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26 May 2023

Manövrieren an den Grenzen des § 129 StGB

Grenzfälle sind ein Test für die Tragfähigkeit juristischer Dogmatik. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die sog. Raser-Fälle, die u.a. zu einer vertieften Befassung mit der Vorsatzlehre veranlasst haben, nicht von den Taten jener, die Straßen blockieren, um mehr Klimaschutz anzumahnen. Die Aktionen der sog. Letzten Generation haben unter anderem eine Debatte um die Grenzen des Nötigungstatbestandes und die Weite des Notwehrrechts angestoßen. Noch bevor sich Gerichte höherer Instanz näher mit dem Verhältnis zwischen Versammlungsfreiheit und Verwerflichkeit im Sinne des § 240 Abs. 2 StGB befasst haben, begegnet der interessierten Fachöffentlichkeit und vor allem den Mitgliedern der Letzten Generation ein neues Problem: Stellt das Bündnis von Klimaaktivisten eine kriminelle Vereinigung dar, deren Unterstützung strafbar sein könnte?

Um einen Grenzfall handelt es sich dabei zunächst in tatsächlicher Hinsicht. Typischerweise agieren kriminelle Vereinigungen arkan oder verbergen jedenfalls ihre Straftaten hinter legalen Tätigkeiten: Man denke an kleine Unternehmen, die vordergründig einen Geschäftsbetrieb unterhalten, vor allem aber der Geldwäsche dienen, oder an Motorradclubs, deren Mitglieder gelegentlich nicht einmal über eine Fahrerlaubnis verfügen, wohl aber von Einnahmen aus dem Handel mit Betäubungsmittel profitieren. Diejenigen hingegen, die sich auf Straßen festkleben oder anderweitig den Verkehr blockieren, verdecken ihr Verhalten nicht, sondern handeln vor den Augen der Öffentlichkeit; sie stellen sich bereitwillig der Strafverfolgung. Dies auch deshalb, weil ihr Handeln nicht von egoistischen Motiven getragen ist, sondern weil sie sich auf einen altruistischen Zweck berufen: Sie wollen den Gesetzgeber zur Verabschiedung von Gesetzen veranlassen, die der Erreichung völkerrechtlich verbindlicher und verfassungsrechtlich zwingender Ziele dienen. Daher ist es, beiseite gesprochen, auch falsch, ihnen eine Fehlvorstellung von einer repräsentativen, parlamentarischen Demokratie zu unterstellen; vielmehr nutzen sie den öffentlichen Raum, um im politischen Feld Impulse auszulösen, die den Gesetzgeber zum Handeln veranlassen.

Der wesentliche Unterschied zu anderen Interessenvertretungen besteht darin, dass die Letzte Generation diesen Einfluss nicht durch Hintergrundgespräche, (lancierte) Presseartikel oder Gutachten zu nehmen versucht, sondern durch Verkehrsblockaden, die vor allem Nicht-Mitglieder des Deutschen Bundestags treffen und die sich daher – nicht zu Unrecht – als Objekte fühlen, auf deren Rücken die Auseinandersetzungen ausgetragen werden. Ob sie dadurch auch Opfer strafbarer Nötigungen geworden sind, ist noch nicht endgültig ausgemacht. Dies hängt von versammlungsrechtlichen Einzelfragen (Anmeldung, Auflösungszeitpunkt etc.) und den angedeuteten verfassungsrechtlichen Grundfragen ab. Zudem wäre sub specie § 240 StGB zu klären, ob das Festkleben auf der Straße anders zu behandeln ist als beispielsweise das Lahmlegen des Verkehrs durch Fahrten hunderter Lastwagen oder Traktoren durch Berlin oder das „Spazieren“ auf Verkehrsflächen in Dresden.

Obgleich all diese Fragen gegenwärtig offen sind, wird wegen der Gründung von bzw. der Beteiligung an einer kriminellen Vereinigung ermittelt. Einige der von § 129 StGB aufgeworfenen Rechtsfragen sind hier und hier bereits angesprochen worden; im Kern dreht sich diese Debatte um die Berücksichtigungsfähigkeit sog. Fernziele. Hinzu kommen jedoch zwei weitere Aspekte. Sie werden bei der Prüfung relevant, ob die Begehung von Straftaten „eine Tätigkeit von untergeordneter Bedeutung ist“ und die Letzte Generation daher gemäß § 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB aus dem durch § 129 Abs. 2 StGB sehr weit gefassten Anwendungsbereich auszuscheiden ist. Zum einen ist von Bedeutung, in welchem Verhältnis die tatsächlich strafbaren Taten zu anderen nicht strafbaren Aktionen stehen. Angriffe auf die Pipelines und andere Einrichtungen der kritischen Infrastruktur sind klar strafbar, bislang aber zum Glück vereinzelt geblieben und prägen daher nicht das Erscheinungsbild der Letzten Generation; sie sind auch nicht repräsentativ für ihr Tätigkeitsspektrum. So bleiben im Wesentlichen Verkehrsblockaden, von denen, wie gesagt, abzuwarten bleibt, ob sie auch nach höchstrichterlicher Befassung überwiegend als strafbar einzustufen sind. Selbst wenn aber die Mehrheit der Klebeaktionen als strafbare Nötigung erachtet werden sollte, bliebe zu beachten, dass die strafrechtliche Beurteilung von Verkehrsblockaden nichts daran ändert, dass die Teilnehmer im Schutzbereich des Art. 8 Abs. 1 GG agiert haben. Nicht das Fernziel, wohl aber die Form, mit der das Ziel angestrebt wird, wäre dann bei einer grundrechtssensiblen Prüfung des § 129 Abs. 3 Nr. 2 StGB zu berücksichtigen. Diese könnte dann zu dem Ergebnis führen, dass das Unrecht insgesamt betrachtet gering und daher die Straftaten von untergeordneter Bedeutung im Verhältnis der Gesamttätigkeit der Letzten Generation sind.

All dies zeigt, dass die Ermittlungen wegen § 129 StGB zu einem sehr frühen Zeitpunkt begonnen haben und auf einer rechtlich alles andere als sicheren Grundlage stehen. Die Strafverfolgungsbehörden manövrieren an der Grenze des Tatbestandes. Dies heißt aber auch, dass alle, die die Letzte Generation als Mitglied unterstützen, sich der Gefahr von Ermittlungsmaßnahmen aussetzen, also an der Grenze dessen agieren, was man sich selbst guten Gewissens zumuten möchte und kann. Schon die Ermittlungen wegen § 129 StGB haben damit eine prohibitive Wirkung. Da die Prüfung des Verdachts in aller Regel viele Monate dauert, haben sie das Potenzial, ausgerechnet jene Personen der bürgerlichen Mitte von der Letzten Generation zu distanzieren, die diese Vereinigung vor einer Radikalisierung bewahren. Damit könnten die Ermittlungsverfahren auch und gerade dann eine fatale Wirkung entfalten, wenn sie letztlich im Sande verlaufen sollten.


SUGGESTED CITATION  Kubiciel, Michael: Manövrieren an den Grenzen des § 129 StGB, VerfBlog, 2023/5/26, https://verfassungsblog.de/manovrieren-an-den-grenzen-des-%c2%a7-129-stgb/, DOI: 10.17176/20230526-231102-0.

15 Comments

  1. L. Marthäuser Fri 26 May 2023 at 18:38 - Reply

    In dem Beitrag wird bemängelt, dass die Ermittlungen “zu einem sehr frühen Zeitpunkt” und “[o]bgleich all diese Fragen gegenwärtig offen sind” durchgeführt werden.

    Das kann nicht recht überzeugen. Die endgültige Klärung dieser Fragen kann letztlich nur durch die Obergerichte erfolgen, was aber genau die hier kritisierten Ermittlungen der Staatsanwaltschaft voraussetzt.

    Die Staatsanwaltschaft kann auch nicht etwa auf eine vorherige Klärung durch “die Wissenschaft” warten. Sie ist vielmehr selbst gehalten, den Sachverhalt aufzuklären (Untersuchungsgrundsatz) und, soweit sie einen Anfangsverdacht bejaht, entsprechende Ermittlungsmaßnahmen einzuleiten (Offizialprinzip).

    An eine, wie auch immer geartete, wissenschaftliche Bewertung ist die StA dabei nicht gebunden.

    • Witzko M. Raus Fri 26 May 2023 at 20:55 - Reply

      Meinem Verständnis des Artikels nach bezieht sich der Autor mit “die Ermittlungen wegen § 129 StGB zu einem sehr frühen Zeitpunkt begonnen haben und auf einer rechtlich alles andere als sicheren Grundlage stehen” darauf, dass die Strafbarkeit solcher Straßenblockaden in der Rechtsprechung der Obergerichte (und zuletzt wohl des BVerfG) noch nicht abschließend geklärt ist, gleichwohl aber als notwendige Voraussetzung für den § 129 dienen muss. Insofern täte die Staatsanwaltschaft womöglich gut daran, zunächst die Strafbarkeit der Straßenblockaden klären zu lassen bevor darauf das Haus des § 129 aufgebaut wird.

      Ergänzen möchte man zum Artikel nur, dass die Ermittlungen wegen § 129 für die Betroffenen von großer Schwere sind, wie eindrücklich in Statements derselben auf Twitter zu bemerken ist.

      Und selbst wenn die StA (man will es ihr fast raten) unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten nicht das volle Repertoire an Ermittlungsbefugnissen nutzt (man denke nur an Staatstrojaner) vermag allein die Sorge davor die Betroffenen (und ihr Umfeld!) im Ergebnis über Gebühr zu belasten.

      Ein unverstellter Blick von außen zeigt eigentlich auf Anhieb die Problematik des § 129 und des ihn begründenden gesetzgerischen Versagens: gezogene Waffen im Schlafzimmer wegen Spendensammelns für Straßenblockaden, mit denen man die Regierung zu verfassungsgemäßen Handeln erinnern möchte? Eine Unmöglichkeit.

      • L. Marthäuser Fri 26 May 2023 at 23:32 - Reply

        Auch das ist so allerdings nicht richtig.

        Die Staatsanwaltschaft darf und soll ermitteln, wenn ein Anfangsverdacht bezüglich § 129 StGB besteht. Dafür genügt selbstverständlich auch ein Anfangsverdacht hinsichtlich der Taten, auf die sich die angebliche Vereinigung richtet (hier also bzgl. des Vorwurfs u.a. der Nötigung). Diesen hat die Staatsanwaltschaft offensichtlich ebenfalls bejaht, in vielen Fällen sogar einen hinreichenden Tatverdacht.

        Die Strafbarkeit dieser Delikte muss dagegen nicht zweifelsfrei feststehen, geschweige denn höchstgerichtlich geklärt sein.

        Demnach würde die StA u.U. sogar pflichtwidrig handeln, wenn sie zwar einen Anfangsverdacht bejahen würde, aber dennoch “zur Sicherheit” bis zur höchstrichterlichen Klärung von Ermittlungen absähe.

        • Helga Kriesel Sat 27 May 2023 at 02:39 - Reply

          Sie vermengen hier zwei Ebenen. Die Verdachtsgrade der StPO beziehen sich auf die kognitive Dimension des Ermittlungsverfahrens, nicht aber auf die normative Dimension. Die StA ist verpflichtet, wegen aller “verfolgbaren Straftaten” einzuschreiten, sofern “zureichende tatsächliche Anhaltspunkte” vorliegen. Hinsichtlich der strafrechtlichen Bewertung des derart auf noch unsicherer Tatsachengrundlage modellierten Sachverhaltes muss sich die StA hingegen sicher sein. Die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens aufgrund eines Sachverhaltes, von dessen Strafbarkeit die StA nach vorläufiger Einschätzung selbst nicht ausgeht, dürfte nicht statthaft sein.

          Dass die StA vor diesem Hintergrund pflichtwidrig handeln würde, wenn sie Ermittlungen nicht aufnähme, ist in dieser Generalität zweifelhaft. Jedenfalls ist die StA nicht verpflichtet gewesen, diese konkret äußerst einschneidenden Ermittlungsmaßnahmen zu diesem Zeitpunkt zu ergreifen. Ich kann auch nicht erkennen, welcher andere Zweck als Einschüchterung durch eine derartige Aktion verfolgt werden sollte. Lagen denn hinreichende Anhaltspunkte dafür vor, dass die Betroffenen in naher Zukunft Beweismittel beseite schaffen wollten?

          • L. Marthäuser Sat 27 May 2023 at 10:37

            Auch bei der rechtlichen Frage, ob der unterstellte Sachverhalt eine Straftat darstellt, hat die StA einen Beurteilungsspielraum.

            Dass die StA hier in diesem Rahmen selbst von der Strafbarkeit ausgeht, ist offensichtlich. Das gilt gerade für die Delikte, auf welche sich die behauptete Vereinigung richten soll. Denn insoweit wurde ja sogar schon Anklage erhoben.

            Aus diesem Grund ist eben der Ursprungsvorwurf, hier sei verfrüht ermittelt worden, falsch. Wer, wenn nicht die StA, soll in diesem Stadium überhaupt die mögliche Strafbarkeit beurteilen? Offensichtlich nicht die Gerichte, deren Prüfung denklogisch nachgeschaltet ist.

            Wenn die StA bzgl § 240 StGB Anklage erhebt, ergäbe es keinerlei Sinn, bei § 129 StGB von bloßen Ermittlungen abzusehen, weil die Rechtslage hinsichtlich § 240 ungeklärt sei. Davon geht die StA offenbar gerade nicht aus.

          • Wolfram Domay Sat 26 Aug 2023 at 17:26

            Der Zweck ist auch vermeintlicher Stimmenfang bei den Stammtischbürger: innen – die Landtagswahl in Bayern steht bevor und rechts von der CSU scharrt man vernehmlich mit den Hufen.
            Allerdings gilt wie immer: Wer so denkt, wählt sowieso lieber das Original…

    • Roland Ruck Fri 26 May 2023 at 21:18 - Reply

      Sie bringen es genau auf den Punkt. Man könnte die Blockaden ja auch Erpressung werten, allerdings nicht im strafrechtlichen Sinn. Wer seine Vorstellungen in einem Rechtsstaat verwirklicht sehen will, dem stehen viele auch rechtliche Wege offen.

    • Wolfram Domay Sat 26 Aug 2023 at 17:22 - Reply

      Hier