Die Moral und die Grundmandatsklausel
Zur Diskussion um die Abschaffung der Grundmandatsklausel
Das neue Wahlgesetz, das im März 2023 beschlossen wurde, hat viel Kritik auf sich gezogen. Insbesondere die dort implementierte Abschaffung der Grundmandatsklausel findet eine erbitterte Gegnerschaft, wenig überraschend, da es dabei um das Überleben der CSU und der Linken gehen könnte. Der Vorsitzende der Linken, Martin Schirdewan, unterstellte der Ampelkoalition, dass sie sich mit der Reform „unliebsamer politischer Konkurrenz auf dem Weg der Wahl entledigen“ wolle, der Vorsitzende der CSU Landesgruppe im Bundestag, Alexander Dobrindt, sprach sogar von einer „Wahlrechtsmanipulation“. Gregor Gysi bezeichnete das Vorgehen der Ampel schlicht als „unmoralisch“.
So fremdartig der Vorwurf der „Unmoral“ im Kontext einer verfassungsrechtlichen Debatte erst einmal zu sein scheint, so bringt er den Kern des weitverbreiteten Unbehagens am neuen Gesetz gut auf den Punkt. Denn nicht nur das Gesetz könnte „falsch“ sein, sondern einige Akteure könnten auch aus den „falschen“ Motiven gehandelt haben. Aber „eine Handlung aus Pflicht hat ihren moralischen Wert nicht in der Absicht, welche dadurch erreicht werden soll, sondern in der Maxime, nach der sie beschlossen wird“.1) Das moralische Unbehagen ist also nur gerechtfertigt, wenn es sich konsistent auf allgemeine Prinzipien zurückführen lässt, welche sich in einem Rawls’schen Überlegungs-Gleichgewicht2) mit unseren moralischen Intuitionen befinden. Der Kern der Diskussion lässt sich dabei auf zwei Fragestellungen reduzieren. Erstens: Ist die Grundmandatsklausel geboten, d.h. hätte man sie, wenn es sie nicht schon gegeben hätte, erfinden müssen? Zweitens: Angenommen, die Grundmandatsklausel selbst ist nicht geboten, kann dann, wenn sie einmal eingeführt ist, ihre Abschaffung dennoch unzulässig sein?
Ist die Grundmandatsklausel geboten?
Die bisherige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gibt erst einmal keinen Hinweis darauf, dass die Grundmandatsklausel aus rechtlichen Gründen geboten gewesen wäre, wie sich aus der steten Verwendung der Modalverben „kann“ und „darf“ in den einschlägigen Urteilen des Bundesverfassungsgerichts (insbesondere BVerfGE 6, 84; BVerfGE 95,408) ablesen lässt. Mit diesen wird klar signalisiert, dass der Gesetzgeber hier lediglich von seinem Ermessen Gebrauch gemacht hat.
Wäre die Grundmandatsklausel geboten, dann müsste sie in jedem Kontext geboten sein, in dem die formalen Bedingungen für ihre Anwendung erfüllt sind, also der Gewinn von drei Direktmandaten. Wenn wir eine Art von Test konstruieren wollen, ob die Grundmandatsklausel geboten ist, sollten wir daher nicht so sehr nach Szenarien suchen, in denen es uns falsch vorkommt, dass eine Partei nicht repräsentiert wäre, wenn die Grundmandatsklausel nicht gelten würde. Stattdessen sollten wir unsere Aufmerksamkeit auf Szenarien richten, in denen eine Partei aufgrund der Grundmandatsklausel im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen vertreten wäre und uns dies aber in keiner Weise als zwingend geboten erscheint.
Das prominenteste Beispiel für ein Szenario, bei dem die Abschaffung der Grundmandatsklausel eine „falsche“ Wirkung hervorrufen würde, bezieht sich auf das potenzielle Schicksal der CSU. Die Vorstellung, dass diese als deutlich stärkste Partei in einem sehr großen Bundesland nicht im Bundestag vertreten sein könnte, scheint vielen spontan befremdlich. So hat Friedrich Merz in seiner Stellungnahme anlässlich der mündlichen Verhandlung bemerkt, dass „durch die Abschaffung der Grundmandatsklausel […] ein großes Problem geschaffen wird, nämlich das große Problem, dass Parteien, die nur in einem Bundesland Wahlkreisbewerber aufstellen, davon abhängig werden, in ganz Deutschland mindestens fünf Prozent der Stimmen zu erzielen“. Damit dieses Problem nicht auftaucht, müsste aber gelten, dass eine Partei grundsätzlich im Bundestag vertreten ist, wenn sie die dominante Kraft in ihrem Bundesland ist und dort alle oder fast alle Direktmandate gewinnt. Ein solches Prinzip müsste dann aber auch für eine Regionalpartei z.B. von Mecklenburg-Vorpommern gelten, die dort z.B. mit ca. 30 Prozent der Zweitstimmen, was einem bundesweiten Zweitstimmenanteil von ungefähr 0,6 Prozent entsprechen würde, alle sechs Direktmandate holt. Wer nun der Ansicht ist, dass die beiden Fälle nicht dasselbe seien – und ich vermute, dass die meisten diese Ansicht teilen würden –, macht seine unterschiedliche Bewertung offensichtlich von der Größe der Partei bzw. des betroffenen Bundeslands abhängig. Damit aber kommt es letztlich nur darauf an, welchen Anteil an der Gesamtbevölkerung bzw. der Gesamtheit aller Wähler die CSU-Wähler ausmachen. Aber genau dies wird mit der 5%-Hürde abgedeckt.
Die relevante Gerechtigkeitsintuition darf sich auch nicht daran orientieren, dass es uns momentan aufgrund der aktuellen Stärke der CSU irgendwie merkwürdig vorkommt, wenn die CSU nicht mehr im Bundestag vertreten wäre. Denn die Grundmandatsklausel würde der CSU – wegen der Größe Bayerns und der großen regionalen Heterogenität innerhalb Bayerns – selbst dann noch die Teilnahme an der proportionalen Sitzverteilung gewährleisten, wenn die CSU bayernweit z.B. nur noch auf 15-20 Prozent und bundesweit dementsprechend auf 2-3 Prozent der Zweitstimmen käme.
Die Goldene Regel
Wenn die Grundmandatsklausel nicht geboten ist, so dass der Gesetzgeber sie niemals hätte einführen müssen, dann könnte man meinen, es stehe gleichermaßen in seinem Ermessen, sie wieder abzuschaffen. Zumindest in Hinsicht auf die Chancengleichheit scheint dies auch unproblematisch, denn nach dem Gesetz würden Wähler, Bewerber und Parteien dabei in jeder Hinsicht gleich behandelt. Das versicherten auch die Vertreter der Ampelparteien bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht. Es handle sich bei dem neuen Wahlgesetz um das „gleichste Wahlrecht aller Zeiten“.
Das Argument der Ampel rekurriert auf die Logik der sogenannten Goldenen Regel getreu dem Motto „Was Du nicht willst, das man Dir tu‘, das füg auch keinem Andern zu“. Die Abschaffung der Grundmandatsklausel wird in diesem Sinn damit gerechtfertigt, dass die Ampelparteien den anderen Parteien ja prinzipiell keine Härte zumuten, die sie nicht auch für sich selbst zu akzeptieren bereit wären. Aber das Prinzip der Goldene Regel kann, worauf schon Kant in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ hingewiesen hat, „kein allgemeines Gesetz sein, denn es enthält nicht den Grund der … schuldigen Pflichten gegen einander …“3). Zwar scheint die Goldene Regel auf den ersten Blick zu verbieten, dass man sich selbst eine „Sonderstellung“ einräumt, die man anderen nicht gewähren will, was wohl hauptsächlich ihren „moralischen“ Charakter begründet.4) Sie verhindert aber keineswegs, dass sich einige unter ihrem Deckmantel indirekt eine solche Sonderstellung verschaffen, indem sie anderen verbieten, was sie selbst eh nicht zu tun beabsichtigen würden, oder aber anderen ein Recht einräumen, dass diese gar nicht nutzen können, ihnen selbst aber Vorteile gewähren würde. Die Identität der Parteien spielt eine Rolle, soweit sie sie in unterschiedliche Ausgangspositionen versetzt, die sich auch nicht beliebig von Wahl zu Wahl grundlegend ändern können. Das „Opfer“ von SPD, Grünen und FDP, auch für sich selbst die Grundmandatsklausel nicht mehr in Anspruch nehmen zu wollen, ist eben keines, genauso wenig wie dadurch allen Parteien eine „faire“ Gleichbehandlung zugesichert wird. Denn durch die Wahl geeigneter Prädikate lässt sich noch jede substanzielle Ungleichbehandlung als formale Gleichbehandlung darstellen.
Grundmandatsklausel und „gute Gründe“
Auch wenn die Grundmandatsklausel nicht strikt geboten ist, so können für ihre Einführung sehr wohl „gute Gründe“ gesprochen haben. Diese guten Gründe sind der argumentative Hebel, um zu zeigen, warum zwischen Einführung und Abschaffung eine moralische (und womöglich rechtliche) Asymmetrie dahingehend besteht, dass etwas, was nicht hätte eingeführt werden müssen, deshalb nicht genauso gut auch wieder abgeschafft werden kann. Denn je mehr gute Gründe es ursprünglich für die Einführung der Regel gab, desto schwieriger sollte es sein, die Regel wieder abzuschaffen. Für das Funktionieren einer Gesellschaft ist es wichtig, dem Status Quo eine Art von Vertrauensschutz einzuräumen, um Erwartungssicherheit und somit Stabilität zu ermöglichen. Diese Erwartungssicherheit bezieht sich aber weniger auf das Fortdauern der Regel an sich, sondern auf den Glauben, dass die Gründe, denen sich die Einführung der Regel verdankt, immer noch gelten. Zur Abschaffung einer geltenden Regel reicht es daher nicht aus, zu zeigen, dass die Regel ursprünglich nicht geboten war oder dass es eine andere Regel gegeben hätte, die man auch oder sogar besser hätte rechtfertigen können, sondern es muss substanzielle Gründe geben, die bestehende geltende Regel nun abzuschaffen.
Das einzig logisch konsistente Argument für die Grundmandatsklausel besteht im Sinne der sogenannten Integrationsfunktion darin, dass die betroffene Partei mit dem Gewinn von drei Direktmandaten den Beweis erbringt, dass sie eine spezifische Kombination von Interessen vertritt, die in mindestens drei Wahlkreisen so dominant ist bzw. verdichtet auftritt, dass die Repräsentanten dieser Partei dort als Repräsentanten der Partei eine relative Mehrheit gewinnen können. Dies kann als ein „Indiz“ für das Vorliegen „besonderer Anliegen“, die durch die betreffende Partei aufgegriffen werden, gedeutet werden. Würden die drei Wahlkreisgewinner lediglich aufgrund ihrer persönlichen Eigenschaften gewählt, dann gäbe es keinen Grund, die Repräsentation über die Direktmandate hinaus auf all die Mandate ausstrahlen zu lassen, auf die die Partei im Verhältnis zu ihren Zweitstimmen nun einen Anspruch hat.
Gehen wir also davon aus, dass zur Einführung der Grundmandatsklausel in der jetzigen Form 1956 die Umstände, unter denen drei Direktmandate gewonnen werden konnten, solche waren, dass sie der obigen Bedingung Genüge getan haben und in diesem Sinn „gute Gründe“ für die Einführung waren. Dann ist zu konstatieren, dass die Umstände, unter denen im aktuellen Parteiensystem Direktmandate gewonnen werden können, von den früher vorliegenden quantitativ und qualitativ doch sehr verschieden sind.
1957 betrug der durchschnittliche Anteil an Erststimmen eines Wahlkreissiegers 52,5 Prozent. 131 der 247 Wahlkreissieger hatten mehr als 50 Prozent der Erststimmen und 221 von 247 mehr als 40 Prozent. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 wurden die 299 Wahlkreismandate durchschnittlich mit einer relativen Mehrheit von 33,4 Prozent der Erststimmen gewonnen, also fast 20 Prozentpunkten weniger als 1957. 82 der 299 Direktmandate wurden 2021 mit weniger als 30 Prozent der Erststimmen gewonnen, 13 sogar mit weniger als 25 Prozent. Die Linke, die 2021 den Einzug nur aufgrund der Grundmandatsklausel geschafft hat, gewann ihre drei Direktmandate nur noch mit durchschnittlich 28 Prozent der Erststimmen, allen voran Gregor Gysi mit für einen Kandidaten der Linken sensationellen 35,4 Prozent. In allen drei Wahlkreisen aber kam es zudem zu Stimmensplitting in enormem Ausmaß, denn in allen drei Wahlkreisen lagen die Zweitstimmenergebnisse der Linken deutlich unter denen der Erststimmenergebnisse ihrer Kandidaten, vor allem aber auch sehr deutlich unter dem Zweitstimmenergebnissen anderer Parteien. In Gysis Wahlkreis Treptow-Köpenick z.B. erhielt die Linke nur 16 Prozent der Zweitstimmen, während die SPD dort 23,2 Prozent der Zweitstimmen holte. Unabhängig davon, ob nun das Stimmensplitting und der große Erststimmenanteil von Gysi koalitionsstrategische Gründe hatten oder tatsächlich der Sympathie für seine Person und seinem hohen Charisma geschuldet waren, man wird daraus so oder so eben gerade kein Indiz dafür herauslesen können, dass die Wähler damit zu verstehen geben wollten, dass sie der Ansicht sind, dass die Partei Die Linke ihre besonderen Anliegen aufgegriffen hätte. Denn dann hätten sie diese ja auch als Partei wählen können.
Fazit
So sehr ein gewisses Maß an stillschweigender oder gar nicht stillschweigender Häme bei der Abschaffung der Grundmandatsklausel bei manchen Akteuren eine Rolle gespielt haben mag, so darf für die moralische Beurteilung nicht das Motiv ausschlaggebend sein, sondern lediglich, ob durch die Reform selbst grundlegende moralische Normen verletzt wurden. Rechtliche und moralische Argumente sprechen dafür, dass die Grundmandatsklausel nicht geboten ist. Deswegen aber ist die Abschaffung noch nicht automatisch unproblematisch. Auch nicht deshalb, weil sie alle Parteien und Wähler formal gleich behandelt. Die Abschaffung kann aber moralisch damit gerechtfertigt werden, dass die Bedingungen, die ursprünglich für die Einführung der Grundmandatsklausel gesprochen haben mögen, so nicht mehr vorhanden sind und – ganz im Gegenteil – aktuelle Anwendungen der Grundmandatsklausel sogar gegen die ursprüngliche Intention des institutionellen Designs wirken.