarkeit voraus, dass die falsche Tatsache ehrenrührig ist, was überwiegend normativ bestimmt wird. Ehrenrührig ist, was nicht der Rechtsordnung entspricht. Wer also Renate Künast anlässlich der Vergewaltigung und Tötung einer Studentin durch einen Flüchtling in den Mund legt, „der traumatisierte junge Flüchtling hat zwar getötet, man muss ihm aber jetzt trotzdem helfen“, der verbreitet eine Tatsache, die Künast ein humanes, verfassungstreues Strafrechtsverständnis unterstellt. Ehrenrührig? Nach überwiegender Auffassung nicht. Der Hate Storm, der über sie hereingebrochen ist? Enorm. Die faktische Ehrverletzung ist also erheblich und sollte unter bestimmten Voraussetzungen von den §§ 186 f. StGB erfasst werden.

Strafbare Beeinflussung der politischen Meinung und des Wähler*innenwillens?

Man sollte sich allerdings nicht allzu hoffnungsvoll darauf verlassen, dass der Gesetzgeber sich mit Überlegungen zu derartigem Finetuning begnügt; jedenfalls dann nicht, wenn man Zeichenleserei am Koalitionsvertrag betreiben will. Schließlich heißt es auf Seite 123 auch: „Gezielte Einflussnahme auf Wahlen sowie inzwischen alltägliche Desinformation und Fake News sind ernste Bedrohungen für unsere Demokratie, ihre Institutionen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt.“

Das klingt – sollte es auch um Strafrecht gehen – nach einem ambitionierten Reformansatz. Ein solcher könnte der Schutz der politischen Meinungsbildung, vielleicht verstärkt vor Wahlen, sein. Im derzeitigen deutschen Wahlstrafrecht findet sich nichts dergleichen. Eine Strafbarkeit wegen Wähler*innentäuschung, § 108a StGB, muss nur fürchten, wer bewirkt, dass jemand bei der Stimmabgabe über den Inhalt seiner Erklärung irrt oder gegen seinen Willen nicht oder ungültig wählt, also etwa wer vor einer Wahl ein Bild eines vermeintlichen AfD-Plakats mit der Aufschrift „Wahlbetrug verhindern, Stimmzettel unterschreiben“ verbreitet. Nicht erfasst ist hingegen, den Wähler*innenwillen zu beeinflussen und eine Art Motivirrtum zu verursachen.

Anders sieht es jenseits der Landesgrenzen aus: In Österreich stellt der § 264 öStGB die Verbreitung falscher Nachrichten bei einer Wahl oder Volksabstimmung unter Strafe, wenn die Nachricht „zu einer Zeit verbreitet [wird], da eine Gegenäußerung nicht mehr wirksam verbreitet werden kann“. Entscheidend ist, dass die Falschnachricht geeignet ist, „die Ausübung des Wahl- oder Stimmrechts in einem bestimmten Sinn zu veranlassen“. Wann diese Eignungsklausel erfüllt sein soll, bleibt aber unklar. Ein Blick auf die österreichischen Verurteilungsstatistiken der letzten Jahre legen nahe, dass der Tatbestand kaum bis keine praktische Relevanz hat (2017/2018: null Verurteilungen; 2019/2020: eine Verurteilung; 2021/2022: null Verurteilungen). Dennoch wird von einigen Stimmen in der deutschen Strafrechtswissenschaft die Einführung eines ähnlichen Tatbestandes befürwortet.5)

Abgesehen davon, dass ein solcher Tatbestand wohl auch in Deutschland wenig praktische Bedeutung hätte und eher symbolischer Natur bliebe, stellt sich jedenfalls die Frage, ob der Wähler*innenwille tatsächlich durch einzelne Falschnachrichten beeinflussbar ist oder ob sie nur einen „minimalen Beitrag“ zum postfaktischen Diskursklima leisten. Die Strafwürdigkeit eines solchen Beitrags lässt sich deshalb ebenso bezweifeln wie die Effizienz einer solchen Lösung. Zugleich sei an dieser Stelle angemerkt, dass im Fall künstlicher Vervielfältigung, etwas durch den Einsatz von Social Bots, aufgrund des geringeren Gewährleistungsgehalts der Meinungsfreiheit, möglicherweise etwas anderes gelten mag.

Nochmals: Das BVerfG und die bewusste Lüge

All diese Überlegungen zu neuen oder modifizierten Straftatbeständen sollten stets unter besonderer Berücksichtigung der Meinungsfreiheit erfolgen. Maßgeblich sind dafür insbesondere die vom BVerfG gezogenen Linien: Strafbar sollte nur die Behauptung oder Verbreitung von Tatsachen im sicheren Wissen um ihre Falschheit sein. Denn gerade das digitale Umfeld begünstigt die ungeprüfte Weiterverbreitung durch gutgläubige Dritte, was schon jetzt mit Blick auf § 186 StGB problematisch ist.6) Von einer Ausgestaltung neuer Tatbestände, die Eventualvorsatz hinsichtlich der Falschheit oder gar keinen Vorsatz – nicht einmal Fahrlässigkeit – diesbezüglich verlangen, sollte Abstand genommen werden. Stattdessen wäre der ohnehin weite § 186 StGB (verfassungskonform) einzuschränken. Ob es den Strafverfolgungsbehörden jedoch gelingen wird, die bewusst lügenden Urheber*innen zu erreichen, bleibt schon jetzt fraglich. Wer in Zeiten wachsender Realitätsvielfalt die Rettung im Strafrecht sucht, dürfte also enttäuscht werden.

Immerhin verweist der Koalitionsvertrag (S. 67) auch auf außer(-straf-)rechtliche Alternativen: „Wir stärken digitale Kompetenzen, um allen Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und unsere Demokratie resilienter gegen Desinformation und Manipulation zu machen.“ Derartige Strategien könnten durchaus einen wertvollen Beitrag zur Lösung des Problems leisten – auf konkrete Vorschläge darf man gespannt sein.

References

References
1 Steinbach, JZ 2017, 653, 661.
2 Soares, in: Strafrecht und Demokratie, Baden-Baden 2023, S. 179, 182 ff.
3, 4 Ebd.
5 Lammich, Fake News als Herausforderung des deutschen Strafrechts, Berlin 2022, S. 233 f.; Schreiber, Strafbarkeit politischer Fake News, Berlin 2022, S. 293; neben anderen Schutzrichtungen auch in den Vorschlägen von Schünemann, GA 2019, 620, 639; Preuß, Fake News, Baden-Baden 2021, S. 178; Kolpin, Die Strafbarkeit der Verbreitung von Fake News, Berlin 2023, S. 761.
6 Hoven, ZStW 2017, 718, 725 ff.; Lammich, S. 163 ff.; Schreiber, S. 180 ff.

SUGGESTED CITATION  Beck, Susanne; Nussbaum, Maximilian: „Lügen“ über das „Lüge-Verbot“?: Was der Koalitionsvertrag zu Desinformation sagt und was das mit dem Strafrecht zu tun hat, VerfBlog, 2025/5/12, https://verfassungsblog.de/lugen-uber-das-luge-verbot/, DOI: 10.59704/6d4e3110792a4fc1.

3 Comments

  1. Dr. J. Feldmann Tue 13 May 2025 at 16:20 - Reply

    Ich finde es tatsächlich bedenklich, wie hier aktiv Möglichkeiten erörtert werden, als inhaltlich falsch empfundene Behauptungen, künftig untersagen zu können. Dies läuft tatsächlich auf ein “ministry of truth” hinaus, denn wer, wenn nicht die öffentliche Gewalt muss dann entscheiden, was wahr ist und was unwahr ist… –

    Bin ich hier der Einzige dem unschöne Gedanken zu George Orwells “1984” in den Sinn kommen?? -In Ihrem Artikel werden solche Bedenken aus meiner Sicht jedenfalls nicht ausreichend artikuliert.

    Für schwierig, wenn nicht sogar verfehlt, halte ich die Bezugnahme auf das BVerfG. In der Entscheidung ging es um widerstreitende Grundrechte der Meinungsfreiheit auf der einen Seite und dem Allg. Persönlichkeitsrecht auf der anderen Seite. Ganz bestimmt hat das BVerfG mit der von Ihnen zitierten Entscheidung nicht das Grundrecht es Einzelnen auf freie Meinungsäußerung gegenüber den Staat eingeschränkt. Das Zitat bezieht sich auf die Grundrechtsabwägung zw. zwei Grundrechtsträgern und da muss dann die erwiesen “unwahre Tatsachenbehauptung” dem Allg. Persönlichkeitsrecht weichen. Die “unwahre Tatsachenbehauptung” muss aber natürlich nicht gegenüber dem Staat weichen! (die Ausnahmen im StGB benennen Sie zu Recht)- Natürlich darf sich jeder einen Alu-Hut aufsetzen und behaupten Kondenzstreifen der Flugzeuge am Himmel würden uns vergiften, Corona-Impfungen führten zur Impotenz oder die Erde sei erweislich eine Scheibe… – In welchem Staat würden wir leben, wenn das nicht mehr möglich wäre!

    Vielleicht überdenken Sie dies noch einmal für Ihre Argumentation?
    Mfg
    Dr. J. Feldmann

    • c.gliem Fri 16 May 2025 at 14:47 - Reply

      nein, Sie sind mitnichten der Einzige, der mit dem wohlfeilen “Wahrheitsministerium” ankommt; dadurch wird es aber nicht wahrer.

      Der Artikel zeigt deutlich auf, wie schwer es – zu recht – sein soll, Meinungsäußerungen einzuschränken. Es zeigt aber auch den Gemeinplatz, dass Fakten keine Meinung sind und absichtliche Lügen mit Zielsetzungen die x sind (also nicht etwa Kunst oder Comedy) strafrechtlich relevant sein können.

      angsichts der fake news, deep fakes und shitstorm-Mentalität im Netz ist der Gedanke im Koalitionsvertrag durchaus zu begrüßen, sollte sich aber weniger auf einzelne Bürger beziehen als auf die Plattformen, die ihren jetzt schon bestehenden Pflichten nicht (ausreichend) nachkommen.

    • M. Nussbaum Fri 16 May 2025 at 19:49 - Reply

      Sg. Dr. Feldmann,

      vielen Dank für Ihr Interesse an unserem Text, der tatsächlich den Koalitionsvertrag und die darauffolgende Medienberichterstattung zum Anlass genommen hat, „aktiv“ zu erörtern, wann die Behauptung falscher Tatsachen unserer Ansicht nach in Zukunft mit Strafe bedroht werden könnte – und zentraler für unsere Position: wann sich das Strafrecht enthalten sollte. Um ein paar Gedanken aus unserem Text aufzugreifen:

      1. Ein allgemeines Verbot der Lüge, dem es um den Schutz des (herrschaftlichen) Wahrheitsnarrativs allein ginge, darf es nicht geben. Das haben wir mit knappem Bezug auf Hugo Soares und den Gedanken an ein unrechtsstaatliches „ministry of truth“ begründet. In diese Kategorie fallen „Chemtrail“- oder „Flacherde“-Erzählungen, die Sie nennen. Eine Verbreitung dieser Narrative halten wir nicht für strafwürdig. Die Kriminalisierung wäre überaus bedenklich.
      2. Nicht für a priori illegitim halten wir punktuelle strafrechtliche Ergänzungen, bei denen sich der Schutz anderer Rechtsgüter als der „Wahrheit“ deutlich zeigt, etwa bei den §§ 130 Abs. 1, 126 StGB. Unsere Skepsis haben wir hingegen hinsichtlich des – recht populären – Vorschlags eines Schutzes des von der Lüge möglicherweise beeinflussten Wählerwillens dargestellt (vgl. § 264 öStGB).
      3. Überraschend ist Ihr Hinweis zum BVerfG-Zitat. Mit ihm begründen wir keine (Neu-)Kriminalisierung, sondern wollten zweierlei zeigen. Zum einen ist das, was im Koalitionsvertrag steht (kein Schutz der bewusst falschen Tatsachenbehauptung durch Art. 5 I GG), nicht neu, sondern wurde vom BVerfG mehrfach geübt (auch bei strafrechtlichem Bezug, BVerfG NJW 1994, 1779). Zum anderen ging es darum, die Formel des BVerfG zum Anlass zu nehmen, die Ausgestaltung bestehender und denkbarer „Lüge-Tatbestände“ auf gesteigerte subjektive Anforderungen zu verweisen. Auch hier ging es also um Strafrechtsbegrenzung.
      4. Im Übrigen verweisen Sie völlig zu Recht auf die Gefahr, dass ein „Lüge-Strafrecht“ zur Zensur unliebsamer Meinungen instrumentalisiert werden kann. Insbesondere, weil die Abgrenzung von Meinung und Tatsachenbehauptung bekanntlich schwierig ist. Als Beispiel sollte die – unseres Erachtens verzerrende – mediale Darstellung der Passage aus dem Koalitionsvertrag dienen.

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