16 May 2019

Mit der Brechstange: EuGH erfindet Grundrecht auf Arbeitszeit­erfassung

Alle Arbeitnehmer in der EU haben ein Grundrecht auf Arbeitszeiterfassung! Das steht zwar so nirgends, ist aber zum Schutz der Arbeitnehmer vor Überschreitung der Höchstarbeitszeiten bzw. Unterschreitung der Mindestruhezeiten zwingend notwendig und diese Notwendigkeit ersetzt fehlenden Gesetzestext. Das hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) am 14. Mai 2019 auf ein Vorabentscheidungsersuchen aus Spanien (dazu I.) entschieden (dazu II.) und auch gleich gesagt, wer zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet ist: die Arbeitgeber (dazu III.). Doch so berechtigt der Gesundheitsschutz der Arbeitnehmer durch Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten auch ist – der Zweck heiligt nicht jedes Mittel, jedenfalls nicht einen lockeren Umgang mit der Gewaltenteilung (dazu IV.). 

I. Anlass der Entscheidung

Die Gelegenheit zu dieser Grundsatzentscheidung hat der EuGH dem Nationalen Gerichtshof in Spanien zu verdanken. Dort hat die spanische Dienstleistungsgewerkschaft CCOO die spanische Tochtergesellschaft der Deutschen Bank verklagt, weil die Bank nicht die Regelarbeitsstunden ihrer Beschäftigten, sondern nur die geleisteten Überstunden erfasst hat. Das entsprach dem spanischen Recht, wie der Oberste Gerichtshof von Spanien zuletzt im Jahr 2017 bestätigt hatte. Die CCOO war anderer Auffassung und konnte mit einer Verbandsklage zum Nationalen Gerichtshof eine Überprüfung der Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs durch den EuGH erreichen.

Die Methode hat Charme: Unterinstanzliche Gerichte schaffen mitunter dringend nötige Rechtssicherheit, wenn sie die Rechtsprechung der vorlagelethargischen Obergerichte einer Überprüfung durch den EuGH zuführen. Regelmäßig fühlen sich daraufhin die Richter an den »umgangenen« Obergerichten düpiert. Hierzulande wurde deshalb schon der Ruf nach einem Vorlagemonopol des Bundesverfassungsgerichts oder jedenfalls der Bundesgerichte laut. Beides wäre freilich mit Art. 267 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) in seiner derzeitigen Auslegung durch den EuGH unvereinbar (eine Änderung der Auslegung des Artikels ist derzeit ebenso unwahrscheinlich wie eine Vertragsänderung).

II. Verfahrensgrundrecht als vierte Effektuierungsstufe

Um politische Ziele mithilfe von Richtlinien zu verwirklichen, gab es bislang drei Effektuierungsstufen. Nun hat der EuGH für die Einhaltung der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten eine vierte Stufe hinzugefügt.

1. Stufe: Die politischen Ziele werden im Rahmen eines Gesetzgebungsverfahrens in eine Richtlinie gegossen, die sich an die Mitgliedstaaten richtet, ihnen aber überlässt, wie sie die Ziele der Richtlinie in ihrem nationalen Recht umsetzen (Art. 288 Abs. 3 AEUV). Demgemäß haben Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission zum Zwecke des Gesundheitsschutzes der Arbeitnehmer im Jahr 2003 die EU-Arbeitszeitrichtlinie erlassen. Die Richtlinie verlangt für alle Arbeitnehmer eine Mindestruhezeit von elf zusammenhängenden Stunden pro 24-Stunden-Zeitraum (Art. 3) und zusätzlich von 24 zusammenhängenden Stunden pro Sieben-Tage-Zeitraum (Art. 5). Sie erlaubt außerdem maximal eine durchschnittliche Arbeitszeit von 48 Stunden pro Sieben-Tage-Zeitraum (Art. 6). Die Arbeitszeitrichtlinie betont den Umsetzungsspielraum der Mitgliedstaaten, indem jeder der genannten Artikel mit den Worten beginnt: »Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit …«.

2. Stufe: Damit die Mitgliedstaaten unliebsame Richtlinien nicht durch ineffektive Umsetzungsmethoden torpedieren (z.B. geschlechtsdiskriminierten Bewerbern nur einen Anspruch auf Erstattung der Bewerbungskosten einräumen), verlangt der EuGH seit jeher eine effektive Richtlinienumsetzung: Verstöße gegen Richtlinienziele müssen von den Mitgliedstaaten wirksam, verhältnismäßig und abschreckend sanktioniert werden. In Deutschland kann deshalb die Verletzung der genannten Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten mit einer Geldbuße von bis zu 15.000 Euro (§ 22 Arbeitszeitgesetz) und bei vorsätzlicher Gesundheitsgefährdung oder beharrlichen Verstößen mit Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr oder Geldstrafe (§ 23 Arbeitszeitgesetz) sanktioniert werden. Außerdem kann die staatliche Gewerbeaufsicht Arbeitgeber zu konkreten Maßnahmen zur Einhaltung der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten verpflichten (§ 17 Arbeitszeitgesetz) und Arbeitnehmer müssen Weisungen zur Überschreitung der zulässigen Höchstarbeitszeiten bzw. Unterschreitung der Mindestruhezeiten nicht befolgen (§ 315 Abs. 3 Satz 1 Bürgerliches Gesetzbuch).

3. Stufe: Soweit Richtlinien grundrechtlich geschützte Sachverhalte regeln, können sie als Konkretisierung von Unionsgrundrechten verstanden werden und dadurch in den Rang von Primärrecht (also gewissermaßen Verfassungsrang) erhoben werden. Dann kann die Richtlinie »im Licht« des Grundrechts ausgelegt werden, was im Grunde heißt, dass Richtlinie und Grundrecht zu einer »Wundertüte« verschmelzen, aus der alles abgeleitet werden kann, was der praktischen Wirksamkeit (franz. effet utile) des Grundrechts dienlich ist. Mithilfe des effet utile befreit sich der EuGH von dogmatische Zwängen, die in manchen nationalen Rechtsordnungen noch herumgeistern (hierzulande etwa neben der Bindung des Richters an den Zweck einer Regelung auch noch an deren Wortlaut, systematischen Zusammenhang und den Willen des Gesetzgebers). 

Es ist kein Geheimnis, dass die gesetzlichen Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten trotz effektiver Richtlinienumsetzung in der Praxis nicht flächendeckend beachtet werden. Deswegen verwundert es nicht, dass der EuGH die Arbeitszeitrichtlinie als Konkretisierung des Grundrechts auf Begrenzung der Höchstarbeitszeit sowie auf tägliche und wöchentliche Ruhezeiten versteht, das Art. 31 Abs. 2 der EU-Grundrechtecharta (GRC) jedem Arbeitnehmer gewährt. Das war für den Urlaubsanspruch (Art. 7 Arbeitszeitrichtlinie) bereits klar und das hat der EuGH nun auf die Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten erstreckt (Rn. 31 des Urteils). Nun kann der EuGH – ohne den Gestaltungsraum der Mitgliedstaaten bei der Richtlinienumsetzung berücksichtigen zu müssen – volle Grundrechtsverwirklichung verlangen: Die Mitgliedstaaten müssen nicht mehr nur (negativ) Verstöße sanktionieren, sondern (positiv) dafür sorgen, dass die Vorgaben der Arbeitszeitrichtlinie zu Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten tatsächlich in jedem Arbeitsverhältnis eingehalten werden (Rn. 42 des Urteils).

4. Stufe: Weil es theoretisch mehrere Wege gibt, für die tatsächliche und flächendeckende Einhaltung der Arbeitszeitvorgaben zu sorgen, und der EuGH den Mitgliedstaaten bei der Effektuierung des Arbeitszeitgrundrechts offenbar kaum mehr zutraut als bei der Arbeitszeitrichtlinie, ist er hier noch einen Schritt weiter gegangen und sagt einfach direkt, was das Grundrecht verlangt: nämlich die Arbeitszeiterfassung in jedem Arbeitsverhältnis (Rn. 50 des Urteils). Diesen Schritt begründet der EuGH im Grunde damit, dass er sich nicht vorstellen kann, wie ohne Erfassung der Arbeitszeit aller Arbeitnehmer die praktische Wirksamkeit der Arbeitszeitvorgaben »vollständig gewährleistet« werden kann (Rn. 58 des Urteils). Für den EuGH ist die Erfassung jeglicher Arbeitsstunden alternativlos und deshalb im Grundrecht auf Schutz der Höchstarbeits- und Mindestruhezeiten enthalten.

III. Gewillkürte Grundrechtsverpflichtung der Arbeitgeber

Die Entscheidung wird nicht überzeugender, wenn man sich fragt, warum ausgerechnet die Arbeitgeber zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet werden, begegnet der Gerichtshof doch allem, was Arbeitgebern einen Spielraum belässt, mit großer Skepsis (Rn. 58 des Urteils). So gesehen hätte eine Verpflichtung der Mitgliedstaaaten zur hoheitlichen Arbeitszeiterfassung näher gelegen. Das hätte auch Art. 51 Abs. 1 Satz 1 GRC entsprochen, der (nur) die EU und die Mitgliedstaaten in Grundrechtsverantwortung nimmt und nicht Private. Doch über solch kleinliche Wortlautargumente ist der EuGH mithilfe des effet utile bekanntlich längst hinweg und zieht diejenigen zur Verantwortung, von denen er am ehesten die Gewährleistung der praktischen Wirksamkeit des Grundrechts erwartet. Und das sind in diesem Fall die Arbeitgeber. 

Warum? »Weil das ja klar ist«, könnte man stoiberianisch argumentieren und konkreter hat es der EuGH auch nicht: »Auch wenn die Verantwortlichkeit des Arbeitgebers für die Beachtung der durch die [Arbeitszeitrichtlinie] verliehenen Rechte nicht unbeschränkt sein kann«, verstößt eine fehlende Verpflichtung des Arbeitgebers gegen den effet utile (Rn. 59 und 60 des Urteils). Auch die vom EuGH bemühte Arbeitsschutz-Rahmenrichtlinie (Rn. 62 des Urteils) sagt in Art. 6 Abs. 1 nur, dass der Arbeitgeber »im Rahmen seiner Verpflichtungen« die erforderlichen Maßnahmen zum Schutz der Arbeitnehmergesundheit zu treffen hat. Das setzt freilich »seine« Verpflichtung zur Arbeitszeiterfassung voraus. 

Hierin liegt mehr als eine methodische Unsauberkeit, denn auch Arbeitgeber haben Grundrechte (vor allem auf unternehmerische Freiheit, Art. 16 GRC) und jede Grundrechtseinschränkung muss »gesetzlich vorgesehen« sein (Art. 52 Abs. 1 Satz 1 GRC). Dafür wären Kommission, Rat und Parlament zuständig, die aber gerade keine allgemeine Pflicht zur Arbeitszeiterfassung durch Arbeitgeber eingeführt haben (offenbar gab es dafür keine politische Mehrheit), sondern nur bei Fahrtätigkeiten im Straßentransport und in der Binnenschifffahrt. Das räumt der EuGH zwar ein, aber man ahnt es bereits: Auch über diesen Einwand hilft der effet utile hinweg (Rn. 64 und 65 des Urteils). 

IV. Effet utile statt ordentlicher Gesetzgebung 

Das Prinzip der praktischen Wirksamkeit hat nun eine neue Dimension erreicht: Sieht der EuGH die Gefahr, dass das vorhandene Sekundär- und Primärrecht wichtige Ziele des Unionsrechts nicht hinreichend wirksam erreicht, erfindet er ein Grundrecht auf das, was er zur Zielerreichung für zwingend geboten hält. Nachdem mithilfe des effet utile bereits methodische Argumente überwunden wurden, trifft es nun auch die Gewaltenteilung.

Der EuGH hat den Auftrag, »die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge« zu sichern. So haben es die Mitgliedstaaten in Art. 19 Abs. 1 des EU-Vertrags definiert und dem Gerichtshof die Kompetenz zur Verwerfung von Sekundärrecht eingeräumt, falls es unvereinbar mit dem Primärrecht (einschließlich der Grundrechtecharta) sein sollte. Positive Anordnungen darf der EuGH nur einstweilig und nur gegenüber den Beteiligten der bei ihm anhängigen Verfahren (nicht in Vorabentscheidungsverfahren) treffen (Art. 279 AEUV). Selbst das um progressive Verfassungsauslegung sonst nicht verlegene Bundesverfassungsgericht trifft bei Unterschreitung des verfassungsrechtlich zwingenden Schutzniveaus nur eine vorübergehende Anordnung, bis der Gesetzgeber (mitunter innerhalb einer Frist) eine verfassungskonforme Neuregelung getroffen hat. 

Um die Arbeitgeber generell zur Arbeitszeiterfassung zu verpflichten, hätte eigentlich der Unionsgesetzgeber (Kommission, Parlament und Rat) mühsam das ordentliche Gesetzgebungsverfahren (Art. 294 AEUV) durchführen und hierbei die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände anhören müssen (Art. 154 AEUV). Das hätte lebhafte politische Diskussionen ausgelöst und am Ende hätte ein Kompromiss mit Ausnahmen und Umsetzungsfrist gestanden. Das erspart der EuGH den Gesetzgebungsorganen (und den Arbeitnehmern) und verpflichtet stattdessen alle Arbeitgeber mit sofortiger Wirkung zur Erfassung jeder geleisteten Arbeitsstunde. Es gibt offenbar Dinge, die wichtiger sind als Gewaltenteilung.