Nicht gewählt werden
Die AfD-Fraktion im Brandenburger Landtag hat ein Recht auf Chancengleichheit. Aber ein Recht darauf, einen der ihren in die Parlamentarische Kontrollkommission gewählt und damit womöglich Einblick zu bekommen, was und von wem das Landesamt für Verfassungsschutz über die märkischen Nazis so alles weiß – das hat sie nicht. Das hat der Verfassungsgerichtshof in Potsdam in dieser Woche entschieden, und das halte ich für eine gute Nachricht.
Die Parlamentarischen Kontrollkommissionen sind eine Merkwürdigkeit des deutschen föderalen Parlamentsrechts, mittels derer in Bund und Ländern so etwas wie der Anschein hergestellt wird, als würden die Geheimdienste parlamentarisch kontrolliert. Im Bund heißt es Parlamentarisches Kontrollgremium, nicht -kommission, wohl um die Assoziation mit jener vom Verfassungsschutz beobachteten kurdischen Organisation zu vermeiden, aber das Prinzip ist das Gleiche: Eine ausgewählte Handvoll Abgeordneter bekommen Zugang zu quasi allem, was sie über die Arbeit und Erkenntnisse der Geheimdienste wissen wollen, aber sie dürfen ihr Wissen mit niemandem teilen, auch nicht mit ihren Mit-Abgeordneten, schon gar nicht mit der Öffentlichkeit. Mit parlamentarischer Kontrolle, mit dem Einholen und der Deliberation von Regierungsinformationen, mit dem öffentlichen Verantwortlich-Machen der Regierung hat das nicht viel zu tun. Aber immerhin schaut überhaupt mal jemand drauf, was die Dienste da treiben, das ist wohl sicherlich besser als nichts.
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Da will die AfD rein in dieses Gremium, und es ist nicht schwer zu verstehen, warum. Sie wird vom Verfassungsschutz in Brandenburg als Verdachtsfall geführt. Gleichzeitig ist sie die größte Oppositionsfraktion im Landtag, und die Opposition muss nach § 24 Abs. 1 des Verfassungsschutzgesetzes in der Parlamentarischen Kontrollkommission “angemessen vertreten sein”. Im Februar 2020 beschloss der Landtag, dass die PKK sechs Mitglieder haben solle, jede im Landtag vertretene Fraktion eines. Aber gewählt wurden nur fünf. Der AfD-Kandidat bekam keine Mehrheit. Das wiederholte sich, bis schließlich sämtliche 23 Fraktionsmitglieder einmal erfolglos kandidiert hatten und eine Nachrückerin noch dazu. Keine*r war dabei, für den Landtagsmehrheit stimmen mochte. Das Landtagspräsidium leitete einen “Moderationsprozess” ein, um einen Weg zu finden, diese und andere der AfD zustehende offene Positionen zu besetzen. Erfolglos. Im Dezember 2021 reichte die AfD-Fraktion Klage ein. Am Mittwoch wurde sie von einer 6:2-Mehrheit auf der Potsdamer Richter*innenbank abgewiesen.
Schon 2016 hatte der Verfassungsgerichtshof klar gestellt, dass die AfD-Fraktion im Landtag kein Benennungs- und Entsenderecht für ihre Mitglieder im PKK hat. Sie kann nicht einfach bestimmen, wer sie in der PKK vertreten soll, so wie sie dies bei normalen Parlamentsausschüssen kann (Art. 70 Abs. 2 S. 2 BrbLV). Die PKK ist kein normaler Ausschuss, den das Parlament einsetzt, um seine Beschlüsse vorzubereiten, sondern ein Gremium besonderer Art, dessen Mitglieder gewählt werden und nicht von den Fraktionen benannt und entsandt. Aber das heißt nicht, dass sich die Mehrheit einfach zusammentun und der Minderheit jede Partizipation systematisch vorenthalten darf. Das war der Angle, mit dem es die AfD diesmal vor dem Verfassungsgerichtshof versuchte: Ihr Recht auf Chancengleichheit verlange eine spiegelbildlich zum Plenum zusammengesetzte PKK, und wenn die Mehrheit ihr dies so hartnäckig verweigere, dann sei sie in diesem Recht verletzt.
Ich habe mir das noch unveröffentlichte Urteil mal besorgt. Das Argument der Richtermehrheit läuft ähnlich wie das des Bundesverfassungsgerichts in der Frage des AfD-Anspruchs auf einen Platz im Bundestagspräsidium. Die Mitglieder des PKK müssen von den Abgeordneten des Landtags gewählt werden, und deren freies Mandat wäre nicht mehr frei, wenn man sie verpflichtete, einen bestimmten Kandidaten zu wählen oder auch nur offenzulegen, warum sie ihn nicht wählen. Die Landesverfassung, so der Potsdamer Verfassungsgerichtshof, überlasse die Entscheidung, wie die PKK zusammengesetzt ist, dem Landtag. Die PKK nehme “der Sache nach spezifisch mitgliedschaftliche Rechte der Abgeordneten wahr” und sei daher “im Grunde” schon spiegelbildlich zum Plenum zusammenzusetzen, aber diesen Grundsatz müsse der Landtag im Rahmen seiner Geschäftsordnungsautonomie mit dem freien Mandat der Abgeordneten zu einem “schonenden Ausgleich” bringen. Das habe der Landtag getan, indem er sichergestellt habe, “dass nur Abgeordnete in das Gremium gewählt werden, die persönlich das Vertrauen der Mehrheit des Landtags genießen, deren fachliche Kompetenz und Verschwiegenheit mithin zur Überzeugung der Mehrheit feststehen”. Vertrauen der Mehrheit des Landtags ist das, was in einer parlamentarischen Demokratie eigentlich die Regierung kennzeichnet. Woran sich einmal mehr die Merkwürdigkeit dieses Gremiums zeigt.
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Parlamentsvizepräsident*innen, Ausschussvorsitzende, Geheimdienstkontrolleure: überall wird majoritär gewählt und nicht gewählt und abgewählt, so ist das eben heutzutage in diesen Zeiten des wie verrückt blühenden autoritären Populismus. So wirkt er, auch ohne Regierungsbeteiligung, aus der Minderheitsposition heraus, so verändert er die Verfassungsrealität. Es hat schon gute Gründe, dass der Verfassungsgerichtshof hier von Vertrauen spricht. Hier geht es um das Funktionieren der Demokratie so notwendige wechselseitige Vertrauen zwischen politischen Gegnern, dass am Ende keine Seite ein Interesse daran haben kann, die Bedingungen der Möglichkeit politischer Vielfalt zu zerstören. Wenn der autoritäre Populismus dieses Vertrauen verdienen würde, dann wäre er kein autoritärer Populismus. Das ist der Unterschied zwischen unserer Gegenwart und den 80er Jahren, als die regierende CDU um jeden Preis die Grünen von der Geheimdienstkontrolle fern halten wollte, und den 90er Jahren, als das Gleiche den Linken widerfuhr. Das “integrative Moment” der Teilhabe am parlamentarischen Prozess und der Öffentlichkeit des Verfahrens, um Ernst-Gottfried Mahrenholz’ Sondervotum zum Haushaltskontroll-Urteil von 1986 zu zitieren, konnte in beiden Fällen im Lauf der Jahre seine Wirkung tun, und zwar in beide Richtungen. Wer glaubt, dass das auch mit der AfD funktionieren wird, der möge sich nur mal kurz an den Zustand der parlamentarischen Demokratie in, sagen wir, Großbritannien erinnern. Von Ungarn und Polen ganz zu schweigen.
In Thüringen gibt es übrigens, anders als in Sachsen, ebenfalls bis auf Weiteres kein AfD-Mitglied in der PKK. Aber dafür gibt es womöglich schon bald keine PKK mehr. 2020 verbot der Weimarer Verfassungsgerichtshof auf Antrag der AfD dem Landtag per einstweiliger Verfügung, die PKK zu konstituieren, “bevor er durch geeignete verfahrensmäßige Vorkehrungen, etwa im Rahmen eines formellen oder informellen Verständigungsverfahrens, sichergestellt hat, dass Wahlvorschläge der Antragstellerin nicht aus sachwidrigen Gründen abgelehnt werden”. Daraufhin änderte Thüringen Ende letzten Jahres sein Verfassungsschutzgesetz und knüpfte die Wahl zum PKK-Mitglied an eine Zweidrittelmehrheit. (Ironie: wer sich auf der der Website des Thüringer Innenministeriums nach der aktuellen Rechtslage erkundigen will, findet dort immer noch die alte Fassung, nach der der AfD eine ihrer Fraktionsstärke entsprechende Vertretung in der PKK zustünde.)
Die Folge war, dass sich nunmehr die CDU mit einem Mal nicht dazu entschließen kann, die Kandidaten der Linken mitzuwählen. Der aktuelle Landtag ist bisher außerstande, die Kontrollkommission zu wählen, so dass einstweilen immer noch die allerdings auf 3 der eigentlich 5 Mitglieder geschrumpfte Kommission der letzten Legislaturperiode im Amt ist. Das geht vielleicht notdürftig bis zu den Wahlen im Herbst nächsten Jahres gut. Aber dann? Dass die AfD dann mehr als ein Drittel der Mandate im Erfurter Landtag und damit eine Sperrminorität besitzt, ist sehr wahrscheinlich. (Darüber, was eine solche Sperrminorität sonst noch alles bedeuten könnte, habe ich mich in dieser Woche mit der ZEIT unterhalten: hier.)
Die Woche auf dem Verfassungsblog
In Indien hat die autoritär-populistische BJP-Regierung eine umfassende Strafrechtsreform angekündigt, und zwar unter der Überschrift eines radikalen Bruchs mit dem kolonialen Ursprung des bisherigen Straf- und Strafprozessrechts. In Wahrheit, so ABHINAV SEKHRI, handle es sich aber um das Gegenteil, nämlich “a resurgence of the colonial-style authoritarian approach”.
In Israel gehen die Demonstrationen gegen die Unterwerfung des Obersten Gerichtshofs durch die autoritär-populistische Netanyahu-Regierung ungebrochen weiter. ROMAN ZINIGRAD warnt allerdings davor, allzu große Hoffnung in den Obersten Gerichtshof und die Justiz generell zu investieren. “The role of the Supreme Court in the growth of Israel’s democracy has been of a reinforcing, rather than constitutive nature; so was its contribution to the government’s previous authoritarian adventures.”
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Die zweibändige Festschrift zu Ehren von Professor Gilbert Gornig feiert das Lebenswerk eines herausragenden Rechtswissenschaftlers und Menschen. Als Wissenschaftler hat er Beeindruckendes geleistet und wirkt nach wie vor beispielgebend, nicht zuletzt für den akademischen Nachwuchs. Als Mensch überzeugt er durch Humanität und seine Fähigkeit zur Empathie. Beide Bände der Festschrift spiegeln die Vielzahl an Rechtsgebieten wider, in welchen der Jubilar wirkte und wirkt. Dazu zählt vor allem das Minderheitenrecht, aber auch das Völkerrecht, das Europarecht sowie das deutsche Recht im Allgemeinen.
Die Festschrift ist hier erhältlich.
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Über die letzten zehn Jahre ist die Europäische Union zum führenden Regulator amerikanischer Tech-Unternehmen herangewachsen, schreibt ANU BRADFORD in einem furiosen Longread. Europa schreibt die Regeln und baut auf den Säulen Grundrechte, Demokratie, Fairness und Umverteilung die digitale Verfassung, während die techno-libertären USA von der Seitenlinie aus zuschaut. Aber die europäische digitale Verfassung hat auch ihre Schwächen.
Ein Teil dieser digitalen Verfassung ist die geplanten Regulierung künstlicher Intelligenz in der EU (AI Act). Um deren breite und vage Formulierungen zu konkretisieren, wird es ist nach Ansicht von LJUBISA METIKOS mit rechtsdogmatischer Arbeit nicht getan sein. Ein interdisziplinärer Approach sei vonnöten.
Das Abkommen zwischen EU und Tunesien zur gemeinsamen Abwehr von Geflüchteten und Migranten nimmt KATHARINA NATTER unter die Lupe. Der Deal sei ein Beispiel für das Vordringen informeller Soft-Law-Politik, das für Migranten, aber auch für EU-Bürger*innen generell mit großen Risiken verknüpft sei.
Die Bundesregierung will den Regelbedarf beim Bürgergeld anheben, nicht aber das steuerfreie Existenzminimum. TIM BUCHHOLZ warnt vor der “Gefahr eines Verstoßes gegen das aus Art. 3 GG folgende Gebot der rechtsgebietsübergreifenden Folgerichtigkeit”.
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Das Forschungsprogramm Wissen & Gesellschaft am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft betreibt grundlagenorientierte und angewandte Wissenschafts- und Hochschulforschung.
Wir suchen zum nächstmöglichen Zeitpunkt eine*n studentische*n Mitarbeiter*in (m/w/d) für ein neues Forschungsprojekt zu den rechtlichen Bedingungen von fairem Open Access, zusammen mit dem Projektpartner Verfassungsblog.
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Und wir haben ein, wie ich finde, außerordentlich interessantes Blogsymposium gestartet in dieser Woche: Es geht um die Frage, ob und wann und warum Parlaments-Entscheidungen “in eigener Sache” ein verfassungsrechtliches Problem sein sollen. Auf den Aufschlag-Post von SOPHIE SCHÖNBERGER nähern sich zunächst MARTIN MORLOK, JELENA VON ACHENBACH und MICHAELA HAILBRONNER auf abstrakter Ebene dem Thema, weitere Beiträge auch zu speziellen Aspekten wie dem Wahlrecht oder dem Recht der politischen Stiftungen sowie Blicke ins Ausland werden in den nächsten Tagen folgen.
Das war’s für diese Woche. Ihnen einstweilen alles Gute, und bis nächste Woche!
Ihr
Max Steinbeis
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Die ursprüngliche Version dieses Editorials enthielt einen Faktenfehler bezüglich des Sitzes des Thüringer Verfassungsgerichtshofs. Der Fehler ist korrigiert.
“Ich habe mir das noch unveröffentlichte Urteil mal besorgt.”
Wieso noch unveröffentlicht?
Das Urteil steht seit kurz nach dem Erlaß doch auf https://gerichtsentscheidungen.brandenburg.de/gerichtsentscheidung/22271 (ich habe es dort eher wahrgenommen, als in der Presse).
zum Zeitpunkt der Niederschrift war das Urteil noch unveröffentlicht.