Mythos Wertefundament
75 Jahre Grundgesetz
In einer Gesellschaft, die sich über alles Mögliche mit zunehmender Aggressivität streitet, scheint das Grundgesetz, dessen 75. Geburtstag jetzt allenthalben begangen wird, eine Art letzter Fixpunkt des Konsenses zu sein. Man hält sich an ihm fest und ist dafür dankbar. Dies ist auch deswegen erstaunlich, weil dieses Grundgesetz ja nicht sonderlich weit entfernt vom politischen Streit operiert. Es ist kein viel geliebtes Kulturgut wie die Bilder Caspar David Friedrichs oder die deutsche Nationalmannschaft in ihren besseren Zeiten, sondern das Medium in dem und um das gestritten wird. Tatsächlich gibt es viele Indizien dafür, dass es mit dem Konsens um das Grundgesetz nicht weit her ist.
Einig sind wir uns über wesentliche Elemente des Grundgesetzes nur auf einer semantischen Ebene. Niemand ist gegen die Menschenwürde, was sie bedeutet ist aber durchaus streitig. Dass Menschenrechte und andere Verfassungsgüter Formelkompromisse sind, ist nichts Neues, noch nicht einmal etwas Schlimmes. Nur deswegen war es möglich, dass säkulare Sozialdemokraten und naturrechtliche Christdemokraten dem Grundgesetz zustimmten. Nur so gelang es in der gleichen Epoche, dass die Vereinigten Staaten, China und die Sowjetunion sich auf die UN-Charta einigen konnten. Doch darf man nicht erwarten, dass solche Formeln Ausdruck einer tieferen Übereinstimmung wären. Ob die Menschenwürde uns verpflichtet, Ertrinkende im Mittelmeer zu retten, darüber gibt es keinen Konsens. Und dass die Meinungsfreiheit rassistische, sexistische und antisemitische Äußerungen vor Sanktionen schützt, wird heute eher ungern laut gesagt. Schlimmer noch: Manche sagen es nicht über sexistische, andere nicht über antisemitische Äußerungen, um bestimmte Communities nicht zu verprellen. Inhaltsneutraler Schutz, das Herz der Meinungsfreiheit, funktioniert als Grenze staatlichen Handelns aber nur, wenn diese einigermaßen gesellschaftlich akzeptiert wird.
Nun war die Vorstellung, wir bewegten uns auf einem „gemeinsamen Wertefundament“, immer schon ein Griff in die falsche Metaphernwelt. Verfassungen leben in erster Linie von der Konstitution von Ämtern und der Einrichtung von Verfahren, in denen der Dissens eine Form bekommt. Dass der Bundeskanzler vom Bundestag gewählt wird, ist heute weit weniger umstritten als die Bedeutung der Meinungsfreiheit. Ein politisches System wird von den Teilen getragen, die beweglich sind. Aber wenn dem so ist, muss man gerade am Verfassungstag auch anders über die Verfassung sprechen.
Das zeigt sich auch an der Frage des Verfassungsschutzes. Die Verfassung, die uns schützen soll, ihrerseits zu schützen, ist eine interessante, keineswegs selbstverständliche Idee. Vor allem ist es keine Idee, über die irgendein Konsens herrschen würde. Der Streit über die Anwendung des Parteiverbotsverfahrens oder über die Aufgaben des Bundesamtes für Verfassungsschutz verläuft keineswegs entlang der Linie von vermeintlichen Verfassungsfeinden und Verfassungsfreunden, sondern klar innerhalb des liberal-demokratischen Lagers, das in dieser Frage eben kein Lager bilden kann. Wiederum ist der Dissens wenig erstaunlich. Die Einsicht, dass das Fundamentale auch das Umstrittene ist, muss sich in solchen Verfahren besonders zuspitzen. Denn in den Institutionen des Verfassungsschutzes liegen die Pflicht zum Schutz der Verfassung und deren schwere Verletzung hautnah beieinander. Selbst wenn eine politische Partei sich klar nicht mehr auf dem Boden der freiheitlichen demokratischen Grundordnung befindet, reicht das alleine nicht hin, um sie zu verbieten. Wie oft im Rechtsstaat erweisen sich scheinbar klare Linien bei näherer Hinsicht als komplizierte Gebilde. Wenn man das einmal verstanden hätte, könnte mit dem Verschwinden falscher Konsenserwartungen vielleicht etwas von der Zivilität der Auseinandersetzung wiederkehren.
Was aber feiern wir eigentlich, wenn wir das Grundgesetz feiern? Wenn man der konsensbezogenen Lesart folgt, die, wenn ich es recht sehe, die Festartikel dominiert, dann feiern wir die rechtlichen Sicherungen vor einem gefährdeten und potentiell gefährlichen politischen Prozess, namentlich die Grundrechte und das Bundesverfassungsgericht. Das kann man so sehen. Das Bundesverfassungsgericht sollte man feiern, freilich hat es seinen eigenen Geburtstag im Jahre 1951. Symptomatisch erscheint dennoch, dass das Grundgesetz als Rechtsnorm gefeiert wird, nicht der politische Prozess, der mit ihm begründet wurde. Das zeigt sich auch in dem zu wenig Verwunderung erregenden Umstand, dass wir meistens den Geburtstag des Grundgesetzes, nicht den der Bundesrepublik Deutschland feiern, also nicht die politische Gemeinschaft, die das Grundgesetz verfasst hat.
Dagegen ist noch einmal daran zu erinnern, dass das Grundgesetz von Politikerinnen und Politikern geschaffen wurde, um Politik zu ermöglichen. Diese Politikerinnen und Politiker waren keine neutralen Sachwalter eines vernünftigen Wertekanons, sondern sie hatten gegensätzliche politische Überzeugungen, die sie im Grundgesetz verwirklichten. Vom Sozialstaatsprinzip und dem Streikrecht über den Schutz der Bekenntnisschulen und die Beibehaltung der Weimarer Kirchenkompromisses bis zur Bundesstaatlichkeit finden sich zahllose politische Ideologeme im Grundgesetz verwirklicht, nicht zuletzt im Grundrechtsteil. Diese Montage von parteipolitischem Anliegen zu einem stimmigen Text ist eine großartige Leistung. Aus Grundwerten hätte man sie nicht deduzieren können. Diese Verfassung ermöglichte einen hoch erfolgreichen und bemerkenswert stabilen politischen Prozess, der das eigentliche Wunder der Geschichte der Bundesrepublik darstellt. Und dieser politische Prozess ermöglichte es wiederum, rechtliche Absicherungen so zuverlässig auszugestalten. Gerne wird festgestellt, wie wichtig das Verfassungsrecht für die Stabilisierung des politischen Prozesses ist. Aber umgekehrt stimmt es eben auch. Die zentrale Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts ist nicht nur Ursache, sondern ebenso plausibel Ergebnis der Stabilität des politischen Systems der Bundesrepublik. Wenn das demokratische System in die Krise kommt, sind die rechtsstaatlichen Institutionen davon auf vielen Ebenen betroffen. Sie können sich nicht einfach aus dem politischen Kontext nehmen. Dass Politiker, wenn sie über das Grundgesetz sprechen, nicht über Politik sprechen, ist daher kein gutes Zeichen.
Schaut man sich die augenblickliche Bedrohungslage demokratischer Politik an, so geht es mittlerweile um Standards, für die man das Grundgesetz eigentlich gar nicht bräuchte. Wenn sich Bürgerinnen und Bürger, die sich politisch engagieren wollen, Sorgen um ihre körperliche Integrität machen müssen, dann geht es nicht um Werte des Grundgesetzes. Der strafrechtliche Schutz vor physischer Gewalt stellt auch in weniger elaborierten Verfassungsordnungen das institutionelle Minimum dar. Stellt der Staat das nicht bereit, liefert er einen Beitrag zur Zerstörung seiner Ordnung, liegt deren Lebensnerv doch in der Bereitschaft von Bürgerinnen und Bürger, sich politisch – und das heißt in dieser Ordnung maßgeblich parteipolitisch – zu betätigen. Auf der Seite der Bürgerschaft setzt dies doppelte Kompromissfähigkeit voraus: sich auf eine Partei einzulassen und sich als Teil dieser Parteien auf andere Parteien einzulassen, um demokratische Mehrheiten zu organisieren. Der Fluchtpunkt der Kompromisslosigkeit ist dagegen körperliche Gewalt. Die Werte des Grundgesetzes zu bewahren, was immer damit sonst gemeint sein mag, bedeutet heute vor allem, die demokratische Politikfähigkeit der Gesellschaft zu schützen.
In der Tat: das Politische wird in der deutschen politischen Mentalitätszeitgeschichte traditionell gern transponiert, zum Beispiel tiefer in die Ideologie- oder höher in die Werte-Tonart. Und auch die Hinnahmefähigkeit von Dissonanz ist traditionell schwach ausgeprägt: da kann man so schlecht mitsummen. Resonanz ist populärer, nicht nur bei H. Rosa, und Gedenkanlässe müssen wertmelodisch sein, sonst swingt das nicht. Die “demokratische Politikfähigkeit der Gesellschaft” ist jedoch eine Ressource, die nur sehr langfristig z. B. und u. a. in einer kritisch konturierten, historisch-politischen Bildung entstehen und geübt werden kann. Das braucht Zeit, Personal und gute Ausbildung. Bis das wieder greift, könnte die zivilisierte Verfassung vor einer sich in Blasen entzivilisierenden Gesellschaft geschützt werden müssen, was vielleicht auch mit “Werten” begründet werden will: wenns denn der Wahrheitsfindung dient …
Innerhalb der Ampel sind Kompromisse – angesichts der politischen Mixtur – schwer zu finden, das braucht langfristige Prozesse. Scholz scheint das recht geduldig zu moderieren und wird dafür weidlich gescholten. Demokratie ist und bleibt ein Geduldsspiel und nur mit gegenseitiger Achtung zu leben. Alle politischen Schreihälse verschiedenster Färbung scheinen das vergessen zu haben und wiegeln – gut unterstützt durch allerlei Presseprodukte – die weniger politisch geübte Bevölkerung auf. Das ist tatsächlich genau das Gegenteil der Arbeit und Leistung der “Mütter und Väter des Grundgesetzes”.
… die Übung der Politikfähigkeit: vielleicht sollte man daher doch endlich den Bürgerräten eine Chance bieten.
Naja das eigentliche gesellschaftliche Problem ist wohl eher, das bzgl. der Grundrechte eine vernünftige institutionelle Bildung mit demokratischen Charakter völlig fehlt. Wer weiß denn schon das Grundrechte Freiheits-, Schutz- und Abwehrrechte gegen staatlicher o. somit politischer Willkür sind? Das dürfte wohl auf die wenigsten Bürger zutreffen und somit wird das Grundrechtverständnis zu Gunsten einer abstrakter “Vaterstaat” Staatsgläubigkeit ausgetauscht, wo man der Überzeugung ist der Staat bzw. die Politik würde straight die Grundrechte der Bürger vertreten.
So ist es dann für die Politik ein leichtes das übliche “Teile und Herrsche” Spiel zu spielen und ein verfassungswidriges Hartz4 System (Regelsatzberechnung u. Repressionspraxis – wenn es zuvor keine positive Sanktion erfolgt wozu eine Grundsicherung nicht zählt da Grundrecht, ist die negative Sanktion dann eher ein Instrument der politischen Unterdrückung und somit Repression – laut BVerfG nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren) öffentlich und entgegen der Kritik von Sozialverbänden mittels “Sozialschmarotzer Propaganda” durchzupeitschen (also Arbeiter gegen Arbeitslose aufbringen, wobei es genau so humbug ist das Transferleistungsempfänger dem Steuerzahler auf der Tasche liegen, das solche Transfersalden nach der Ausgabe bzw. dem verbrauchen wieder über die Steuerkanäle zurück zum Staat laufen) und ganz nebenbei wird auch noch die Berufsfreiheit ausgehebelt, weil der Staat sich raus nimmt darüber zu bestimmen was denn nun ein würdiger Beruf ist bzw. dieses schon durch die simple unabhängigkeit von Sozialleistungen gegeben wäre. Dazu sagt das Bundesverfassungsgericht im Mittbestimmungsurteil bzgl. der Berufsfreiheit vom 1. März 1979 :
„Art. 12 Abs. 1 GG schützt die Freiheit des Bürgers in einem für die moderne arbeitsteilige Gesellschaft besonders wichtigen Bereich: Er gewährleistet dem Einzelnen das Recht, jede Arbeit, für die er sich geeignet glaubt, als ‚Beruf‘ zu ergreifen, d. h. zur Grundlage seiner Lebensführung zu machen. In dieser Deutung reicht Art. 12 Abs. 1 GG weiter als die – von ihm freilich umfasste – Gewerbefreiheit. Darüb