Mehrdeutige Wortfolge, pauschale Kriminalisierung
Zum Urteil des Landgerichts Berlin I über „From the river to the sea“ als Kennzeichen terroristischer Organisationen
Die zweite Strafkammer des Landgerichts Berlin I hat die Wortfolge From the river to the sea mit ihrem Urteil vom 8. November 2024 (502 KLs 21/24) zu einem Kennzeichen der Hamas erklärt und die Angeklagte in zwei Fällen wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen (§ 86a StGB) zu einer Geldstrafe verurteilt. Auf den ersten Blick mag das Urteil richtig wirken, denn die Angeklagte hatte auf Instagram und Tiktok lautstark ihre Unterstützung für die Hamas bekundet – jener islamistischen Terrororganisation, die den Massenmord an Jüdinnen, Juden und anderen in Israel lebenden Menschen geplant, am 7. Oktober 2023 ausgeführt und dabei über 1.100 Menschen getötet, über 5.400 Menschen verletzt und 250 Menschen in den Gaza-Streifen als Geiseln verschleppt hat. Allerdings reicht das Urteil weit über den hier entschiedenen Fall hinaus: Die von der Strafkammer vorgezeichnete Linie läuft auf eine pauschale Kriminalisierung der mehrdeutigen Wortfolge hinaus. Nichtregierungsorganisationen (hier S. 9) und die Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit der Vereinten Nationen (hier Abs. 74) halten dies für menschenrechtswidrig, weil so auch all jene mit Strafe bedroht sind, die From the river to the sea ohne Bezug zur Hamas in irgendeiner Weise palästinasolidarisch verwenden. Auf den zweiten Blick erweist sich das Urteil sodann nicht nur als grundrechtlich bedenklich, sondern auch aus strafrechtlicher und tatsächlicher Perspektive problematisch. From the river to the sea erfüllt nämlich nicht die Voraussetzungen des Merkmals „Kennzeichen“ in § 86a StGB (so u.a. bereits LG Mannheim 5 Qs 42/23 Rn. 8-10). Darüber hinaus geht aus den Feststellungen des Landgerichts nicht hervor, dass die Hamas die Wortfolge in einer Weise verwendet hat, die sie gerade als charakterisierendes Identifikationsobjekt dieser Organisation erscheinen ließe.
Urteil des Landgerichts Berlin
Das kürzlich veröffentlichte Urteil war mit Hinblick auf hunderte in Berlin anhängige Strafverfahren zu der Wortfolge, bundesweit divergierender Gerichtsentscheidungen und gegensätzlicher Positionen im juristischen Diskurs mit Spannung erwartet worden. Nach den Feststellungen des Landgerichts (Rn. 3 ff.) betrieb die Angeklagte im November 2023 auf Instagram und TikTok die Benutzerkonten „Hamas_Lounge“. Am 12. November postete sie vor 131 Followern: „FreePalestine“ – Absatz – „FROM THE RIVER TO THE SEA” – Absatz – „PALESTINE WILL BE FREE!!!“ – Absatz – „I [Herz-Emoji] Hamas“. Nach der Sperrung des Accounts folgte rund einen Monat später unter „Hamas_Lounge_2.0“ und vor 55 Followern: „FREE PALESTINE“ – Absatz – „Ich distanziere mich NICHT von der HAMAS!!!!!!!“ – Absatz – „From the river to the sea“ – Absatz – „Palestine will be free“. Einige Wochen später veröffentlichte sie unter „Hamas_Lounge_8.0“ ein Video mit Hamas-Content. Der Fall bot der Berliner Staatsanwaltschaft eine Steilvorlage. Diese hatte sich bislang teils erfolglos beim Amtsgericht Tiergarten um eine Kriminalisierung der Wortfolge bemüht (s. z.B. einen unveröffentlichten Beschluss des Amtsgerichts vom 24.07.2024). Vor diesem Hintergrund scheint es, als sei der Fall der offenbar frenetischen Hamas-Befürworterin bewusst ausgewählt und im Gegensatz zu anderen Verfahren beim Landgericht angeklagt worden – das für § 86a StGB jedenfalls nicht originär zuständig ist (vgl. § 74a Abs. 1 Nr. 2 GVG). Die Strafkammer gelangt zu dem Schluss, dass sich die Angeklagte wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen strafbar gemacht habe.
Dabei kreist die Entscheidung um drei zentrale Fragen: 1) Handelt es sich bei der Wortfolge überhaupt um ein Kennzeichen? Hat die Hamas die Wortfolge so verwendet, dass sie gerade diese Organisation kennzeichnet? Und, wenn beides der Fall ist: 3) In welchen Situationen ist die Verwendung der Wortfolge ausnahmsweise nicht strafbar?
Fehlende Kennzeicheneigenschaft von „From the river to the sea“
Zunächst geht das Urteil darauf ein, was unter einem Kennzeichen im Sinne von § 86a StGB zu verstehen ist. Insoweit enthält die Entscheidung nichts Neues: Ein Kennzeichen sei ein charakteristisches Identifikationsobjekt einer Vereinigung in Form eines sicht- oder hörbaren, verkörperten oder nichtkörperlichen Symbols, das einen gedanklich an das äußere Erscheinungsbild gekoppelten, jedoch über dessen eigentlichen Informationsgehalt hinausgehenden Sinn vermittele (LG Berlin a.a.O. Rn. 41 mit Verweis auf MüKo-StGB/Anstötz, 4. Aufl., § 86a Rn. 5 ff.). Die Vorschrift selbst nennt einige Beispiele, was ein Kennzeichen sein kann: Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke, Parolen und Grußformen, § 86a Abs. 2 S. 1 StGB. Formelhafte Wendungen und allgemeine Ausdrucksformen politischer Gesinnung seien demgegenüber nicht tatbestandsmäßig. Merkmal des Kennzeichenbegriffs sei die Hinweisfunktion auf die äußere Zusammengehörigkeit der Anhänger einer bestimmten politischen Auffassung.
Die Strafkammer sieht ausdrücklich keinen Anlass, den Kennzeichenbegriff einschränkend, unter Berücksichtigung des Grundrechts der Meinungsäußerungsfreiheit, auszulegen (Rn. 42). Dass das Symbol auch in unverfänglichen Zusammenhängen verwendet werde, auch wenn die Verwendung mehrdeutig sei und ohne Bezug zu der verbotenen Organisation erfolge, sei für die Einordnung als Kennzeichen unbeachtlich. Solche Umstände seien erst im Rahmen der Frage zu berücksichtigen, ob die Verwendung ausnahmsweise nicht gegen den Schutzzweck der Strafvorschrift verstoße bzw. sozialadäquat sei.
From the river to the sea erfülle die Voraussetzungen eines Kennzeichens im Sinne des § 86a StGB (Rn. 43 f.). Es handele sich nicht lediglich um eine formelhafte Wendung, den bloßen Ausdruck einer politischen Gesinnung oder eine schlichte geographische Beschreibung. Der Ausruf stelle sich als prägnant verkürzte Zielsetzung politisch Gleichgesinnter dar. Dieser Schluss überrascht, erkennt die Kammer doch, dass From the river to the sea schon seit Langem von unterschiedlichsten Akteuren im sogenannten Nahostkonflikt verwendet wird (Rn. 46; m.w.N. zur Genese Ambos JZ 2024, 620 ff. und bereits hier). Diese Akteure lassen sich nicht als politisch Gleichgesinnte zusammenfassen (z.B. Fatah und Likud). Vor diesem Hintergrund eignet sich die Wortfolge nicht als charakteristisches Identifikationsobjekt einer bestimmten Organisation, sondern erscheint als formelhafte Wendung (vgl. bereits zu From the river to the sea, Palestine will be free AG Mannheim, Beschluss vom 18.9.2023; LG Mannheim 5 Qs 42/23 Rn. 10 f.: Ausdruck politischer Gesinnung; zust. Amtsgericht Tiergarten, unveröffentlichter Beschluss vom 24.07.2024). Verschiedene Seiten verwenden sie als sprachliches Versatzstück, um politische Forderungen, die in ihr nicht enthalten sind, auf ein bestimmtes geografisches Gebiet zu erstrecken. So wird From the river to the sea z.B. mit der politischen Forderung palestine will be free, we demand equality (vgl. Ladeur JZ 2024, 932[934]) oder that’s the only flag you will see verbunden.
Gut, es gibt zwei Entscheidungen zweier Landgerichte, die hier in unterschiedliche Richtungen weisen, insoweit nichts Besonderes, könnte man nun einwenden. Bemerkenswert ist aber, dass sich die Berliner Entscheidung auch in Widerspruch zur Rechtsprechung des Kammergerichts begibt, dem höchsten Strafgericht in Berlin. Das Kammergericht meint, das jeweilige Zeichen müsse nicht nur einem unbefangenen Betrachter den Eindruck eines verbotenen Kennzeichens vermitteln, sondern zugleich müsse dessen Symbolgehalt als Kennzeichen der verbotenen Organisation erscheinen (KG 4 75/16 Rn. 8). Wenn nicht, bestehe eine Verwechselungsgefahr. Wesentlich für die Frage der Verwechselungsgefahr könne sein, ob das Zeichen spezifisch für die Ideologie der verbotenen Organisation stehe und, ob es ausschließlich von dieser verwandt wurde oder auch sonst verbreitet war (ebd.). Werde ein Zeichen in mehrdeutigen Zusammenhängen verwendet oder ergebe sich die Mehrdeutigkeit aus ihm selbst – so wie dies beides bei From the river to the sea der Fall ist –, müsse der mit ihm verbundene Aussagegehalt anhand aller maßgeblichen Umstände in einer Gesamtwürdigung des Erscheinungsbildes ermittelt werden (KG ebd. Rn. 8). Eine solche Gesamtwürdigung nimmt das Landgericht Berlin nicht vor (LG ebd. Rn. 44). Es meint, dass eine einschränkende Auslegung des Kennzeichenbegriffs trotz Mehrdeutigkeiten der Wortfolge „nicht möglich“ sei (ebd. Rn. 46). Nach der Kammergerichtsrechtsprechung hätte sich das Landgericht mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob die Wortfolge eine Verwechselungsgefahr birgt, gerade weil sie durch eine Vielzahl von Organisationen und politischen Akteuren auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlichem Bedeutungsgehalt verwendet wird.
Organisationsbezug – Kennzeichen der Hamas?
Was die zweite zentrale Frage betrifft, geht die Strafkammer des Landgerichts Berlin davon aus, dass es sich bei From the river to the sea um ein Kennzeichen der Hamas handele (Rn. 45). Die Zurechnung eines Kennzeichens zu einer verbotenen Organisation könne durch einen formalen Widmungsakt oder durch Übung der betreffenden Organisation erfolgen. Die Hamas habe sich From the river to the sea durch Übung zum Kennzeichen gemacht.
Obwohl das Merkmal der Übung für die Verurteilung zentral ist, definiert das Urteil den Begriff nicht – und auch in den Entscheidungen des Bundesgerichtshofs sucht man vergeblich nach einer solchen Definition (s. z.B. BGH 3 StR 164/08 Rn. 19). Dass sich die bisherige Rechtsprechung hiermit anscheinend noch nicht näher auseinandergesetzt hat, ist nachvollziehbar, denn die Zurechnung von Wortkennzeichen zu verbotenen Organisationen war bislang unproblematisch: So steht bei den Wortkennzeichen „Heil Hitler“, „Sieg Heil“, „Siggi Heil“, „Alles für Deutschland“ und „Deutschland erwache“ (Losungen der SA), „Meine Ehre heißt Treue“ (Motto der Waffen-SS), „Blut und Ehre“ (Leitsatz der HJ) und dem Text des Horst-Wessel-Lieds (Kampflied der SA) außer Frage, dass sich die NS-Organisationen die Wortfolgen als charakteristische Identifizierungsobjekte zu eigen gemacht haben.
Bei From the river to the sea ist indes zweifelhaft, dass sich die Hamas die Wortfolge derart zu eigen gemacht hat (s. u.a. bereits Article 19, Briefing: from the river to the sea, 10; Ambos JZ 2024, 935 f.). Qualifiziert man die Wortfolge als Kennzeichen (dagegen s.o.), erscheint sie als Kennzeichen einer internationalen und heterogenen Protestbewegung, die sich mit den Palästinenser:innen solidarisiert und derzeit vor allem für ein Ende der Völkerrechtsverbrechen in Gaza eintritt (s. Article 19 a.a.O. ). Weil sie von vielen unterschiedlichen politischen Akteuren im politischen Diskurs in unterschiedlichen Zusammenhängen verwendet wird, bleibt der Aussagegehalt der Wortfolge From the river to the sea mehrdeutig (z.B. Confino/Goldberg, Ambos JZ 2024, 620 [622], weitere Nachweise auch hier).
Unter solchen Vorzeichen muss besonders sorgfältig ermittelt werden, ob sich die verbotene Organisation das Wortkennzeichen hinreichend angeeignet hat – zumal die Meinungsäußerungsfreiheit aller politischen Akteure betroffen ist, die die Wortfolge in legitimer Weise verwenden. Nicht jede Verwendung durch eine verbotene Organisation führt dazu, dass die Wortfolge zu einem charakteristischen Identifizierungsobjekt jener Organisation wird. Vielmehr wäre nachzuweisen, dass die Wortfolge über einen längeren Zeitraum, in einer Vielzahl von Fällen und in einer Weise von Angehörigen der verbotenen Organisation verwendet wurde, die zu dem Schluss führt, dass sie zu einem charakteristischen Identifikationsobjekt jener Organisation geworden ist und andere Zuschreibungen vor diesem Hintergrund verblassen.
Diesen Anforderungen wird die Entscheidung nicht gerecht. Die Kammer verweist auf die Feststellungen, die sie sachverständig beraten durch einen forensisch erfahrenen Islamwissenschaftler getroffen habe. Diese Feststellungen fallen allerdings spärlich aus: „So wurde die exakte Wortfolge in die englische Originalfassung der Charta der ‚Hamas‘ von 2017 aufgenommen und in einer Vielzahl von öffentlichen Verlautbarungen der Vereinigung und ihrer Repräsentanten verwendet.“ (Rn. 7). Die besagte Charta umfasst knapp 3.000 Wörter. From the river to the sea wird darin wörtlich nur einmal verwendet. Dort heißt es in der englischsprachigen Fassung, dass die Hamas jede Alternative zur vollständigen Befreiung Palästinas ablehne, from the river to the sea. Im zweiten Absatz der Charta findet sich eine geografische Definition Palästinas, das vom Fluss Jordan im Osten bis zum Mittelmeer im Westen und von Ras al-Naqurah im Norden bis Umm al-Rashrash im Süden reiche und eine integrale territoriale Einheit bilde.
Vergeblich erwartet man nach der Angabe „Vielzahl von öffentlichen Verlautbarungen“ eine lange Liste mit Äußerungen, aus denen sich ergibt, welcher Hamas-Angehöriger, wann, wie, in welchem Zusammenhang die Wortfolge From the river to the sea verwendet habe. Da die genauen Äußerungen und ihre Umstände fehlen, lässt sich aus den Feststellungen nicht rekonstruieren, dass Hamas-Angehörige From the river to the sea in einer Weise verwendet hätten, die eine hinreichende Übung begründen würde. In der Beweiswürdigung findet sich zwar noch eine spezifischere Angabe: „Nur beispielhaft statt vieler stehen etwa entsprechende Äußerungen des Vorsitzenden des Politbüros der ‚Hamas‘ Chalid Maschal.“ (Rn. 28). Um welche Äußerungen es sich handelt, wird jedoch nicht weiter erläutert; gemeint sein könnte die hier dokumentierte Verwendung auf Arabisch. Die arabische ist der englischen Fassung aber nicht zum Verwechseln ähnlich, weil sie phonetisch (und auch typographisch) keine Ähnlichkeit aufweisen und weil der Gebrauch der arabischen Sprache weiten Teilen der Bevölkerung nicht geläufig ist (vgl. BGH 3 StR 228/09, Ls. 1, Rn. 15). Deshalb übt, wer die arabische Fassung verwendet, die englische Fassung nicht ein – und vice versa.
Dass eine Zuschreibung durch Außenstehende nicht ausreicht, um den erforderlichen Bezug zu der verbotenen Organisation herzustellen, merkt das Landgericht zutreffend an (Rn. 41). Die Kammer teilt folglich auch die Ansicht, dass die Verbotsverfügung des Innenministeriums den für § 86a StGB erforderlichen Organisationsbezug nicht zu begründen vermag (Rn. 30, so u.a. bereits hier, LG Mannheim 5 Qs 42/23 Rn. 12, VGH Bayern 10 CS 24.1062 Rn. 27). Sie rückt dann aber doch von dieser Auffassung ab, indem sie die Verbotsverfügung als Indiz dafür wertet, dass es einen hinreichenden Bezug zwischen Organisation (Hamas) und Wortfolge (From the river to the sea) gebe. Unspezifisch verweist die Kammer zudem darauf, dass die Wortfolge im Rahmen der weltweiten Kontroverse um den Überfall der Hamas und der militärischen Reaktion Israels als universell eingeführt gelte (Rn. 30, 29).
Wer das international kritisierte Vorgehen der Polizei und der Staatsanwaltschaften gegen palästinasolidarische Versammlungen und deren Teilnehmer:innen gerade in Berlin beobachtet, dem drängt sich ein jedoch anderer Gedanke auf: Erst die Verbotsverfügung des Innenministeriums, die darauffolgende Strafverfolgungswelle und damit einhergehende mediale Berichterstattungen sowie spätere ministeriale Verlautbarungen (krit. dazu Ambos JZ 620 [624]) perpetuieren im öffentlichen Bewusstsein und bestätigen sich wechselseitig, dass From the river to the sea ein charakteristisches Identifikationsobjekt der Hamas sei.
Ausnahmetatbestand nicht erfüllt
Eine Strafbarkeit wegen des Verwendens von Kennzeichen terroristischer Organisationen kann ausnahmsweise ausgeschlossen sein, wenn der Schutzzweck der Vorschrift nicht verletzt ist, z.B. wenn das Kennzeichen dazu verwendet wird, die Terrororganisation zu kritisieren oder sie zu parodieren, vgl. §§ 86a Abs. 3 i.V.m. 86 Abs. 4 StGB. Das war hier offensichtlich nicht der Fall, weil sich die Angeklagte affirmativ zur Hamas geäußert hatte. Die Strafkammer verneint also den Ausnahmetatbestand, was konsequent ist, wenn man der (oben kritisierten) Ansicht folgt, dass es sich bei der Wortfolge um ein Kennzeichen handelt und sich die Hamas dieses als Identifikationsobjekt angeeignet habe. Allerdings gibt die Strafkammer auch einen Hinweis mit auf den Weg, wie Fälle zu behandeln sein sollen, in denen ein Bezug zur Hamas fraglich ist: Nur, wenn sich aus den gesamten maßgeblichen Umständen eindeutig ergebe, dass die jeweilige Verwendung dem Schutzzweck des § 86a StGB nicht zuwiderlaufe, sei eine Strafbarkeit ausgeschlossen (Rn. 49 mit Verweis auf BGH 3 StR 164/08 Rn. 29). Der Schutzzweck soll darin bestehen, zu verhindern, dass bestimmte Organisationen und ihre Bestrebungen durch die Verwendung eines Kennzeichens wiederbelebt werden (BVerfG 2 BvR 2202/08 Rn. 13). Die Vorschrift verbanne entsprechende Kennzeichen grundsätzlich aus dem Bild des politischen Lebens und errichte so ein kommunikatives Tabu (ebd.).
Dennoch spricht sich eine Reihe von Gerichten dafür aus, dass eine Verwendung von From the river to the sea allein dann schutzzweckwidrig sein soll, wenn sie nach Würdigung der Gesamtumstände in einem erkennbaren Zusammenhang zu der verbotenen Organisation erfolgt (VGH Hessen 8 B 560/24 Rn. 28, LG Mannheim 5 Qs 42/23 Rn. 13, VGH Bayern 10 CS 24.1062 Rn. 26; so bereits VG Münster 1 L 1011/23 Rn. 34 ff. – die vorgelagerte Frage nach der Kennzeicheneigenschaft wird in den summarischen Prüfungen offengelassen bzw. vom LG Mannheim verneint). Diese Gerichte berufen sich auf die stetige Rechtsprechung des BVerfG zur Meinungsfreiheit (z.B. 1 BvR 1384/16 Rn. 17), nach der bei mehrdeutigen Äußerungen nur dann die zu einer Verurteilung führende Deutung unterstellt werden darf, wenn straflose Deutungsmöglichkeiten mit überzeugenden Gründen ausgeschlossen sind.
Mahnung der UN-Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit
Die von der zweiten Strafkammer des Landgerichts Berlin vorgezeichnete Linie kriminalisiert From the river to the sea weitreichend, sodass auch bei Versammlungen, deren Teilnehmer:innen sich mit der palästinensischen Sache, nicht aber mit der Hamas solidarisieren, ein Strafbarkeitsausschluss kaum noch in Betracht kommt. Eine derart pauschale Kriminalisierung hält die Sonderberichterstatterin für Meinungsfreiheit im Amt des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte schon bezüglich der spezifischeren Wortfolge From the river to the sea, Palestine will be free für unvereinbar mit dem Menschenrecht der Meinungsfreiheit (hier Abs. 74). In ihrem Bericht „Global threats to freedom of expression arising from the conflict in Gaza“ weist sie darauf hin, dass Wissenschaftler:innen, Menschenrechtsexpert:innen und palästinensische Fürsprechern:innen, einschließlich vieler jüdischer Gruppen und Intellektueller, in diesem Slogan den Aufruf zum Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser:innen erkennen und der These widersprechen, dass er als Unterstützung der Hamas zu verstehen sei (ebd. Abs. 73). Die vom Landgericht Berlin gewählte Auslegung erscheint mir außerdem nicht vereinbar mit dem Grundrecht auf Meinungsäußerungsfreiheit, weil sie chilling effects nach sich zieht (vgl. BVerfGE 93, 266 [292]). Sie steht exemplarisch für das harte staatliche Vorgehen gegen palästinasolidarische Stimmen, das im Namen der Staatsräson in unterschiedlichen Rechtsbereichen um sich greift und dazu führt, dass aus Furcht vor Sanktionen Kritik an Verletzungen des Völkerrechts und des Völkerstrafrechts unterbleibt.
Ich habe Ihre Abhandlung mit großem Interesse gelesen. Ich frage mich nun aber, ob die Wortfolge – jenseits der Möglichkeit sie eindeutig der Hamas zuordnen zu können – nicht bereits inhaltlich einen Straftatbestand darstellt. Kann man den Aufruf nicht (nur) so verstehen, dass es ein freies Palästina (vom Fluss bis zum Meer) nur unter Vernichtung des dort bestehenden Staates Israel geben kann? Also nach einem vollzogenen Völkermord?
War diese Interpretation bei den Verhandlungen nicht zur Sprache gekommen?