Der maschinenlesbare Mensch: EuGH kann kein Problem erkennen
Darf die EU mir die Pflicht zumuten, dem Staat meine Fingerabdrücke zur Verfügung zu stellen, damit er mich bei der Ein- und Ausreise besser identifizieren kann? Jawohl, das darf sie. Das hat der Europäische Gerichtshof heute festgestellt. Dass er am gleichen Tag auch die Pflicht, Lämmer und Ziegen mit Chip und Ohrknopf zu versehen, für europarechtskonform gehalten hat, ist sicher nur ein Zufall.
Wenn ich einen neuen Pass beantragen will, muss ich meine Fingerabdrücke abliefern, damit diese digitalisiert und auf einem in meinem Pass integrierten Chip gespeichert werden können. Tue ich das nicht, bekomme ich keinen Pass. Das ist, wie der EuGH anerkennt, ein Eingriff in mein Recht auf Schutz meiner personenbezogenen Daten.
Gerechtfertigt wird dieser Eingriff dadurch, dass er verhindern soll, dass ich oder jemand anders einen Pass vorzeige, der wie meiner aussieht, aber nicht meiner ist – vor allem, aber nicht nur, an der Grenze. Das sei ein legitimes Ziel, so der EuGH.
Aber ist der Eingriff auch verhältnismäßig? Absolut, findet der EuGH. Es könne schon sein, dass der Abgleich meines Fingerabdrucks mit den Daten auf meinem Pass fehleranfällig sei und dass es passieren könne, dass entweder ein Fälscher trotzdem ungehindert einreist oder ich zu Unrecht festgehalten und verhört werde. Aber das mache nichts. Es reiche schon aus, wenn der Fingerabdruck Fälschern das Leben ein Stück schwerer mache. Und auch mir passiere doch nichts Schlimmes, wenn ich zu Unrecht als Fälscher verdächtigt werde: Wenn ich wirklich ich bin, dann darf ich ja einreisen. Ein Fehlalarm werde
lediglich dazu führen, dass die Aufmerksamkeit der zuständigen Behörden auf den Betreffenden gelenkt und in der Folge in Bezug auf ihn eine eingehende Überprüfung vorgenommen wird, um seine Identität endgültig zu klären.
Na, dann ist ja alles gut. Das wird mir Trost spenden, wenn ich am Flughafen im fensterlosen Verhörraum sitze und darauf warte, bis die auf mich gelenkte Aufmerksamkeit der Behörden wieder gewillt ist, von mir abzulassen.
Ein extrem mildes Mittel
Auch die Erforderlichkeit hakt der EuGH schnell ab: Ein milderes Mittel sei schon deshalb nicht erkennbar, weil schon der Fingerabdruckabgleich selber extrem milde sei.
Diese Finger sind auch normalerweise den Blicken anderer Personen ausgesetzt, so dass die Erfassung kein Vorgang intimer Natur ist. Ebenso wie die Aufnahme des Gesichtsbilds führt auch sie nicht zu einer besonderen körperlichen oder psychischen Unannehmlichkeit für den Betroffenen.
Dass zwar meine Finger, nicht aber meine in der Fingerkuppenhaut codierten biometrischen Merkmale “den Blicken anderer Personen ausgesetzt” sind, scheint für den EuGH als Unterschied nicht weiter ins Gewicht zu fallen.
So oder so sei die “einzige (…) echte Alternative” das Scannen der Augen-Netzhaut. Die Technik dazu sei aber noch nicht ausgereift und noch zu teuer, also doch keine echte Alternative. Daher sei nicht erkennbar, dass es
Maßnahmen gäbe, die hinreichend wirksam zum Ziel des Schutzes vor betrügerischer Verwendung von Reisepässen beitragen könnten und dabei weniger schwerwiegend in die durch die Art. 7 und 8 der Charta anerkannten Rechte eingriffen als das auf den Fingerabdrücken beruhende Verfahren.
Aber muss ich nicht befürchten, dass mit den Daten auch sonst noch allerhand passiert, wenn sie erst einmal so praktisch auf meinem Reisepass verewigt sind? Aber nein, beruhigt mich der EuGH: Die EU-Verordnung sehe doch ausdrücklich vor, dass die Daten nur zu dem Zweck ausgelesen werden dürfen, mich als Passinhaber zu identifizieren, und zu nichts sonst.
Ich brauche auch keine Angst zu haben, dass Dritte mit meinen Daten Unfug anstellen können: Die Verordnung fordere schließlich einen “hohen Sicherheitsstandard”. Dafür, dass die Daten eines Tages zentral gespeichert werden, biete die Verordnung keine Rechtsgrundlage. Und wenn die Speicherung doch einmal eingeführt wird, dann müsse man sich halt gegen den Rechtsakt wenden, in dem das geschieht. Die Pflicht zum Fingerabdruck könne da nichts dafür.
Was immer es an Szenarien gibt, was alles Schlimmes mit dem Fingerabdruck im Pass angestellt werden kann – und das ist eine ganze Menge -, hat offenbar nicht ausgereicht, um die Richter in Luxemburg von der Grundrechtswidrigkeit dieser Verordnung zu überzeugen.
Was Biometrie bedrohlich macht
Mir scheint diese Entscheidung aber von einem fundamentaleren blinden Fleck im Gesichtsfeld des EuGH zu zeugen. Er sieht offenbar gar nicht, worin die Bedrohlichkeit des biometrischen Reisepasses überhaupt besteht. Jedenfalls kann ich nicht erkennen, dass er diese an irgendeiner Stelle gegen das Interesse der EU am Schutz ihrer Außengrenzen abwägt.
Tatsächlich ist ja, jenseits der hypothetischen Missbrauchsszenarien, die man glauben kann oder (wie der EuGH) auch nicht, gar nicht so leicht zu greifen, was überhaupt so schlimm sein soll am Fingerabdruck-Chip in meinem Pass. Der Schutz der Intimsphäre, der Chilling Effect auf die Ausübung von Freiheitsrechten, was immer man sonst an greifbaren Freiheitsbeschränkungen ins Feld führen kann, das ist hier alles nicht der Punkt. Was ist es also, was die Biometrie so unheimlich macht?
Zwei Dinge. Zum einen ist es das Ziel selbst, meine Identifizierbarkeit zu perfektionieren. Aus Sicht des Staates ist das eine einschränkungslos feine Sache. Jeder Staat, wie wir dank James C. Scott wissen, hat das größte Interesse daran, seine Bevölkerung möglichst lesbar zu machen. Aber dieses Interesse muss ich mir deshalb noch lange nicht zu eigen machen. Ich will nicht perfekt erkenn- und identifizierbar sein. Ich will nicht einem Staat gegenüber stehen, dem ich buchstäblich nichts mehr vormachen kann. Der Machtanspruch des Staates ist mir nur solange erträglich, als ich zumindest hypothetisch die Möglichkeit habe, ihn zum Narren zu halten. Bei dem Gedanken, dass diese Möglichkeit ganz verschwinden könnte, schnürt es mir die Kehle zu.
Zugegeben, es ist viel verlangt von einem Gericht bzw. von einer Grundrechtsordnung, dieses Interesse als schützeswert zu erkennen. Der Entscheidung des EuGH jedenfalls ist deutlich anzumerken, dass der Gedanke, die perfekte Identifizierbarkeit könnte etwas anderes sein als einfach nur super, völlig außer seiner Reichweite liegt.
Das gilt aber nicht für den zweiten Aspekt. Meine Identifizierbarkeit perfektionieren zu wollen, ist eine Sache. Mich zu zwingen, dafür meinen Körper maschinenlesbar zu machen, eine andere.
Mein Fingerabdruck ist, anders als mein Gesicht, kein Zeichen, das ich nach außen trage, kein Interface zur Außenwelt, mit dem ich mich selbst erkenn- und identifizierbar für andere mache. Meine Fingerkuppenhaut ist nur, genauso wie meine Iris (oder, for that matter, meine DNA), eine Stelle meines Körpers, die so komplex beschaffen ist, dass ich dort tatsächlich keinem anderen Menschen auf der Welt gleiche. Sie ist, was mich betrifft, überhaupt kein Zeichen. Sie wird es erst, indem der Staat sie als nützlich für seine Zwecke erkennt und ihr einen Zeichenwert zuweist.
Wenn der Staat mich zwingt, diese Einzigartigkeiten meines Körpers nach außen zu kehren und zum Zeichen meiner Identifizierbarkeit werden zu lassen, im Dienste des staatlichen Interesses an der Lesbarkeit seiner Bevölkerung, dann greift er damit tief in meine körperliche Integrität ein.
Das hat der EuGH überhaupt nicht in den Blick bekommen. Stattdessen besitzt er die Albernheit, uns darauf hinzuweisen, dass wir doch sonst auch nichts dagegen haben, wenn jemand unseren Zeigefinger sieht. Als ob es darum ginge.
Vielleicht ist dieses Gericht, das sonst gewohnt ist, über Beihilfen und Kartellverstöße zu richten, halt doch noch nicht so weit, dass man sich von in punkto Grundrechtsschutz immer und überall viel zu versprechen bräuchte…
Das ist jetzt doch etwas viel billige Polemik (“Vielleicht ist dieses Gericht, das sonst gewohnt ist, über Beihilfen und Kartellverstöße zu richten..”). Das BVerfG hätte diesen Fall wohl nicht anders entschieden und der EuGH kann natürlich auch die Verhältnismäßigkeit prüfen, was er bei jeder Beeinträchtigung der Grundfreiheiten macht, die eine strukturelle Ähnlichkeit in der Prüfung mit den Grundrechten haben. Das Problem ist eher der Pseudo-Rationalismus und Dezisionismus der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Der EuGH ist zumindest so ehrlich sich zumeist auf die Geeignetheit und Erforderlichkeit zu konzentrieren, die noch nachvollziehbar dargestellt werden können. Bei der Angessenheit/Verhältnismäßigkeit ieS kommt das raus, was man oben reingesteckt hat. Also kein Grund für einen Verriss.
Das BVerfG wäre nie so “albern” gewesen einen Eingriff in Art. 2 II 1 2. Var GG zu prüfen. Auch nicht im übertragenen Sinne.
Lieber Max,
ohne dass ich mich damit einer Meinung zur EuGH-Entscheidung anschließen möchte, darf ich darauf hinweisen, dass mit zunehmender “Europäisierung” des Rechts der Grundrechtsschutz durch GG und BVerfG immer weiter abnimmt und durch den Schutz durch GRC und EuGH ersetzt werden wird. Was daraus werden könnte, lässt sich erahnen. So müssen also EMRK und EGMR nach dem Beitritt der Union helfen. Wie aber soll das in der Zwischenzeit funktionieren? Und: Kann der EGMR den bisher in seiner Masse national erledigten Grundrechtsschutz gewährleisten und die drohende Lücke schließen, wenn man seine Belastung im Auge behält? Schließlich: Ist das ein akzeptabler Preis für mehr Integration, die an anderer Stelle des Blogs befürwortet wird, oder setzt nicht umgekehrt mehr Integration die Effektivierung des Grundrechtsschutzes in der Union voraus?
@Hartmut Rensen: Das wird schon. Mal sehen, ob das BVerfG demnächst seine Solange II-Formel weiterentwickelt, in Richtung bereichsspezifischer Gewährleistungen. Dann kann man gezielt dort nachhelfen, wo es derzeit besonders arg hakt (natürlich hilft das nicht über die Probleme hinweg, die Karlsruhe selbst hat, ich sage nur Eigentumsfreiheit und Privatautonomie).
@Aufmerksamer Leser: Über das BVerfG und die prognostizerte Bildung bereichspezifischer Gewährleistungen hinaus – das wäre doch wohl eine recht aufsehenerregende Fortentwicklung, auf deren Begründung ich schon sehr gespannt bin – bietet sich natürlich die Möglichkeit, den EuGH mehr im Sinne eines Grundrechtsschutzes umzugestalten. Dazu vielleicht nur soviel: Das BVerfG hat seine weitreichenden Maßstäbe auch deshalb entwickelt, weil nur sie der Hebel zur Entscheidung sind. Allgemein: Nur ein Gericht, das ein essentielles Interesse an der Fortentwicklung des Grundrechtsschutzes hat, wird eine solche wirklich anstreben. Wer also Grundrechtsschutz durch den EuGH wünscht, sollte über eine Umgestaltung auch des Verfahrensrechts des EuGH und des Zugangs der Bürger zum EuGH nachdenken. Das EuGH-Modell ist eben nicht in Richtung Grundrechtsschutz effektiv, sondern im Sinne von Integration und Harmonisierung. Ob der gleiche Effekt wie er von einer Umgestaltung des Verfahrensrechts und der Funktion des EuGH zu erwarten wäre auch durch eine äußere EInwirkung zu erzielen sein wird, wage ich zu bezweifeln, bin aber natürlich gespannt auf den Beginn entsprechender Maßnahmen, die über die bisherige Rspr. einiger europäischer Verfassungsgerichte hinausreichen.
@Hartmut Rensen: Die Bürger haben ja schon “Zugang” zum EuGH, das läuft nur nicht über Verfassungsbeschwerden, sondern über die nationalen Ausgangsgerichte & Vorabentscheidungsverfahren. Was sollte da ein weiterer Zugang? Nach Rechtskraft der innerstaatlichen Entscheidung, der evtl. sogar ein Vorabentscheidungsverfahren vorausging, ein weiterer Rechtsbehelf nach Luxemburg?
Der Ansatz kann doch nur die Frage des Grundrechtsschutzes sein, der demjenigen des Grundgesetzes im Wesentlichen vergleichbar ist – im Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Karlsruhe. Vielleicht hat der Erste Senat ja Lust, das allgemeine Persönlichkeitsrecht mal ein bisschen zu akzentuieren und der Sache nachzugehen, ob in diesem Bereich die Performance des EuGH “im Wesentlichen vergleichbar” ist. Das wird sich dann schnell auf einem erträglichen Niveau einpendeln, weil der EuGH ja kein Interesse daran hat, zukünftig wieder Instanzgericht zu sein.
@Hartmut Rensen:
Hinsichtlich der Grundrechtsorientierung teile ich Ihre Befürchtungen mit Blick auf Luxemburg. Ich nehme auch mal an, dass der EuGH vor a