„Nicht niemals“ – Mit der Infektion leben
I. Der weiße Wal Corona taucht wieder auf. Die Ministerpräsidenten und das Kanzleramt sind in diesen Tagen erneut verabredet, um sich für den Herbst 2021 zu wappnen. Wir sehen Grenzkontrollen, die wir so noch nie erlebt haben – Bundespolizei, die millionenfach die Einreise der eigenen Staatsbürger kontrolliert, unter aktiv kommunizierter Bußgelddrohung wegen versäumter Impf- und Testpflichten. Die Schulen beginnen mit Reihentestungen, um infektiöse Schülerinnen und Schüler zu erkennen. Und schließlich wird Anfang September – das ist keine sehr mutige Wette – die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag um weitere drei Monate verlängert werden. Denn nach der Bundestagswahl weiß man nicht, was kommt, und Berlin will zumindest bis Jahresende sicher handlungsfähig sein in Sachen Corona.
Hat sich also nichts verändert in dem unsicheren Wellenritt, den wir gemeinsam mit der Weltgemeinschaft in Sachen Pandemie seit 18 Monaten unternehmen? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Fortführung der bisherigen Coronapolitik „auf Sicht“, mit einem Großmandat für exekutive Problembehandlungen, aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zur freien Hand von Regierungen und Parlament gestellt ist. Vor allem das umfassende Impfangebot für Erwachsene ist nach Lage der (virologischen) Dinge ein Kipp-Punkt für den freiheitlichen Verfassungsstaat – wer es als unmaßgeblich übergeht, hat die letzten Haltepunkte einer grundgesetzbezogenen Pandemiebekämpfung hinter sich gelassen.
II. Wie stellt sich die Situation dar? Zunächst sollten uns die Corona-Nachrichten aus aller Welt daran erinnern, dass in den meisten Ländern des Planeten COVID-19 nach wie vor eine tödliche Bedrohung darstellt, insbesondere für arme, alte und kranke Menschen. Zugleich gibt es Anlass für schlichte Dankbarkeit, dass es der internationalen Spitzenforschung gelungen ist, in unglaublich kurzer Frist wirksame Imfpstoffe zu erzeugen, die das Risiko schwerer Krankheitsverläufe radikal absenken. Und es ist Zeit für viel Demut, dass ein reiches Land wie die Bundesrepublik vermocht hat, sozialen Frieden und gesundheitliche Versorgung für die Bevölkerung während der bisherigen Krise durch Verschuldung – also durch die Simulation zukünftiger wirtschaftlicher Erträge als Versprechen für die Kapitalmärkte – zu sichern.
Das Verfassungsrecht hängt nun für seinen Beitrag zur weiteren Problembewältigung zunächst von konkreten Auskünften der Naturwissenschaften ab. Dann allerdings kann es zu durchaus präzisen Auskünften in der Lage sein, welche Konsequenzen aus bestimmten Sachverhalten folgen müssen, wenn man sich an Regeln halten will, auf die wir uns im Verfassungsstaat geeinigt haben. Der medizinische Sachverhalt, der hier für Grenzmarkierungen der praktischen Politik zu verarbeiten ist, lautet wie folgt: Nach virologischer und epidemiologischer Erkenntnis senkt eine doppelte Impfung die Gefahr einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die ursächlich auf eine Infektion mit dem Corona-Virus zurückzuführen sind, umfassend. Dies gilt sowohl für die Gruppen mit einem hohen individuellen Risiko (wie Alter oder Vorerkrankung) wie auch für die Gesamtbevölkerung. Für Jugendliche sind Impfstoffe zugelassen, aber durch die Ständige Impfkommission bisher nicht allgemein empfohlen werden, sondern nur bei individuellen Risikofaktoren; für Kinder unter 12 Jahren gibt es keinen Impfstoff. Inzwischen ist im Übrigen sicher anzunehmen, dass auch bei erfolgter voller Impfung weiter Virusübertragungen an Dritte möglich sind und eine Impfung keinen dauernden Eigenschutz bietet, so dass konsequenterweise Nachimpfungen erforderlich sein werden.
Der Umkehrschluss zu der guten Nachricht „Die Impfung schützt Risikogruppen zuverlässig vor schweren Verläufen“ lautet also nach derzeitigem Stand: „Auch eine Impfung schützt nicht sicher vor einer Infektion“, und daraus folgt schon aus prinzipiellen medizinischen Gründen die Möglichkeit „auch bei einer Impfung kann es zu einem tödlichen Verlauf kommen“. Man könnte sagen: Auch bei Impfung, selbst bei Herdenimmunität, kommt der Tod wegen Corona „nicht niemals“ vor. Gleiches gilt auch für ungeimpfte Kinder – und gleiches gilt selbstverständlich in anderer Richtung auch für die Folgen von Impfungen.
III. Wie reagiert das Verfassungsrecht auf diesen Stand der Dinge? Kann es vor allem die Differenz verarbeiten, die sich zwischen dem Impfangebot für Erwachsene und dem fehlenden Impfstoff für Kinder auftut? Und was fängt es an mit dem Umstand, dass inzwischen in der praktischen Politik keineswegs mehr „der Wissenschaft“ gefolgt wird, sondern selbst der Bundesgesundheitsminister auf offener Bühne sowohl seinem nachgeordneten Robert-Koch-Institut (in Sachen Inzidenz) wie der Ständigen Impfkommission (in Sachen Impfempfehlung für Jugendliche) widerspricht? Nun, eine solche Ordnungsleistung erscheint möglich – sie hat allerdings auch Konsequenzen. Als erster Punkt ist festzuhalten: Durch das Impfangebot für Erwachsene hat der Staat seiner Schutzpflicht sowohl in kollektiver Hinsicht (also in Bezug auf das Gesundheitssystem) wie in individueller Hinsicht (also in Bezug auf die einzelnen Staatsbürger) zunächst genügt. Solange eine immer noch wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern das Angebot (wohlgemerkt für sie kostenloser) Impfungen nutzt und zugleich die Krankenhäuser wegen der fast vollständigen Impfung von Risikogruppen so gut wie corona-frei sind, kann nicht einfach eine epidemische Lage simuliert werden, die vergleichsweise kleine Inzidenzen hochrechnet („bald 400, dann 800“), ohne die konkret betroffene Population und damit Krankenfolgen als Faktor einzurechnen; die Wirklichkeit hat die ins Unendliche hochgerechneten Exponentialmodelle immer wieder zuverlässig widerlegt, wie jetzt gerade wieder in Großbritannien. Und es ist eine wirklich bedrückende Form von Arbeitsverweigerung, dass nach wie vor die platte Gesamtinzidenz die tägliche Hauptnachricht der großen Leitmedien bildet – als ob es gar nichts austrüge, dass diese Infektionen ganz überwiegend junge Menschen betreffen und eben dort in fast allen Fällen nicht zu lebensbedrohlichen Krankheitsbildern führen.
Hier liegt dann als zweiter Punkt auch die Brücke zu Kindern und Jugendlichen: Bei ihnen war und ist es auch ohne Impfung unbestritten so, dass sie kollektiv nicht schwer erkranken – ihr Verzicht 2020/2021 war ein Akt der Solidarität, nicht des Selbstschutzes; „Long Covid“ trifft sie nach Einschätzung der Universitätsmediziner bei Infektion genauso häufig wie ohne Infektion, was angesichts ihrer gemeinsamen äußeren Lebensumstände in der Pandemie auch kein Wunder ist. Geimpfte Erwachsene und ungeimpfte Kinder sind daher pandemierechtlich gleichzustellen: Sie sind selber nicht gefährdet und müssen darauf vertrauen können, dass sich ihr Gegenüber selber schützt bzw. nicht gefährdet ist. Klassen-Quarantäne ist daher gar keine naheliegende Folge einer festgestellten Infektion unter Schülern. Beim derzeitigen Druck auf die STIKO läuft die Politik in eine selbstgebaute Falle, indem sie Infektionsträger aller Art einfach gleichgestellt hat – und nun nicht erträgt, dass dem aus fachlichen Gründen der Jugendmedizin entgegengehalten wird, dass bei jungen Menschen das Risiko einer Impfung größer als im Allgemeinen sein kann, und zugleich der Nutzen kleiner.
IV. Und wenn nun der Impffortschritt doch erheblich stockt? Auch insoweit lädt das Verfassungsrecht zu Unterscheidungen ein. Zum einen ist der Ausschluss einer Impfpflicht überraschend apodiktisch, mit sehr ambivalenten Folgen: Denn mit diesem selbstauferlegten Handlungsverbot (wohlgemerkt: in Bezug auf im staatlichen Auftrag erprobte und von ihm zugelassene medizinische Wirkstoffe) ging und geht ja einher, dass dafür dann aber fast jede andere Lebensäußerung nach staatlichem Ermessen verboten oder reguliert werden darf – so entsteht eine durchaus verstörende Allianz aus Impfverweigerung und Verbots-Kraftmeierei, die sich gegenseitig verstärkt: Solange die einen nicht tun, was vernünftig (oder doch jedenfalls zumutbar ist), dürfen die anderen das ganze Land von Gesundheitsministerien aus regieren. Es erscheint daher auch sehr deutsch, selbst positive Impfanreize für die Problemklientel (sei sie in Villen oder Plattenbauten zu finden) zu bemäkeln und statt dessen lieber die längst geimpfte „Mitte der Gesellschaft“ weiter durch Verbotsmaßnahmen in Haftung zu nehmen, nur weil man es nach bisheriger Erfahrung eben kann. Es bleibt freilich das Problem derjenigen bestehen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen können und gleichwohl ein erhebliches Risiko tragen, schwer an COVID zu erkranken. Wo diese Kombination von zwei Faktoren tatsächlich vorliegt, ist eine solidarische Gesellschaft gefordert – und diesen Fällen kann ja auch mit größerem allgemeinem Sachverstand und größerer Empathie begegnet werden, als dies vor Corona üblich war, wo es diese Fälle ja auch schon gab. Hier ist ein allgemeines Bewusstsein gewachsen, vor allem den notwendigen Eigenschutz in allgemeine Abläufe zu integrieren und etwa auf FFP-Masken oder die Verweigerung eines Handschlags nicht mehr befremdet zu reagieren.
Zu beachten ist schließlich: Millionen junger und mittelalter Menschen haben sich impfen lassen, ohne dass es ihnen um ihre eigene Gefährdung ging – ein (weiterer) Akt der Solidarität. Ihnen und ihren Kindern ist es im verfassungsrechtlichen Sinn nicht zumutbar, trotz Erfüllung aller einschlägigen individuellen Pflichten und trotz kollektivbezogener Beherrschung der Pandemie weiter von der Zuteilung kleiner Freiheiten unter Vorbehalt abhängig zu sein. Ein gutes und praktisch wichtiges Beispiel bilden die Universitäten: An ihnen ist die Impfquote nach allen Kenntnisständen (und ja auch nicht ganz unerwartet) besonders hoch. Zugleich ist der Ausfall von inzwischen drei Präsenzsemestern gerade für Studienanfänger und gerade für Bildungsaufsteiger eine reine Katastrophe, weil die akademische Ausbildung ein gesamthafter Vorgang ist, der sich nicht einfach ins Internet transferieren lässt. Ohne tiefe Vorbildung (und woher sollte sie kommen) wirken podcasts und Zoom-Seminare in den meisten Fällen wie in Sand geschrieben. Finanziell für den Staat günstige Massenstudiengänge wie die Rechtswissenschaft können auch mit einer ministeriell vorgegebenen „Obergrenze 50 Teilnehmer“ nichts anfangen – soll BGB AT mit sechs Wochenstunden 10x pro Woche gelesen werden – neben allen anderen Fächern, für die das gleiche gilt? Von wem? In welchen Räumen? Und ja: Solche Vorlesungen sind wichtig, als Begegnung, als Forum, als Initiation. Soll stattdessen die digitale Augenwischerei im Wintersemester fortgesetzt werden, weil in bestimmten Stadtteilen oder anderen Städten des jeweiligen Bundeslandes eine bestimmte global gesetzte Inzidenz überschritten wird (und während größere Veranstaltungen anderer Lebensbereiche durchaus zugelassen sind)? Diese Mehrfach-Verstöße gegen das Gleichheitsgebot legen sich wie ein Mehltau vor allem über die staatlich beherrschten Lebensbereiche.
V. Die Parameter des Verfassungsrechts können gerne bedacht werden, wenn nun wieder die Ministerpräsidenten und das Kanzleramt konferieren – sie sind übrigens nicht identisch mit der sehr verkürzten Kontrollfrage, ob das Bundesverfassungsgericht der Regierung in den Arm fällt. Im verfassungsrechtlichen Sinn wäre aus Gründen des Gleichheitssatzes wie der Verhältnismäßigkeit zumindest notwendig, den Faktor „Volksinzidenz“ endlich zu überwinden – auch wenn das Arbeit macht. Sonst gehen im Herbst 2021 viele von der Fahne, die bisher treu, oft ohne eigenen Nutzen und vielfach auch kopfschüttelnd dieses Land vor Ort durch die Krise gebracht haben.
Danke. Es tut gut, an dieser Stelle immer wieder Analysen zu lesen, die fernab vom täglichen Auf und Ab der Leitmedien die Lage kühl vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus betrachten. Ich gehöre selbst zu jener Gruppe, die Einschränkungen mitgetragen hat, um mit den Impfungen letztlich an den Punkt zu gelangen, an dem wir unser gemeinschaftliches Leben weitgehend wieder eigenverantwortlich führen können. Nur ist dieser Punkt nach wie vor nicht fixiert oder wenigstens ungefähr umrissen. Daher teile ich auch die Einschätzung, dass im Herbst einige oder viele “von der Fahne” gehen werden und die bestehenden Regeln für sich selbst in Eigenregie außer Kraft setzen.
Vielen Dank für diese überzeugende Positionierung. Zu Beginn der Pandemie und bis zur ausreichenden Versorgung mit Impfstoffen haben mich die Maßnahmen grosso modo überzeugt. Manche verfassungsrechtliche Kritik hieran schien mir an den Nöten einer Regierung, die für die Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich ist, vorbeizugehen. Das habe ich sehr deutlich so gesagt, auch zu einem Beitrag von Herrn Wißmann aus dieser Zeit.
Die Impfstoffversorgung ist aber in der Tat der entscheidende “Kipp-Punkt”. Unter diesen geänderten Umständen lassen sich allgemeine Beschränkungsmaßnahmen kaum noch rechtfertigen. Mit dem Grundgesetz ist eine Dauerverstetigung allgemeiner erheblicher Grundrechtseinschränkung nicht zu machen, zumal wenn andere Abhilfe besteht. Vor diesem Hintergrund kann eine Impfpflicht in der Tat nicht apodiktisch ausgeschlossen werden. Jedenfalls sind allgemeine Beschränkungsmaßnahmen vorrangig an Ungeimpfte (mit Ausnahme von Kindern) zu richten.
Insofern kann ich den Schlusssatz des Beitrags nur unterstreichen.
Die Analyse überzeugt – wie immer beim Kollegen Wißmann. Das Paradigma des Repressiven, des “Lockdown für alle” hat angesichts einer – durchaus beachtlichen – Impfquote von bereits über 50 Prozent ausgedient. Das ist für die Politik nun ein Problem, denn”Lockdown für alle” war ein bequemes, da simples Konzept. Jetzt wird es schwieriger. Neue Konzepte? Bislang Fehlanzeige. Warum auch? Denn de lege lata wird es wieder auf einen Lockdown für alle hinauslaufen. Man lese einfach mal § 28a IfSG – was Zumutung genug ist. Da sind die Inzidenzen ins Gesetz gemeißelt wie die alttestamenstarischen zehn Gebote. Nur bei Lockerungen sind andere Parameter zulässig, nicht indes bei Verschärfungen (§ 28a Abs. 3 S. 12 IfSG). Daraus folgt: Das IfSG muss dringend geändert werden. Sonst wird im November wieder alles dicht sein – und zwar für alle, ob geimpft oder ungeimpft. Wessen Triumph wird das wohl sein?
Ein besonders lesenswerter Beitrag und ein Fazit, dass man nur sehr schwer nicht teilen kann. Das OVG Lüneburg hat sich heute ja – soweit dies das legislatorische Monster des § 28a IfSG zulässt – schon entsprechend deutlich positioniert.
Letztlich ist mit dem Beitrag inhaltlich die Frage verwoben, ab welchem Zeitpunkt rechtlich ausgeformte Interventionen der Eigenverantwortung des Einzelnen zu weichen haben. Auch wenn sicher ist, dass die Antwort hierauf zwischen Untermaßverbot der Schutzpflicht und Übermaßverbot des Abwehrrechts liegt, sollte man schon im Grundsatz nicht verkennen – was m.E. im öffentlichen Diskurs regelmäßig geschieht -, dass Schutzpflicht und Abwehrrecht auf Verfassungsebene zunächst gleichrangig nebeneinander stehen (und erst anhand des jeweiligen Einzelfalls in Ausgleich zu bringen sind). Wenngleich Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG dem Staat – einfach formuliert – in infektionsschutzrechtlicher Konkretisierung abverlangt, die Nichtinfizierten vor Ansteckung durch Infizierte zu bewahren, kann dies doch nur solange unterschiedslos gelten, bis für die Grundrechtsträger selbst Möglichkeiten zumutbarer und legitimier Abhilfe bestehen.
Es ist nicht erwiesen, dass Kinder mit und ohne Corona gleichermassen von LongCovid betroffen sind. Es gibt die eine Studie im preprint, die auch von der Stiko aufgefuehrt wird, die diese Resultate auffuehrt, aber der Studienautor selber sagt, dass man daraus nicht den Schluss ziehen koennte, dass Corona kein LongCovid verursachen wuerde.
““This was kind of striking,” says Armann, and suggests that long COVID in children is probably lower than some studies have indicated. That doesn’t mean that long COVID doesn’t exist in children, he says, but it does mean the number is probably below 10%, a level that would have been picked up in the study. The true figure is perhaps as low as 1%, he says.”
https://www.nature.com/articles/d41586-021-01935-7
Damit ist natuerlich auch die Schlussfolgerung hinfaellig, die vom Autor gezogen wird.
Der Artikel von Herrn Wißmann ist ein wichtiger intellektueller Debattenbeitrag zur aktuellen, ausgesprochen verfahrenen Situation – dafür gilt es abermals einen herzlichen Dank auszusprechen. Als juristischer Laie teile ich ebenfalls die Einschätzung, dass das flächendeckende Impfangebot als probates und herausragend zuverlässiges Mittel des Selbstschutzes einen zentralen Kipp-Punkt sowie “letzten Haltepunkt” für vertretbares, verhältnismäßiges Pandemie-Management darstellt. Nicht folgen kann ich jedoch der geforderten Gleichstellung lediglich von geimpften Erwachsenen sowie ungeimpften Kindern. Diese Gleichstellung wird damit begründet, dass geimpfte Erwachsene sowie ungeimpfte Kinder im Grundsatz “nicht gefährdet” seien. Dem stimme ich zu. Mich irritiert lediglich die künstliche Grenze zwischen Erwachsenen und Kindern: Warum ist ein U18-jähriges Kind “nicht gefährdet”, ein Ü18-jähriger Erwachsener jedoch nur geimpft nicht gefährdet? Diese Grenzziehung ist medizinisch natürlich nicht haltbar. Vielmehr kann man mit Blick auf das allgemeine Lebensrisiko es sogar für vertretbar erachten, dass z.B. hinsichtlich der IFR Personen bis jenseits der 40 im Durchschnitt “nicht gefährdet” sind. Schlussendlich ist eine altersbezogene Teilung jedoch noch immer völlig unzureichend, hängt es doch von vielfältigen Faktoren ab, welchem Status der Gefährdung man hinsichtlich Covid statistisch unterliegt. Dies führt mich zu der Behauptung, dass eine Gefährdung schlussendlich individueller betrachtet werden muss und wir die Konstituierung der sog. “Riskogruppen” deutlich enger und differenzierter fassen sollten – insbesondere insofern rechtlich relevant. Dem folgend sowie den Grundsatz der bis zu einem gewissen Grad zulässigen Selbstgefährdung bei erwachsenen Menschen annehmend gilt es daher mit Blick auf die pandemierechtliche Gleichstellung und das flächendeckende Impfangebot den – sehr guten – Satz von Herrn Wißmann wie folgt abzuändern und zu einem neuen pandemischen Grundsatz umzuformulieren: Ungeimpfte sowie geimpfte Personen sind mit Blick auf das flächendeckende Impfangebot bedingungslos gleichzustellen. Sie sind selber nicht über ein eigenverantwortlich auszuhaltendes Maß hinaus gefährdet und müssen darauf vertrauen können (sehr gut!), dass sich ihr Gegenüber selber schützt bzw. ebenfalls nicht gefährdet ist. Dieser Grundsatz schließt einen empathischen und bewussten Umgang mit Personen, welche gefährdet sind oder sich gefährdet fühlen, aber sich nicht hinreichend selbst schützen können, keineswegs aus. Diese vereinzelten Härtefälle sind jedoch individuell zu betrachten sowie zu lösen – wie es bisher in aller Regel auch gehandhabt wurde. Dies passt m.E. auch zu dem z.B. vom nordrhein-westfälischen Familienminister Stamp geforderten “Tag der Freiheit und Eigenverantwortung” – wenngleich mir staatliches Pathos grundsätzlich eher fremd ist. Wie wir in diesem Rahmen mit §28 IfSG umgehen steht auf einem anderen Blatt.
“„Long Covid“ trifft sie [Kinder und Jugendliche] nach Einschätzung der Universitätsmediziner bei Infektion genauso häufig wie ohne Infektion, was angesichts ihrer gemeinsamen äußeren Lebensumstände in der Pandemie auch kein Wunder ist.”
Woher nehmen Sie die These, dass irgendjemand Long Covid haben kann, ohne infiziert zu sein? Wie stellen Sie sich das vor? Ich habe eine Krankheit nicht, leide aber unter ihren Symptomen? Wenn das möglich ist, woraus ergibt sich dann, ob jeder einzelne Mensch Long Covid hat oder nicht? Gerne würde mich interessieren, welche der von Ihnen angesprochenen Universitätsmediziner diese Auffassung vertreten.
Nach klassischem Verständnis (https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/corona-long-covid-kinder-jugendliche-langzeitfolgen-100.html) sind mit Long Covid verschiedene Langzeitfolgen gemeint, die Menschen nach (!) einer Corona-Infektion bekommen können. Abgeschlagenheit, Husten, Konzentrationsprobleme, Schlafstörungen gehören dazu, auch Geschmacksverlust, Kopf-, Bauch-, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Hautausschläge treten mitunter auf.
Alle diese Symptome sollen genauso häufig mit wie ohne Infektion auftreten? Das wäre eine medizinische Sensation sondergleichen.
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Alle diese Symptome sollen genauso häufig mit wie ohne Infektion auftreten? Das wäre eine medizinische Sensation sondergleichen.
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Das könnte ganz einfach bedeuten, dass die Corona-Infektion nicht kausal für Long Covid ist, sondern die Corona-Umstände. (Allerdings könnte es z.B. sein, dass Kinder mit Corona-Infektion während der Corona-Umstände häufiger in Arzt-Praxen auftauchen als Kinder ohne Corona-Infektionen, was wieder eine Diagnose von “Long Covid”-Symptomen bei Kindern mit Corona-Infektionen deutlich wahrscheinlicher macht, obwohl die Infektion nicht kausal für die Symptome ist).
Ob das so ist, weiß ich nicht. Aber es wäre eine Erklärung, die auch nicht besonders sensationell, sondern recht profan ist.
Sicherlich kann man auch über eine Krankheitsbild namens “Long Lockdown” sprechen, wie etwa im verlinkten ZDF-Artikel. Nur greift Herr Wißmann diese Unterscheidung ja weder auf noch spezifiziert er, was er selbst unter Long Covid versteht. Dementsprechend muss man die Passage so interpretieren, dass er die üblicherweise unter dem Begriff Long Covid zusammengefassten Symptome meint. Es ist nicht die Aufgabe des Lesers, einen Artikel, der sich auf die Erkenntnisse von Unversitätsmedizinern beruft, solange geltungserhaltend zu reduzieren, bis seine Aussagen aus medizinischer Sicht auch zutreffen.
Husten, Geschmacksverlust, Muskel- und Gelenkschmerzen sowie Hautausschläge sind aber als Symptome von “Long Lockdown” recht sicher auszuschließen, sie hängen vielmehr unmittelbar mit einer vorangegangenen Corona-Infektion zusammen (Auch hier lasse ich mich wiederum gerne vom Gegenteil durch dahingehende Studien überzeugen.).
Ich finde es enttäuschend, dass die deutsche Rechtswissenschaft, die in ihren abstrakten Selbstreflexionsschleifen permanent die Notwendigkeit ihrer Interdisziplinarität betont, aber in der konkreten verfassungsrechtlichen Bewertung der Pandemie oft nicht in der Lage zu sein scheint, virologische Erkenntnisse richtig wiederzugeben, geschweige denn zu verarbeiten. Dieser Artikel steht dafür paradigmatisch.
Ich bin auf Ihren Artikel in der WELT vom 09. August 2021 aufmerksam geworden.
Obwohl der Artikel sehr ausgewogen und umfassend ist, gefällt mir nicht, dass Menschen die sich nicht impfen lassen wollen als unsolidarisch dargestellt werden. Auch diese Menschen haben unter persönlichem Leid die Maßnahmen und Freiheitseinschränkungen mitgetragen und somit Ihren Beitrag für die Solidargemeinschaft geleistet.
Als Beispiel: Einem COVID-19 (mit leichten Symptomen) erkankten und genesenen Mitbürger, der für sich nun die Entscheidung trifft sich nicht mit einem neuartigen mRNA-Impfstoff impfen zu lassen, mache ich erstmal keine Vorwürfe. Als freier Bürger steht es ihm zu, eine persönliche Risikoabwägung zu treffen. In diesem Fall trifft er sie gegen den neuartigen Impfstoff, weil er die persönlichen Auswirkungen der Krankheit für sich einschätzen kann.
In diesem Zusammenhang weiße ich gerne auf eine weitere Ungleichbehandlung hin: Genesene gelten nur 6 Monate als genesen. Für Geimpfte gilt diese Beschränkung nicht, obwohl sie nicht besser oder länger geschützt sind (wie uns jetzt auch die Debatte und die Impfauffrischung zeigt). Also entweder gelten die 6 Monate “Freiheit” auch für die Geimpften oder Genesene sind sind den Geimpften vollständig gleichzustellen.
Die 6 Monate sind im übrigen eine von der Politik willkürlich festgelegte Grenze, mit dem Ziel, auch die Genesenen zur Impfung zu drängen.
Ich halte Ihre Argumente weder ethisch noch medizinisch für überzeugend.
Zum Argument fehlender Solidarität:
Sie stellen das Problem dar, als würde die Tatsache, dass es sich um eine persönliche Risikoabwägung handelt, ausschließen, dass die Entscheidung gegen eine Impfung unsolidarisch ist. Dieser Schluss hat keine Legitimität. Beispiel: Auch eine Raucherin trifft eine Abwägungsentscheidung, wenn sie sich für das Rauchen entscheidet. Angesichts dessen, dass allgemein bekannt ist, dass Rauchen erstens den Konsumenten und zweitens seinen Mitmenschen erheblichen Gesundheitsrisiken aussetzt, kann man dieses Verhalten durchaus als unsolidarisch einordnen, zumal hier die Eigengefährdung zusätzlich über Krankenkassenbeiträge auf die Gemeinschaft umgelegt wird. Ich halte es trotzdem für sinnvoll, dass Rauchen nicht generell verboten ist. Das Beispiel verdeutlicht aber, dass es die Begriffe “persönliche Risikoabwägung” und “unsolidarisch” – anders als von Ihnen insinuiert – kein Gegensatzpaar sind. Der Vorwurf unsolidarischen Verhaltens bzgl. des Impfens ergibt sich vielmehr daraus, dass eine Impfung nach allen verfügbaren wissenschaftlichen Informationen (z.B. https://www.zeit.de/gesundheit/2021-08/corona-impfung-nebenwirkungen-delta-variante-zweitimpfung-wirksam)
(1.) einen weitestgehend zuverlässigen Schutz hinsichtlich aller Varianten vor (aufsteigend mit zunehmender Wahrscheinlichkeit) Ansteckung, Symptomen, schweren Verläufen, Hospitalisierung und Tod bietet,
(2.) alle Impfstoffe hinsichtlich der Nebenwirkungen deutlich hinter den Risiken einer Infektion zurückbleiben,
(3.) die Wahrscheinlichkeit einer Ansteckung anderer erheblich reduzieren und schließlich
(4.) in hinreichendem Maße für die Bevölkerung verfügbar sind.
“Unsolidarisch” ist ein Begriff aus der Ethik/Moralphilosophie, der sich nicht damit verträgt, dass jeder einzelne über ihn disponieren kann. Ob ein Verhalten unsolidarisch ist oder nicht, hängt also zuerst von objektiven Daten und erst dann, wenn diese nicht verfügbar sind, von persönlichen Abwägungen ab. Als letztes sei gesagt, dass ja auch niemand, anders als Sie suggerieren, verpflichtet ist, einen “neuartigen” mRNA-Impfstoff zu wählen.
Zum Argument einer nicht gerechtfertigten Ungleichbehandlung von Geimpften und Genesenen:
Selbstverständlich gibt es aus medizinischer Sicht Unterschiede zwischen diesen; nur einer sei herausgegriffen: Wie stark bzw. langanhaltend der Immunschutz der Genesenen ist, hängt maßgeblich davon ab, wie schwer die Infektion verlaufen ist. Gerade bei leichten Infektionen ist der Immunschutz öfters nur schwach ausgeprägt. Vergleichbares lässt sich für Geimpfte gerade nicht sagen. Anders als bei Geimpften lässt sich deswegen auch nicht pauschal bei allen Genesenen eine Immunität diagnostizieren (vgl. Friedemann Weber, in: https://www.merkur.de/welt/corona-impfung-genesene-geimpfte-virologe-gleichstellung-antikoerper-immunsystem-schutz-90579533.html). Dem entspricht es auch, dass die STIKO Genesenen eine Impfung anrät (https://www.rki.de/SharedDocs/FAQ/COVID-Impfen/FAQ_Liste_Durchfuehrung_Impfung.html). Ihre These ist daher schon vom medizinischen Standpunkt aus falsch.
Das Willkürargument am Ende wiederum ist bei Zahlenwerten und Fristen so überzeugend, wie dem Gesetzgeber vorzuwerfen, dass er willkürlich die Höchstgeschwindigkeit innerorts auf 50 km/h festgelegt hat und nicht auf 45 oder 55 km/h. Gleiches gilt für die Klagefrist im Verwaltungsgerichtsverfahren von einem Monat oder sämtliche Verjährungsregelungen. Ihre Unterstellung zum Schluss, dass der Gesetzgeber mit dieser Maßnahme auch Genesene zur Impfung drängen wolle, erscheint mir reine Spekulation zu sein, (nicht nur) hier würde ich mich über einen Beleg freuen.