Der Staat gegen Marine Le Pen?
Gestern ist die französische Politikerin Marine Le Pen – gemeinsam mit acht ehemaligen EU-Abgeordneten und zwölf parlamentarischen Assistenten – wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder durch das Tribunal correctionnel de Paris zu einer Geldstrafe i.H.v. 100.000 Euro sowie zu vier Jahren Freiheitsstrafe verurteilt worden. In Höhe von zwei Jahren ist die Vollstreckung der Freiheitstrafe nicht zur Bewährung ausgesetzt, aber „aménageable“ – also mit elektronischer Fußfessel – vollziehbar. Besonders schwerwiegend und politisch brisant: Als Nebenstrafe wird Le Pen mit sofortiger Wirkung für fünf Jahre das passive Wahlrecht entzogen. Diese „inéligibilité avec exécution immédiate“ führt dazu, dass die dreifache (2012, 2017, 2022) Präsidentschaftskandidatin sich im Jahr 2027 bei den französischen Präsidentschaftswahlen nicht zur Wahl wird stellen dürfen. Hat hier der Rechtsstaat die Demokratie unterminiert?
Das Verfahren
Das dem Urteil vorausgehende Strafverfahren hatte der damalige Präsident des Europaparlaments Martin Schulz (SPD) im Jahr 2015 angestoßen, indem er die für Betrugsfälle zuständige europäische Behörde OLAF einschaltete. Im Zentrum des Strafprozesses standen Vorwürfe des Betruges und der Veruntreuung öffentlicher Gelder in einem Tatzeitraum von zwölf Jahren. Von 2004 bis 2016 sollen Le Pen und die Mitverurteilen EU-Gelder in Millionenhöhe zu Gunsten ihrer Partei Rassemblement National (die bis 2018 noch als Front National firmierte) zweckentfremdet haben. Konkret sah es das Gericht in Paris als erwiesen an, dass parlamentarische Assistenten der rechtsextremen Partei für ihre vertraglich eingegangenen Pflichten im Europäischen Parlament entlohnt wurden, obgleich sie in Wirklichkeit ihre Arbeitszeit auf die Parteiarbeit in Paris verwandten und zum Teil den ihnen zugewiesenen Beamten in Brüssel noch nie begegnet waren. Die Anklageschrift betonte dabei nicht zuletzt den systemischen Charakter dieser Untreue und zeichnete minutiös die Architektur eines „système organisé“ der Veruntreuung nach, an dessen Spitze Marine Le Pen stand.
Das bis in die gestrigen Abendnachrichten wiederholte Argument, dass es eben unterschiedliche Kategorien parlamentarischer Assistenten gäbe und nicht alle vor Ort in Brüssel sein müssten, überzeugte das Gericht nicht. Das Vorbringen, europäische Politik sei durch die Mitarbeit in der Pariser Parteizentrale des Front National gefördert worden, schien aus Perspektive einer Partei, die vor wenigen Jahren den „Frexit“ – also den Austritt Frankreichs aus der EU – propagiert hatte, ohnehin schon immer zynisch. In der Sache positionierte sich die Strafkammer explizit:
„Que les choses soient claires: personne n’est jugé pour avoir fait de la politique, c’est pas le sujet. La question, c’était de savoir si les contrats ont reçu une exécution ou pas.“1)
Die hier entscheidende Rechtsfrage ist also nicht, ob französische Gerichte entscheiden dürfen, worin genau der Arbeits- und Wirkbereich eines EU-Abgeordneten und seiner Mitarbeiter besteht. Es geht hier vielmehr um Scheinverträge mit dem EU-Parlament zugunsten einer Partei, die ein derart gravierendes Finanzierungsproblem hatte, dass sie 2014 auf einen Millionenkredit aus Russland rekurrierte.
Die Sanktionierung des nun auf 2,9 Millionen Euro bezifferten Schadens mit maximalen Haupt- und Nebenstrafen – das Gericht ist in seinem Urteil den Anträgen der Staatsanwaltschaft vom 13. November 2024 weitgehend gefolgt – war und bleibt in mehrfacher Hinsicht ein Drahtseilakt.
La Loi Sapin II
Die rechtliche Grundlage für den sofortigen Entzug von Marine Le Pens passivem Wahlrecht findet sich in der Loi Sapin II, einem Gesetz, das erst am 11. Dezember 2016 in Kraft trat. Bereits die Anwendung dieses Gesetzes mit dem weitreichenden Kandidaturverbot stand also auf Messers Schneide: Nur weil das Europäische Parlament zum Ende ebendieses Dezembers die letzten verfahrensgegenständlichen Gehälter ausgezahlt hatte, konnte der gesamte Tatzeitraum von 2004 bis 2016 in das Strafverfahren einbezogen werden.
Anlass für die gesetzgeberische Novelle aus 2016 war nicht zuletzt ein Steuerhinterziehungsskandal um einen linken Politiker – die sog. „affaire Cahuzac“. In der Konsequenz wurde ein Vertrauensverlust der Bevölkerung in die Politik zum Anlass genommen, legislativ zu mehr Transparenz beizutragen (vgl. schon die LOI organique n° 2013-906 du 11 octobre 2013 relative à la transparence de la vie publique). Nichts davon stand im Zusammenhang mit Marine Le Pen – nichts davon hat sie damals als Abgeordnete zu einem Widerspruch herausgefordert.
Nach der Loi Sapin II steht es nicht mehr im Ermessen der Richter, ob sie das passive Wahlrecht mit sofortiger Wirkung entziehen, vielmehr ist die sofortige Vollziehbarkeit „obligatorisch“ anzuordnen. Darin liegt eine bewusste Weichenstellung des Gesetzgebers, um gegen Korruption vorzugehen. Gleichwohl ist diese „obligation“ nicht mit einem Automatismus gleichzusetzen, denn das Gericht hätte nach Art. 19 Abs. 1 b) der Loi Sapin II unter Ansehung der besonderen Umstände die Entscheidung treffen können, ausnahmsweise „in Anbetracht der Umstände und der Persönlichkeit des Täters“ vom Entzug des passiven Wahlrechts abzusehen („Toutefois, la juridiction peut, par une décision spécialement motivée, décider de ne pas prononcer cette peine, en considération des circonstances de l’infraction et de la personnalité de son auteur.“2)). Davon machte das Gericht, trotz der politischen Bedeutung von Marine Le Pen, keinen Gebrauch.
Das Dilemma moderner Demokratien
Das Urteil gegen Marine Le Pen unterstreicht ein Dilemma moderner Demokratien: Inwiefern und inwieweit darf ein Strafprozess mit einem Verbot der Bekleidung öffentlicher Ämter die demokratischen Prozesse beeinflussen? Insbesondere in einem Fall, in dem das Urteil noch nicht rechtskräftig ist, könnten angesichts eines potenziell unumkehrbaren Eingriffs in die politische Partizipation Zweifel an der Verhältnismäßigkeit der Sanktion bestehen.
Der französische Verfassungsrat (Conseil constitutionnel) hat sich am 28. März zu dieser Frage geäußert. Er hielt es bei einer regionalen Konstellation – einem verurteilten Gemeinderat – für verfassungskonform, dass das passive Wahlrecht ohne aufschiebende Wirkung entzogen werden kann. Im Kern dieser Entscheidung stand der Schutz des Vertrauens in die gewählten Repräsentanten, da Korruption und Amtsmissbrauch die demokratische Integrität untergrüben.
Das in der Sache Le Pen erkennende Pariser Strafgericht hat gestern mit ähnlicher Stoßrichtung argumentiert. Zum einen wurde in der Urteilsverkündung eine Wiederholungsgefahr („risque de récidive“) besonders betont, also ein spezialpräventives Argument stark gemacht: Wer alles für das Überleben seiner Partei tut, erwägt dies auch, um Präsidentin eines Landes zu werden. Das Gegenargument, wonach Le Pen ja schließlich keine EU-Abgeordnete mehr sei und insofern derartige Rechtsbrüche nicht mehr zu befürchten seien, verfängt offensichtlich nicht.
Wurde damit eine Angeklagte, die bis in die gestrigen Abendnachrichten ihre Unschuld beteuerte, dafür bestraft, dass sie schlicht den nemo-tenetur-Grundsatz wahrnahm? Das überzeugt nur auf den ersten Blick. Die strafschärfende Berücksichtigung heftigen Bestreitens der Tatvorwürfe ist nichts Neues – erst recht nicht in Frankreich.
Flankiert wird die erste Überlegung des Strafgerichts aber von einem weiteren, generalpräventiven Argument, das auch der Conseil constitutionnel nannte: die Gefahr einer schweren Störung der öffentlichen Ordnung („risque de trouble majeur à l’ordre public“). Eine Präsidentschaftskandidatin mit einer wohl begründeten, erstinstanzlichen Verurteilung wegen politischer Korruption beschädigt nachhaltig das Vertrauen in die demokratische Integrität. Hier geht es auch um die Vorbildfunktion. Eine Politikerin, die in Bezug auf Geflüchtete immer wieder auf die Validität von substantiierten Verdachtsmomenten gepocht hat und in ihrem Wahlprogramm die sog. „peine plancher“ (Mindeststrafen ohne weitere Strafzumessung) für Wiederholungstäter fordert, müsste das doch verstehen.
Das Narrativ des politischen Strafprozesses
Obgleich also alles für die bereits während der Hauptverhandlung erkennbare, nüchterne Anwendung des Strafrechts – und insbesondere der Loi Sapin II – spricht, steht aber doch der Vorwurf im Raum, es würde hier nach Akten bestimmt, was an der Urne entschieden werden sollte.
Das Narrativ eines politischen Strafprozesses hat Marine Le Pen bereits nach dem Plädoyer der Staatsanwaltschaft im November 2024 bemüht und gestern Abend wiederholt: „C’est ma mort politique qu’on réclame“ – „es ist mein politischer Tod, der gefordert wird“. Sie ist seit gestern in „guter Gesellschaft“: Kremlsprecher Dmitri Peskow äußerte bereits kurz nach der Urteilsverkündung, dass hier „demokratische Normen verletzt“ würden.
Die Herausforderung im Umgang mit dem Vorwurf eines „politischen Prozesses“ ist, dass die Prozessveranstalter immer ebendiesen politischen Charakter des Prozesses leugnen, während die Angeklagten sich – immer – gerade darauf berufen.
Indikator dafür, dass der Rechtsstaat hier nicht zuletzt durch das Gleichheitsprinzip verteidigt wird – „la loi est la même pour tout le monde“ – sind die Präzedenzfälle der letzten zehn Jahre. Auch führenden Politikern wie Alain Juppé oder François Fillon haben Gerichte das passive Wahlrecht entzogen – mit gravierenden Folgen für ihre politischen Karrieren. Art. 19 Abs. 1 b der Loi Sapin II gilt nun eben auch für Marine Le Pen – konsequente Rechtsanwendung auf jemanden, der sich bekanntermaßen immer über eine zu lasche Justiz beklagt hat. Davon will sie aber nun nichts mehr wissen und hat bereits durch das Verlassen des Gerichtssaals vor Ende der Urteilsverkündung und dem konkreten Strafausspruch zum Ausdruck gebracht, hier Opfer eines illegitimen, politischen Prozesses geworden zu sein. Ob das Narrativ verfängt, dass eine vielversprechende Präsidentschaftskandidatin – immerhin 34% Zuspruch in den letzten Umfragen – justiziell kaltgestellt wurde (so nicht zuletzt die Unterstützer des Rassemblement National und Marine Le Pens, die nun eine Petition mit dieser Unterstellung veröffentlicht haben), wird sich zeigen. Es wäre geboten, diesem Narrativ mit der Frage entgegenzutreten, ab welchem Umfragewert man über dem Gesetz steht.
Für die Annahme, dass das Gericht neben allem auch die Verhältnismäßigkeit im Hinblick auf das Demokratieprinzip als Kriterium ernstgenommen hat, zeigt die Entscheidung mit Blick auf den mitangeklagten Louis Aliot, der als stellvertretender Vorsitzender des Rassemblement National ebenfalls verurteilt wurde. Lediglich in Bezug auf ihn – einem gewählten Bürgermeister von Perpignan – stand die Gefahr eines Amtsverlustes im Raum. Hier wurde die demokratische Wahl der Bürger von Perpignan privilegiert. In Bezug auf Marine Le Pen ist das anders: Die Präsidentschaftswahl steht erst noch an, ihre Partei kann sich dieser weiterhin stellen und nicht einschlägig vorbestrafte bzw. mit Ämterverbot sanktionierte Repräsentanten ins Rennen schicken.
Berufungs- oder Verfassungsgerichtsbarkeit als Ausweg?
Le Pen hat bereits gestern verkündet, gegen die Entscheidung des Pariser Strafgerichts in Berufung zu gehen. Die Chancen, das erstinstanzliche Urteil dadurch noch rechtzeitig vor der Präsidentschaftswahl zu Fall zu bringen, sind gering.
Eine letzte Möglichkeit wäre, vor dem französischen Verfassungsgericht speziell gegen die Anordnung der sofortigen Vollziehbarkeit des Wählbarkeitsentzugs vorzugehen. Als eine „Question prioritaire de constitutionnalité“ könnte der unmittelbare Vollzug in der Loi Sapin II als „vorrangige Frage zur Verfassungsmäßigkeit“ nochmals thematisiert werden. Dabei könnte Le Pen auf die herausragende politische Stellung des französischen Staatspräsidenten und den Umstand verweisen, dass es sich um eine Direktwahl handelt.
Wo das Gesetz endet …
In der Zwischenzeit dürfte sich klären, ob der „Plan B“ des neofaschistischen Rassemblement National nun „Bardella“ lautet. Der 29-jährige Jordan Bardella ist für viele ein pragmatischer Frontmann und eine echte Alternative zu Le Pen, die in der Vergangenheit oft mit wirtschaftlichem Nationalismus und protektionistischen Maßnahmen kokettierte. Ein signifikanter Teil der französischen Wirtschaftselite – prominentes Beispiel ist der Milliardär Vincent Bolloré mit seiner Plattform CNews – sieht in Bardella eine wirtschaftsfreundlichere und konsensorientierte Option, die es zu unterstützen gilt.
Auch wenn Bardella derzeit von der Parteispitze als Präsidentschaftskandidat noch ausgeschlossen wird,3) liegt hier die eigentliche demokratische Herausforderung: der Umgang mit neuen, glatteren Gesichtern der neofaschistischen Partei. In der Zwischenzeit gilt es, sich nicht vom Lärm ihrer rechtsextremen Gesinnungsgenossen wie Viktor Orbán („Je suis Marine“) oder Elon Musk („When the radical left can’t win via democratic vote, they abuse the legal system to jail their opponents. This is their standard playbook throughout the world.“) ablenken zu lassen oder gar entmutigt an Andrew Weissmanns Buch „Where law ends“ (über die Sonderermittlung von Robert Müllers zu Donald Trump) zu denken und parallele Entwicklungsverläufe zu antizipieren.
Ja: Wo das Gesetz endet, fangen die Herausforderungen an. Und zugegeben: Die Herausforderung eines funktionierenden Rechtsstaates in einer zunehmend polarisierten – und von neofaschistischen Positionen beeinflussten – Gesellschaft besteht nicht mehr nur darin, das Recht korrekt anzuwenden. Geboten sind auch kluge Strategien im Umgang mit Narrativen, die den Rechtsstaat unterminieren. Aber so schwer ist es auch nicht. Fangen wir also damit an zu erklären, dass hier allgemeingültiges Recht auf eine Politikerin angewandt wurde, die ihr Amt missbraucht und Millionenschaden angerichtet hat. Und beruhigen wir uns: Hier hat die Justiz nicht den „politischen Tod“ einer zukünftigen Präsidentschaftskandidatin zu verantworten – es war ein (leicht vermeidbarer) Freitod.
References
↑1 | „Zur Klarstellung: Niemand wird dafür verurteilt, Politik gemacht zu haben – darum geht es nicht. Die Frage war, ob die Verträge erfüllt worden sind oder nicht.“ |
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↑2 | „Das Gericht kann jedoch in Anbetracht der Umstände der Straftat und der Persönlichkeit des Täters mittels einer besonders begründeten Entscheidung davon absehen, diese Strafe zu verhängen.“ |
↑3 | Marine Le Pen führte gestern Abend dazu aus: „Jordan Bardella est un atout formidable pour le mouvement, que nous n’aurons pas à user de cet atout plus tôt que nécessaire.“ – „Jordan Bardella ist ein großartiger Trumpf für die Bewegung, den wir nicht früher als nötig einsetzen müssen.“ Vgl. das Exklusivinterview mit Marine Le Pen im Journal de 20 heures vom 31.3.2025. |
Vieles ist richtig, ein wesentliches Detail leider nicht. Zwar ist der Verlust der Wählbarkeit seit der loi Sapin II eine obligatorische Nebenfolge, soweit nicht mit besonderer Begründung abweichend erkannt wird. Das bedeutet aber nicht, dass auch die “exécution provisiore”, also die sofortige Wirkung dieser Nebenfolge, obligatorisch wäre. Diese hat das Gericht aufgrund eigenen Ermessens angeordnet und sich dabei auf Wiederholungsgefahr und Störung der öffentlichen Ordnung berufen. Darin liegt die – vom Gericht erkannte – eigene politische Tragweite des Urteils.
Ich verstehe nicht, worin genau der Vermögensschaden bestehen soll. Wer ist der Geschädigte? Für welchen Zweck waren denn die EU-Gelder vorgesehen, die zweckentfremdet verwendet worden sein sollen?
Gibt es ein Gesetz, dass es einem EMP verbietet, jemanden in Paris zu beschäftigen und bei seiner politischen Arbeit zu unterstützen?