24 September 2020

Mehr Schein als Sein?

Legislative Unklarheiten und operative Fallstricke des EU-Asylpakets

Wir haben uns daran gewöhnt, dass das europäische Asylrecht nur schlecht funktioniert und teilweise ganz offen missachtet wird. In den letzten Jahren wurde viel über die schlechten Lebensstandards auf den griechischen Inseln und die notorische Ineffektivität der Dublin-Verfahren berichtet. Dies nährte die Hoffnung, dass die Veröffentlichung des zuletzt mehrfach verschobenen „neuen“ Migrations- und Asylpakts einen „Neuanfang“ wagt, den die Pressemitteilung der Kommission vollmundig versprach. Auch die Kommissionsmitteilung zeigte sich geläutert, wenn sie freimütig konzedierte, dass „das aktuelle System nicht mehr funktioniert“.

Inwiefern die Vorschläge das selbstgesetzte Ziel erreichen würden, war nicht unmittelbar klar, denn die Kommission konzentrierte die Öffentlichkeitsarbeit auf eine „Mitteilung“ von 29 Seiten nebst bunten Factsheets sowie Fragen und Antworten, die in immer neuen Wendungen den tiefgreifenden Neuigkeitswert betonten. Um was es genau geht, muss man in mühsamer Kleinarbeit den Gesetzgebungsvorschlägen und Empfehlungen entnehmen, die zusammen über 300 eng bedruckte Seiten füllen, die bislang nur vereinzelt auch auf Deutsch vorliegen. Hier findet sich die Substanz, die für die Fachcommunity ebenso wichtig ist wie für die öffentliche Diskussion – und es zeigt sich, dass der wortreich beschworene Neuanfang unvollständig bleibt. Dies zeigen sieben zentrale Inhalte des Reformpakets.

(1) „Screening light“: deutsche Initiative ausgebremst

Viel Wirbel hatte es im letzten Herbst gegeben, als die Bundesregierung im Vorfeld der aktuellen Ratspräsidentschaft ein Nonpaper vorgestellt hatte, indem sie eine „verpflichtende Vorprüfung“ an den Außengrenzen gefordert hatte. Auf den ersten Blick hat sich diese Idee durchgesetzt: Mit großen Worten kündigt die Kommission „erstmals ein Screening vor der Einreise“ an, das noch dazu in einer eigenständigen „Screening-Verordnung“ niedergelegt werden soll, die das angeblich abgeschaffte Dublin-System teilweise ersetzt. Viel Neues enthält der Vorschlag freilich nicht, einmal abgesehen von einem obligatorischen Gesundheitsscreening, das in Zeiten des Coronavirus die meisten Mitgliedstaaten ohnehin längst durchführen.

Nachhaltig erleichtert würde das Asylverfahren, wenn das Screening binnen der versprochenen Maximaldauer von fünf bis zehn Tagen (Art. 6 Abs. 3) tatsächlich die Identität von Antragstellenden klären könnte. In der Praxis bleibt diese vor allem dann häufig unklar, wenn jemand eine geringe Bleibechance hat. Allerdings kann die Verordnung die Identitätsklärung nicht garantieren. Obligatorisch ist wohl nur der Abgleich mit diversen Datenbanken. Allgemein genannt werden auch sonstige Erkenntnisquellen, was offenbar auf die Auswertung von Handy-Daten abzielt (Art. 10 Abs. 1 Buchst. b), in der Sache aber so unbestimmt bleibt, dass keine einheitlichen Standards etabliert werden. Es ist bezeichnend, dass das Ergebnis des Screenings in einem betont kurzen Formblatt festgehalten werden soll (Art. 13 i.V.m. Anhang), in dem es überraschend direkt heißt, dass die Staatsangehörigkeit eine „vorläufige Festlegung“ sei. Damit leistet das Screening nicht viel mehr, als schon bisher obligatorisch ist, wenn Asylanträge registriert werden.

Ein Vergleich mit dem Nonpaper der heutigen Ratspräsidentschaft zeigt, wo die Kommission mutiger hätte sein können. Ausdrücklich hatte das Nonpaper erwogen, die Vorprüfung schrittweise der künftigen EU-Asylagentur zu übertragen (das derzeitige EU-Asylbüro namens EASO mit Sitz in Malta). Davon übrig blieb eine allgemeine Unterstützungsoption „innerhalb des Mandats“ (Art. 6 Abs. 7). Eigenständige Entscheidungskompetenzen wird die Asylagentur aufgrund des künftigen Mandats nicht besitzen, über das sich der Rat und das Europäische Parlament bereits einig wurden und das die Kommission gestern nicht auszuweiten vorschlug. Gewiss machte EASO schon bisher teilweise mehr, als das aktuelle Mandat zuließ.

Die Kommission scheut davor zurück, „mehr Europa“ zu wagen, indem man den Agenturen eigenständige Entscheidungsbefugnisse überträgt, die in vorsichtigen Schritten ein wirklich gemeinsames Asylverfahren schaffen würden. Mit den europäischen Verträgen wäre dies durchaus vereinbar, solange die EU-Agenturen vorrangig in den Fällen handeln, in denen die nationalen Behörden es alleine nicht schaffen. So bleibt es beim Status quo: Frontex und die künftige Asylagentur unterstützen die Mitgliedstaaten, die weiterhin für das Screening und die Asylverfahren zuständig sind.

(2) Grenzverfahren: administratives Nadelöhr

Wichtig für das Verständnis des Reformpakets ist, dass dieses – anders als das deutsche Nonpaper – mit dem Screening keine inhaltliche „Vorprüfung“ des Schutzbedarfs in einem pauschalisierten Kurzverfahren vorschlägt. Stattdessen will die Kommission das sogenannte „Grenzverfahren“ ausweiten, das schon bisher existiert und letztlich ein ganz normales Asylverfahren ist, für das freilich strengere Regeln und kürzere Fristen gelten. Eine Anhörung mit Einzelfallprüfung (Art. 11-13 des ursprünglichen Vorschlags) gibt es ebenso wie Rechtsschutz, der eine „umfassende Exnunc-Prüfung vorsieht, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt“ (Art. 53 Abs. 3 des geänderten Vorschlags für eine Asylverfahrensverordnung). Rechtsbeistand und sonstige Hilfe kann es nach allgemeinen Regeln auch kostenlos geben (Art. 14-17 des ursprünglichen Vorschlags). Hier schlägt die Kommission keine Verschärfungen vor. Formal gesehen wird das Asylrecht weder abgeschafft noch ausgehöhlt.

Eine andere Frage ist naturgemäß, ob diese Rechte der Antragstellenden in Grenzverfahren in der Praxis wirkungsvoll garantiert werden können, wenn diese in der europäischen Peripherie stattfinden. Die Erfahrung mit den griechischen Inseln und den praktisch völlig unzureichenden ungarischen Transitzonen bekräftigt, dass diese Kritik berechtigt ist (einmal abgesehen davon, dass auf den griechischen Inseln größtenteils keine beschleunigten Grenzverfahren stattfinden, sondern normale Asylverfahren). Prinzipiell möglich sind rechtsstaatliche Grenzverfahren jedoch. Sie wurden vom BVerfG ebenso akzeptiert wie vom EGMR und dem EuGH, der jedoch zugleich die ungarische Praxis als rechtswidrig brandmarkte.

Das Problem der Anwendungsdefizite besteht freilich auch umgekehrt. So verspricht die Kommission, das Grenzverfahren unter Einschluss des Rechtsschutzes binnen zwölf und in Krisen in 20 Wochen abzuschließen (Art. 41 Abs. 11 der geänderten Verfahrens- sowie Art. 4 Buchst. b der neuen Krisenverordnung). Hinzu kommt derselbe Zeitraum für die Rückführung, die die Kommission ebenfalls dem Grenzverfahren zuordnet, so der Asylantrag abgelehnt wird (Art. 41a Abs. 2). Erreicht werden soll die Gesamtdauer von unter einem Jahr durch kürzere Klagefristen von einer Woche bei einer eindeutigen Ablehnung, einheitliche Verwaltungs- und Gerichtsverfahren für den Asylbescheid und die Rückkehrentscheidung, strengere Regeln zur aufschiebenden Wirkung von Klagen sowie die Reduktion des Rechtswegs auf eine Instanz (Art. 35a, 53 f.). Die Frist zur freiwilligen Ausreise beträgt maximal 15 Tage (Art. 41a Abs. 4).

Doch wer garantiert, dass die nationalen Behörden und Gerichte diese Fristen in der Praxis einhalten? Schon bisher steht in Art. 31 Abs. 3 der Verfahrensrichtlinie, dass ein Asylverfahren nur sechs Monate dauern sollen. Auf den griechischen Inseln ist das eine Illusion. Die Verfahren und der Rechtsschutz ziehen sich größtenteils über Jahre hin. So droht mit der versprochenen Effektivität durch schnelle Verfahren dasselbe wie mit den Rechten von Asylsuchenden: in der Praxis kommen die europäischen Regeln leider nicht immer an. Gewiss können die EU-Agenturen das Problem alleine nicht beheben, aber sie bleiben das beste Instrument, das wir haben, um faire und schnelle Verfahren zu garantieren.

(3) Unterbringung: keine „geschlossenen Zentren“

Meine Analyse stimmt nicht mit derjenigen von Pro Asyl überein, das vor „‚geschlossenen Zentren‘ (sprich Haftlagern)“ warnt. Vielmehr sollen Grenzverfahren auch weiterhin nicht notwendig mit einer Haft einhergehen (zum Status quo hier, S. 42-46), auch wenn die Vorschläge auf den ersten Blick dies anzuordnen scheinen. So bekräftigt die Kommission, dass Screening und Grenzverfahren keine förmliche Einreiseerlaubnis beinhalten (Art. 41 Abs. 6 geänderte Verfahrensverordnung; Art. 4 Screening-Verordnung). Es erfolgt also das, was in der deutschen Diskussion als „Fiktion der Nichteinreise“ schon manche Missverständnisse verursachte, weil dies teilweise als förmliche Rechtlosigkeit präsentiert wurde, obgleich es um eine verwaltungsrechtliche Fiktion geht, die die Geltung der Grundrechte und der sonstigen Verfahrensgarantien nicht beeinträchtigt.

Nun klingt eine fingierte Nichteinreise nach einer haftähnlichen Situation, ganz ähnlich wie im deutschen Flughafenverfahren. Allerdings sagt die Kommission zugleich, dass eine Haft nur im Einzelfall angeordnet werden darf und mithin offenbar nicht automatisch erfolgt (Art. 41 Abs. 9 Buchst. d, Art. 41a Abs. 5 f.). Dies entspricht dem EuGH-Urteil zu den ungarischen Transitzonen, das sich auf das geltende Recht gestützt hatte, das die Kommission gerade nicht zu ändern vorschlägt, was die Haft angeht. Diese muss weiterhin im Einzelfall von den Behörden angeordnet und kann gerichtlich überprüft werden (Art. 8 ff. der vorgeschlagenen Aufnahmerichtlinie), was die Grenzverfahren weiter verlängern dürfte.

Im Ergebnis sind die künftigen Grenzverfahren also eher mit den bayerischen Ankerzentren oder den griechischen Camps mit ihren ungleich schlechteren tatsächlichen Standards vergleichbar als mit dem deutschen Flughafenverfahren. Asylsuchende dürfen die Zentren verlassen, solange die Haft nicht angeordnet wird. Eben dies entspricht einer Forderung der SPD, die sich für „offene Asylzentren auf EU-Territorium“ eingesetzt hatte. Nichts anderes schlägt die Kommission nunmehr vor. Alles Weitere wird von der Praxis der Mitgliedstaaten abhängen, die gleichwohl versuchen könnten, die Haft standardmäßig anzuordnen. Die Kommission will dies speziell für die Rückführung punktuell erleichtern (Art. 41a Abs. 5, 7).

(4) Hotspots reloaded: ein neues Moria?

Der Brand des Flüchtlingslagers in Moria hat uns alle daran erinnert, dass an den Außengrenzen derzeit viel schiefläuft. Die Unterbringungsstandards entsprechen nicht den europäischen Vorgaben, die Asylverfahren dauern notorisch lange und auch die Idee einer schnellen Rückführung, die der EU-Türkei-Erklärung eigentlich zugrunde liegt, funktioniert nicht. Dies führte dazu, dass die Lager immer größer wurden. Die Kommission sieht diese Gefahr durchaus, allerdings bleibt unklar, ob die vorgeschlagenen Instrumente ausreichen werden, einen Rückstau künftig zu verhindern. Dies gilt nicht nur für die Frage der administrativen Kapazitäten, wo letztlich nur versprochen wird, die Agenturen zu stärken und zusätzlich nationale Ressourcen auch in Krisensituationen zu mobilisieren.

Legislativ dürfen Grenzverfahren und Rückführung maximal 40 Wochen dauern. Danach sollen alle Personen, deren Asylantrag abgelehnt wurde und die nicht ausgereist sind, anderweitig untergebracht werden. Dauerhafte Limbo-Situationen soll es nicht mehr geben. Das funktioniert freilich nur, wenn die Mitgliedstaaten die betroffenen Personen nicht in denselben Lagern unterbringen (wie bisher auf den griechischen Inseln). Hinzu kommen weitere Entlastungsoptionen. So sollen nicht nur mehr Menschen aufgrund der neuen Solidaritätsregeln in andere Mitgliedstaaten umgesiedelt werden, was bei einer gescheiterten Rückführung auch für diejenigen gilt, für die etwa Ungarn eine „Patenschaft“ übernommen hatte (Art. 55 Abs. 2 der neuen Managementverordnung). In Krisenzeiten sollen auch Menschen, die nur eine geringe Chance auf Anerkennung haben oder bereits einen positiven Asylentscheid erhielten, etwa nach Deutschland gebracht werden. Außerdem reaktiviert die Kommission die nie angewandte Richtlinie 2001/51/EG in modifizierter Form. In Krisenzeiten sollen künftig Bürgerkriegsflüchtlinge einen „sofortigen Schutz“ (immediate protection) erhalten können, der das Asylverfahren suspendiert und damit administrative Ressourcen schont (Art. 11 der neuen Krisenverordnung).

Damit sind zugleich die entscheidenden Hürden für ein funktionierendes Außengrenzverfahren benannt: ausreichende administrative Ressourcen für schnelle und faire Verfahren; eine solidarische Umverteilung von Personen mit Schutzbedarf sowie die wirksame Rückkehr von denjenigen, deren Asylantrag abgelehnt wurde. Nur wenn dies gelingt, wird sich ein neues Moria verhindern lassen. Man kann der EU-Asylpolitik nur wünschen, dass dies funktioniert. Garantiert ist es nicht.

(5) Dublin (über-)lebt: Mutation statt Beerdigung

Ich kann die Kommission verstehen, wenn sie alles unternimmt, um das Gefühl zu vermitteln, dass das Dublin-System aufgegeben werde. Ohne den Eindruck eines Neustarts dürfte die Reformdiskussion schnell im Sand verlaufen. In der Sache überlebt „Dublin“ allerdings sehr wohl. Speziell die künftige Asyl- und Migrationsmanagementverordnung ändert überraschend wenig. So soll weiterhin im Zweifel der Staat der Ersteinreise für einen Asylantrag zuständig sein (Art. 21). Daneben gibt es, ebenso wie bisher, spezielle Kriterien, die die Kommission auszuweiten vorschlägt. So soll künftig ein anderer Mitgliedstaat auch dann zuständig sein, wenn dort ein Studium abgeschlossen wurde oder dort Geschwister leben (Art. 16-18, 20). Letzteres hatte die Kommission schon 2016 vorgeschlagen (hier, Art. 11 f. i.V.m. 2 Buchst. g), die Mitgliedstaaten lehnten es jedoch ab. Bei den Zuständigkeitskriterien ändert sich also nicht viel, was die Begründung auch vergleichsweise offen eingesteht: „The current criteria for determining responsibility are essentially preserved“ (hier, S. 17).

Während die öffentliche Diskussion sich meistens auf das strukturell unfaire Ersteinreisekriterium konzentriert, ist speziell für Deutschland ein anderer Aspekt ebenso wichtig. Bisher muss nämlich ein Land das Asylverfahren übernehmen, wenn Asylsuchende irregulär dorthin weiterreisen und es nicht gelingt, sie binnen sechs Monaten nach der ersten Asylentscheidung in den zuständigen Staat zurückzuführen. In der Praxis ist das der Regelfall. Man darf in der EU mehrfach einen Asylantrag stellen, soweit man es schafft, irregulär im Wege der sogenannten Sekundärmigration weiterzuwandern. Ein zentrales Anliegen des deutschen Nonpaper war es, diese Regel durch eine „ewige Zuständigkeit“ zu ersetzen. Wer illegal weiterwandert, hätte typischerweise kein erneutes Verfahren bekommen und auch weniger Sozialleistungen erhalten. Das Europäische Parlament unterstützte bei den Verhandlungen über eine Dublin IV-Verordnung prinzipiell den abgeschafften Zuständigkeitsübergang, auf den sich auch die Mitgliedstaaten im Grundsatz bereits verständigt hatten (hier, Art. 9a).

Im Kommissionsvorschlag fehlt diese Regelung. Stattdessen führt die Managementverordnung den Zuständigkeitsübergang f