16 January 2025

Nachwirkungen ohne Neuigkeitswert

Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu verfassungswidrigen Befugnissen im Polizeigesetz NRW

Zum Jahresbeginn veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht einen bereits am 14. November 2024 ergangenen Beschluss (1 BvL 3/22), der die Rechtsgrundlage im Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen für längerfristige Observationen bei gleichzeitigem Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und -aufzeichnungen für unvereinbar mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung erklärte. Die Entscheidung enthält für sich genommen wenig Neuigkeitswert, sondern ist eine Nachwirkung der BKAG I-Rechtsprechung aus dem Jahr 2016. Nicht nur Nordrhein-Westfalen hat es versäumt, sein Polizeigesetz dieser Rechtsprechung anzupassen. Die Ignoranz der Politik gegenüber der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts belastet Betroffene und Justiz und wird im schlimmsten Fall sogar selbst zum Sicherheitsproblem.

Heimlich mitbetroffen

Dem Beschluss liegt eine Vorlage des Bundesverwaltungsgerichts zu Grunde, das über die Rechtswidrigkeit einer längerfristigen Observation unter Anfertigung von Bildaufnahmen und -aufzeichnungen zu entscheiden hatte. Die Maßnahme richtete sich gegen eine Person, die von der Polizei als sogenannter Gefährder der politisch rechts motivierten Kriminalität geführt und unter anderem wegen Totschlags, gefährlicher Körperverletzung und unterlassener Hilfeleistung zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurde. Nach der Haftentlassung sollte der neue Aufenthaltsort dieser Zielperson ermittelt werden, um deren Abtauchen und die zukünftige Begehung schwerwiegender Straftaten, insbesondere gefährlicher Körperverletzungen, zu verhindern. Die Klägerin im Ausgangsverfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht war selbst nicht Zielperson der Überwachung, sie wurde aber mitbeobachtet und es wurden mehrfach Lichtbilder von ihr angefertigt. Nachdem sie erstinstanzlich erfolglos geblieben war, stellte das Oberverwaltungsgericht fest, dass die Datenerhebung zwar gegenüber der Zielperson rechtmäßig, gegenüber der Klägerin jedoch teilweise rechtswidrig erfolgt sei. Im Revisionsverfahren legte das Bundesverwaltungsgericht mit Beschluss vom 31. Mai 2022 dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vor, ob die maßgeblichen Vorschriften, auf deren Gültigkeit es für die Entscheidung ankomme, mit dem Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung vereinbar sind.

Die maßgeblichen Normen sind § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. Satz 2 sowie § 17 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 Nr. 2 i.V.m Satz 2 im nordrhein-westfälischen Polizeigesetz (PolG NRW). § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PolG NRW ermächtigt die Polizei zur Erhebung personenbezogener Daten durch die längerfristige Observation von Personen, „soweit Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass diese Personen Straftaten von erheblicher Bedeutung begehen wollen, sowie über deren Kontakt- oder Begleitpersonen, wenn die Datenerhebung zur vorbeugenden Bekämpfung dieser Straftaten erforderlich ist.“. § 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 ermächtigt die Polizei unter identischen Voraussetzungen zum verdeckten Einsatz technischer Mittel zur Anfertigung von Bildaufnahmen und Bildaufzeichnungen sowie zum Abhören und Aufzeichnen des gesprochenen Wortes. In beiden Vorschriften gestattet der jeweilige Satz 2 auch die Erhebung von Daten über anderen Personen, soweit dies erforderlich ist, um die beabsichtigte Datenerhebung durchführen zu können.

Maßstäbe für den relationalen Gefahrenbegriff

Die Wendung von „Tatsachen, die die Annahme rechtfertigen“ ist ein Ausdruck des relationalen Gefahrenbegriffs, der keine neue Entwicklung darstellt, aber in den vergangenen Jahren zumindest quantitativ erheblich an Bedeutung gewonnen hat (vgl. Tabbara, GSZ 2022, 215)). Lehrbuchartig stellt das BVerfG in seiner nun ergangenen Entscheidung zunächst das Verhältnis der drei Parameter des Eingriffsgewichts, der Eingriffsschwelle und der zu schützenden Rechtsgüter dar (Rn. 73 ff.). Voraussetzung gefahrenabwehrrechtlicher Maßnahmen sei grundsätzlich die konkrete Gefahr, jedenfalls aber eine wenigstens konkretisierte Gefahr. Für letztere sei erforderlich, dass Tatsachen den Schluss zulassen auf einerseits „ein wenigstens seiner Art nach konkretisiertes und zeitlich absehbares Geschehen“, andererseits darauf, dass „bestimmte Personen beteiligt sein werden, über deren Identität zumindest so viel bekannt ist, dass die Überwachungsmaßnahme gezielt gegen sie eingesetzt und weitgehend auf sie beschränkt werden kann“ (Rn. 77). Das Gericht verweist hier auf Randnummer 112 des BKAG I-Urteils von 2016 (BVerfGE 114, 220), die die zentrale Formulierung zur Absenkung der Gefahrenschwelle unterhalb des Kriteriums der konkreten Gefahr enthielt. Dabei betont das Gericht erneut, die Absenkung der Eingriffsschwelle könne nur mit erhöhten Anforderungen an die konkret geschützten Rechtsgüter gerechtfertigt werden (Rn. 78). Welche Anforderungen an die Eingriffsschwelle zu stellen seinen, richte sich nach dem Eingriffsgewicht der konkreten Maßnahme (Rn. 79 ff.).

„Während also bei eingriffsintensiven Maßnahmen eine konkretisierte Gefahr und der Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter zusammenkommen müssen, genügt es bei weniger eingriffsintensiven Maßnahmen, wenn entweder das Vorliegen einer konkretisierten Gefahr oder der Schutz besonders gewichtiger Rechtsgüter vorausgesetzt werden. Wird eine wenigstens konkretisierte Gefahr vorausgesetzt, genügt der Schutz von Rechtsgütern mit erheblichem Gewicht“ (Rn. 84).

Ferner hebt das Gericht die Bedeutung hinreichend bestimmter und normenklarer gesetzlicher Voraussetzungen für heimliche Maßnahmen hervor. Hier unterliege die Gesetzgebung hohen Bestimmtheitsanforderungen, da die maßgeblichen Normen – wegen der Heimlichkeit – nur eingeschränkt im Wechselspiel von Anwendungspraxis und gerichtlicher Kontrolle konkretisiert werden können (Rn. 85 f.). § 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 17 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW genügten weder den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit noch dem Bestimmtheitsgebot (Rn. 87). Das Eingriffsgewicht der durch §§ 16a, 17 PolG NRW erlaubten Maßnahmen könne je nach konkreter Ausgestaltung erheblich variieren. Insbesondere die Kombination von Observation und Bildaufzeichnung könne tief in die Privatsphäre eindringen und damit ein besonders schweres Eingriffsgewicht erlangen (Rn. 94). Gemessen am Eingriffsgewicht der kombinierten Anwendung genügten die Befugnisse jedoch nicht den Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, da es an einer für die Kombination hinreichend hohen Eingriffsschwelle fehle (Rn. 96). Für heimliche Überwachungsmaßnahmen mit hoher Eingriffsintensität sei entweder eine konkrete Gefahr oder eine wenigstens konkretisierte Gefahr erforderlich (Rn. 98). Für einer weitergehende Absenkung der Eingriffsschwelle sei hingegen kein Raum (Rn. 99). Zudem sei die tatbestandlichen Voraussetzungen auch zu unbestimmt, da die Gesetzgebung keine hinreichenden eingriffsbeschränkenden Maßstäbe geschaffen haben (Rn. 103 ff.). Daher komme auch eine verfassungskonforme Auslegung der Befugnisse nicht in Betracht (Rn. 105).

Ignorierter Reformbedarf

Für das Land Nordrhein-Westfalen kann die Entscheidung nicht überraschend gewesen sein, denn sie liest sich stellenweise wie die bloße Wiedergabe des BKAG I-Urteils, nunmehr angewendet auf zwei konkrete landesrechtliche Normen. Die Leitsätze, die sonst oft die Fortentwicklung der Rechtsprechung anzeigen, sind bei der Entscheidung zum Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen mehr oder weniger aus der BKAG I-Entscheidung abgeschrieben. Bereits damals hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass langfristige Observationen in Kombination mit der Erstellung von Bildaufzeichnungen schwer in Grundrechte eingreifen können (BVerfGE 114, 220 (287 – Rn. 151)). Auch hatte es die hierfür geltenden Anforderungen an die Eingriffsschwelle herausgearbeitet (BVerfGE 114, 220 (271 – Rn. 109 ff.). Selbst die Subsumtion ist in den beiden Entscheidungen fast wortgleich (vgl. Rn. 100 ff. der hier besprochenen Entscheidung und BVerfGE 114, 220 (291 – Rn. 165)). Kein Wunder, denn §§ 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 17 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW entsprechen hinsichtlich der Eingriffsschwelle dem für verfassungswidrig erklärten § 20g BKAG a.F..

Der nordrhein-westfälische Landtag hat es jedoch offenbar bislang nicht für notwendig befunden, sein Gesetz zu ändern. Dabei ist es nicht so, dass es seit der BKAG I-Entscheidung im Jahr 2016 keine Gelegenheiten dazu gab. 2018 wurde etwa das Polizeigesetz Nordrhein-Westfalen umfassend überarbeitet. Die damals regierende schwarz-gelbe Koalition konzentrierte sich jedoch auf die Ausweitung polizeilicher Befugnisse, etwa zur strategischen Fahndung, (Quellen)-Telekommunikationsüberwachung und elektronischen Fußfessel. 2022 wurde für längerfristige Observationen und den Einsatz technischer Mittel immerhin ein Richter:innenvorbehalt eingeführt, die Eingriffsschwelle aber unangetastet gelassen.

Eine freundliche Erinnerung an den Reformbedarf kam 2023 mit der Veröffentlichung des Beschlusses (BVerfG, Beschluss vom 9.12.2022, – 1 BvR 1345/21) zum Sicherheits- und Ordnungsgesetz Mecklenburg-Vorpommern (SOG MV). Auch in Mecklenburg-Vorpommern hatte der Gesetzgeber die BKAG I-Entscheidung nicht umgesetzt. Eine fast identische Norm (§ 33 Abs. 2 Satz 1 i.V.m. § 49 SOG MV a.F.) wurde daher für verfassungswidrig erklärt (Rn. 94). Zudem lieferte das Bundesverfassungsgericht einen weiteren Grund für die Verfassungswidrigkeit auch des nordrhein-westfälischen Gesetzes. Es stellte nämlich fest, dass es nicht ohne Weiteres den verfassungsrechtlichen Anforderungen entspricht, wenn die Ermächtigung als Eingriffsschwelle an die Gefahr der Begehung solcher Straftaten anknüpft, bei denen die Strafbarkeitsschwelle durch die Einbeziehung von Vorbereitungshandlungen in das Vorfeld von Gefahren verlagert wird (Rn. 95). Genau das tun aber auch die §§ 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, 17 Abs. 1 Satz 1 Var. 1 und 2 Nr. 2 PolG NRW, indem sie an den Begriff der Straftaten von erheblicher Bedeutung anknüpfen, der gemäß § 8 Abs. 3 PolG NRW auch die Organisationsdelikte der §§ 129 ff. StGB erfasst.

Auch ist spätestens seit der Entscheidung zum SOG MV klar, dass weitere Normen aus dem PolG NRW nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen. So enthalten auch die Ermächtigungen zum Einsatz von V-Leuten (§ 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 PolG NRW) und verdeckten Ermittler:innen (§ 20 Abs. 1 Nr. 2 PolG NRW) sowie zur Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung (§ 21 Abs. 1 PolG NRW) keine hinreichende Eingriffsschwelle (BVerfG, 1 BvR 1345/21, Rn. 87 ff. und 172 ff.); zumindest letztere ist darüber hinaus kompetenzwidrig, da sie der Strafverfolgungsvorsorge dient (ebd. Rn. 163 ff.). Die Regelung zum Kernbereichsschutz (§ 16 PolG NRW) ist ebenfalls verfassungswidrig (ebd. Rn. 100 ff.).

Verweigerungshaltung als Sicherheitsrisiko

Die inzwischen regierende schwarz-grüne Koalition in Düsseldorf hat auch auf die Entscheidung zum SOG MV – trotz § 31 BVerfGG – bislang nicht reagiert. Stattdessen wurden befristete Befugnisse verlängert. Nach dem terroristischen Anschlag in Solingen ist die Schaffung weiterer Befugnisse in Planung. Einmal mehr scheint die Politik auf populistische Verschärfungen des Polizeirechts zu setzen, anstatt die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts endlich umzusetzen.

Damit ist Nordrhein-Westfalen kein Einzelfall. Auch die Befugnis zu längerfristigen Observationen unter Einsatz technischer Mittel in Berlin (§ 25 ASOG) genügt nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, wie sie in der BKAG I-Entscheidung von 2016 aufgestellt wurden. Darauf hat jüngst auch das Berliner Verwaltungsgericht recht deutlich hingewiesen (VG Berlin, Urteil vom 6.6.2024, VG 1 K 283.19). Von einer Vorlage zum Bundesverfassungsgericht konnte es nur absehen, weil in dem Fall – ein angeblicher Linksextremist, der mit einem Pfefferspray angetroffen wurde – noch nicht einmal die bereits verfassungswidrig niedrigen Voraussetzungen erfüllt waren, die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz also nicht entscheidungserheblich war. Der Berliner Senat hat inzwischen immerhin angekündigt, einen Richter:innenvorbehalt einführen zu wollen. Ob auch die Eingriffsschwelle korrigiert wird, bleibt abzuwarten.

Bis dahin ist es an den Betroffenen, gegen Einzelmaßnahmen vorzugehen, die auf Grundlage verfassungswidriger Gesetze wie jener in Berlin und Nordrhein-Westfalen ergehen. Die zuständigen Fachgerichte müssen dann das jeweils entscheidungserhebliche Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegen. Das gilt auch für die Gerichte, die – wie in Nordrhein-Westfalen – im Rahmen der Vorabkontrolle mit der Anwendung der Gesetze befasst sind. Auch sie müssen entweder die Anordnung der Überwachungsmaßnahme ablehnen oder das Gesetz dem Bundesverfassungsgericht vorlegen (Art. 100 Abs. 1 GG). Eine Anordnung auf Grundlage eines (evident) verfassungswidrigen Gesetzes verstieße gegen die Bindung an das Grundgesetz.

Die Verweigerungshaltung der Politik belastet also nicht nur Betroffene und die Justiz, sondern erweist auch der Sicherheit einen Bärendienst. Denn es gibt Situationen, in denen eine Überwachung gerechtfertigt und unter Umständen sogar geboten ist, es aber an einer verfassungskonformen Rechtsgrundlage fehlt. Sind die Voraussetzungen einer konkreten oder gegenwärtigen Gefahr (vgl. etwa §§ 16a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 17 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 19 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, 20 Abs. 1 Nr. 1 PolG NRW) in derartigen Fällen (noch) nicht erfüllt, kommt eine polizeiliche Observation oder Überwachung mit technischen Mitteln nicht in Betracht. Landesparlamente, die ihre Polizeigesetze stetig verschärfen, aber bestehende Befugnisse nicht an die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts anpassen, werden so selbst zum Sicherheitsrisiko.

 

Transparenzhinweis: Der Autor David Werdermann arbeitet für die Gesellschaft für Freiheitsrechte, die die erwähnten Verfahren zum SOG MV (BVerfG, Beschluss vom 9.12.2022, – 1 BvR 1345/21) und zu einer Observation nach § 25 ASOG (VG Berlin, Urteil vom 6.6.2024, VG 1 K 283.19) koordiniert bzw. unterstützt hat.


SUGGESTED CITATION  Kühne, Marius; Werdermann, David: Nachwirkungen ohne Neuigkeitswert: Der Beschluss des Bundesverfassungsgerichts zu verfassungswidrigen Befugnissen im Polizeigesetz NRW, VerfBlog, 2025/1/16, https://verfassungsblog.de/nachwirkungen-ohne-neuigkeitswert/, DOI: 10.59704/e43f5d10f32eb20b.

Leave A Comment

WRITE A COMMENT

1. We welcome your comments but you do so as our guest. Please note that we will exercise our property rights to make sure that Verfassungsblog remains a safe and attractive place for everyone. Your comment will not appear immediately but will be moderated by us. Just as with posts, we make a choice. That means not all submitted comments will be published.

2. We expect comments to be matter-of-fact, on-topic and free of sarcasm, innuendo and ad personam arguments.

3. Racist, sexist and otherwise discriminatory comments will not be published.

4. Comments under pseudonym are allowed but a valid email address is obligatory. The use of more than one pseudonym is not allowed.