03 August 2021

„Nicht niemals“ – Mit der Infektion leben

I. Der weiße Wal Corona taucht wieder auf. Die Ministerpräsidenten und das Kanzleramt sind in diesen Tagen erneut verabredet, um sich für den Herbst 2021 zu wappnen. Wir sehen Grenzkontrollen, die wir so noch nie erlebt haben – Bundespolizei, die millionenfach die Einreise der eigenen Staatsbürger kontrolliert, unter aktiv kommunizierter Bußgelddrohung wegen versäumter Impf- und Testpflichten. Die Schulen beginnen mit Reihentestungen, um infektiöse Schülerinnen und Schüler zu erkennen. Und schließlich wird Anfang September – das ist keine sehr mutige Wette – die „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ durch den Bundestag um weitere drei Monate verlängert werden. Denn nach der Bundestagswahl weiß man nicht, was kommt, und Berlin will zumindest bis Jahresende sicher handlungsfähig sein in Sachen Corona.

Hat sich also nichts verändert in dem unsicheren Wellenritt, den wir gemeinsam mit der Weltgemeinschaft in Sachen Pandemie seit 18 Monaten unternehmen? Im Folgenden soll gezeigt werden, dass die Fortführung der bisherigen Coronapolitik „auf Sicht“, mit einem Großmandat für exekutive Problembehandlungen, aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht zur freien Hand von Regierungen und Parlament gestellt ist. Vor allem das umfassende Impfangebot für Erwachsene ist nach Lage der (virologischen) Dinge ein Kipp-Punkt für den freiheitlichen Verfassungsstaat – wer es als unmaßgeblich übergeht, hat die letzten Haltepunkte einer grundgesetzbezogenen Pandemiebekämpfung hinter sich gelassen.

II. Wie stellt sich die Situation dar? Zunächst sollten uns die Corona-Nachrichten aus aller Welt daran erinnern, dass in den meisten Ländern des Planeten COVID-19 nach wie vor eine tödliche Bedrohung darstellt, insbesondere für arme, alte und kranke Menschen. Zugleich gibt es Anlass für schlichte Dankbarkeit, dass es der internationalen Spitzenforschung gelungen ist, in unglaublich kurzer Frist wirksame Imfpstoffe zu erzeugen, die das Risiko schwerer Krankheitsverläufe radikal absenken. Und es ist Zeit für viel Demut, dass ein reiches Land wie die Bundesrepublik vermocht hat, sozialen Frieden und gesundheitliche Versorgung für die Bevölkerung während der bisherigen Krise durch Verschuldung – also durch die Simulation zukünftiger wirtschaftlicher Erträge als Versprechen für die Kapitalmärkte – zu sichern.

Das Verfassungsrecht hängt nun für seinen Beitrag zur weiteren Problembewältigung zunächst von konkreten Auskünften der Naturwissenschaften ab. Dann allerdings kann es zu durchaus präzisen Auskünften in der Lage sein, welche Konsequenzen aus bestimmten Sachverhalten folgen müssen, wenn man sich an Regeln halten will, auf die wir uns im Verfassungsstaat geeinigt haben. Der medizinische Sachverhalt, der hier für Grenzmarkierungen der praktischen Politik zu verarbeiten ist, lautet wie folgt: Nach virologischer und epidemiologischer Erkenntnis senkt eine doppelte Impfung die Gefahr einer lebensbedrohlichen Erkrankung, die ursächlich auf eine Infektion mit dem Corona-Virus zurückzuführen sind, umfassend. Dies gilt sowohl für die Gruppen mit einem hohen individuellen Risiko (wie Alter oder Vorerkrankung) wie auch für die Gesamtbevölkerung. Für Jugendliche sind Impfstoffe zugelassen, aber durch die Ständige Impfkommission bisher nicht allgemein empfohlen werden, sondern nur bei individuellen Risikofaktoren; für Kinder unter 12 Jahren gibt es keinen Impfstoff. Inzwischen ist im Übrigen sicher anzunehmen, dass auch bei erfolgter voller Impfung weiter Virusübertragungen an Dritte möglich sind und eine Impfung keinen dauernden Eigenschutz bietet, so dass konsequenterweise Nachimpfungen erforderlich sein werden.

Der Umkehrschluss zu der guten Nachricht „Die Impfung schützt Risikogruppen zuverlässig vor schweren Verläufen“ lautet also nach derzeitigem Stand: „Auch eine Impfung schützt nicht sicher vor einer Infektion“, und daraus folgt schon aus prinzipiellen medizinischen Gründen die Möglichkeit „auch bei einer Impfung kann es zu einem tödlichen Verlauf kommen“. Man könnte sagen: Auch bei Impfung, selbst bei Herdenimmunität, kommt der Tod wegen Corona „nicht niemals“ vor. Gleiches gilt auch für ungeimpfte Kinder – und gleiches gilt selbstverständlich in anderer Richtung auch für die Folgen von Impfungen.

III. Wie reagiert das Verfassungsrecht auf diesen Stand der Dinge? Kann es vor allem die Differenz verarbeiten, die sich zwischen dem Impfangebot für Erwachsene und dem fehlenden Impfstoff für Kinder auftut? Und was fängt es an mit dem Umstand, dass inzwischen in der praktischen Politik keineswegs mehr „der Wissenschaft“ gefolgt wird, sondern selbst der Bundesgesundheitsminister auf offener Bühne sowohl seinem nachgeordneten Robert-Koch-Institut (in Sachen Inzidenz) wie der Ständigen Impfkommission (in Sachen Impfempfehlung für Jugendliche) widerspricht? Nun, eine solche Ordnungsleistung erscheint möglich – sie hat allerdings auch Konsequenzen. Als erster Punkt ist festzuhalten: Durch das Impfangebot für Erwachsene hat der Staat seiner Schutzpflicht sowohl in kollektiver Hinsicht (also in Bezug auf das Gesundheitssystem) wie in individueller Hinsicht (also in Bezug auf die einzelnen Staatsbürger) zunächst genügt. Solange eine immer noch wachsende Zahl von Bürgerinnen und Bürgern das Angebot (wohlgemerkt für sie kostenloser) Impfungen nutzt und zugleich die Krankenhäuser wegen der fast vollständigen Impfung von Risikogruppen so gut wie corona-frei sind, kann nicht einfach eine epidemische Lage simuliert werden, die vergleichsweise kleine Inzidenzen hochrechnet („bald 400, dann 800“), ohne die konkret betroffene Population und damit Krankenfolgen als Faktor einzurechnen; die Wirklichkeit hat die ins Unendliche hochgerechneten Exponentialmodelle immer wieder zuverlässig widerlegt, wie jetzt gerade wieder in Großbritannien. Und es ist eine wirklich bedrückende Form von Arbeitsverweigerung, dass nach wie vor die platte Gesamtinzidenz die tägliche Hauptnachricht der großen Leitmedien bildet – als ob es gar nichts austrüge, dass diese Infektionen ganz überwiegend junge Menschen betreffen und eben dort in fast allen Fällen nicht zu lebensbedrohlichen Krankheitsbildern führen.

Hier liegt dann als zweiter Punkt auch die Brücke zu Kindern und Jugendlichen: Bei ihnen war und ist es auch ohne Impfung unbestritten so, dass sie kollektiv nicht schwer erkranken – ihr Verzicht 2020/2021 war ein Akt der Solidarität, nicht des Selbstschutzes; „Long Covid“ trifft sie nach Einschätzung der Universitätsmediziner bei Infektion genauso häufig wie ohne Infektion, was angesichts ihrer gemeinsamen äußeren Lebensumstände in der Pandemie auch kein Wunder ist. Geimpfte Erwachsene und ungeimpfte Kinder sind daher pandemierechtlich gleichzustellen: Sie sind selber nicht gefährdet und müssen darauf vertrauen können, dass sich ihr Gegenüber selber schützt bzw. nicht gefährdet ist. Klassen-Quarantäne ist daher gar keine naheliegende Folge einer festgestellten Infektion unter Schülern. Beim derzeitigen Druck auf die STIKO läuft die Politik in eine selbstgebaute Falle, indem sie Infektionsträger aller Art einfach gleichgestellt hat – und nun nicht erträgt, dass dem aus fachlichen Gründen der Jugendmedizin entgegengehalten wird, dass bei jungen Menschen das Risiko einer Impfung größer als im Allgemeinen sein kann, und zugleich der Nutzen kleiner.

IV. Und wenn nun der Impffortschritt doch erheblich stockt? Auch insoweit lädt das Verfassungsrecht zu Unterscheidungen ein. Zum einen ist der Ausschluss einer Impfpflicht überraschend apodiktisch, mit sehr ambivalenten Folgen: Denn mit diesem selbstauferlegten Handlungsverbot (wohlgemerkt: in Bezug auf im staatlichen Auftrag erprobte und von ihm zugelassene medizinische Wirkstoffe) ging und geht ja einher, dass dafür dann aber fast jede andere Lebensäußerung nach staatlichem Ermessen verboten oder reguliert werden darf – so entsteht eine durchaus verstörende Allianz aus Impfverweigerung und Verbots-Kraftmeierei, die sich gegenseitig verstärkt: Solange die einen nicht tun, was vernünftig (oder doch jedenfalls zumutbar ist), dürfen die anderen das ganze Land von Gesundheitsministerien aus regieren. Es erscheint daher auch sehr deutsch, selbst positive Impfanreize für die Problemklientel (sei sie in Villen oder Plattenbauten zu finden) zu bemäkeln und statt dessen lieber die längst geimpfte „Mitte der Gesellschaft“ weiter durch Verbotsmaßnahmen in Haftung zu nehmen, nur weil man es nach bisheriger Erfahrung eben kann. Es bleibt freilich das Problem derjenigen bestehen, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht impfen lassen können und gleichwohl ein erhebliches Risiko tragen, schwer an COVID zu erkranken. Wo diese Kombination von zwei Faktoren tatsächlich vorliegt, ist eine solidarische Gesellschaft gefordert – und diesen Fällen kann ja auch mit größerem allgemeinem Sachverstand und größerer Empathie begegnet werden, als dies vor Corona üblich war, wo es diese Fälle ja auch schon gab. Hier ist ein allgemeines Bewusstsein gewachsen, vor allem den notwendigen Eigenschutz in allgemeine Abläufe zu integrieren und etwa auf FFP-Masken oder die Verweigerung eines Handschlags nicht mehr befremdet zu reagieren.

Zu beachten ist schließlich: Millionen junger und mittelalter Menschen haben sich impfen lassen, ohne dass es ihnen um ihre eigene Gefährdung ging – ein (weiterer) Akt der Solidarität. Ihnen und ihren Kindern ist es im verfassungsrechtlichen Sinn nicht zumutbar, trotz Erfüllung aller einschlägigen individuellen Pflichten und trotz kollektivbezogener Beherrschung der Pandemie weiter von der Zuteilung kleiner Freiheiten unter Vorbehalt abhängig zu sein. Ein gutes und praktisch wichtiges Beispiel bilden die Universitäten: An ihnen ist die Impfquote nach allen Kenntnisständen (und ja auch nicht ganz unerwartet) besonders hoch. Zugleich ist der Ausfall von inzwischen drei Präsenzsemestern gerade für Studienanfänger und gerade für Bildungsaufsteiger eine reine Katastrophe, weil die akademische Ausbildung ein gesamthafter Vorgang ist, der sich nicht einfach ins Internet transferieren lässt. Ohne tiefe Vorbildung (und woher sollte sie kommen) wirken podcasts und Zoom-Seminare in den meisten Fällen wie in Sand geschrieben. Finanziell für den Staat günstige Massenstudiengänge wie die Rechtswissenschaft können auch mit einer ministeriell vorgegebenen „Obergrenze 50 Teilnehmer“ nichts anfangen – soll BGB AT mit sechs Wochenstunden 10x pro Woche gelesen werden – neben allen anderen Fächern, für die das gleiche gilt? Von wem? In welchen Räumen? Und ja: Solche Vorlesungen sind wichtig, als Begegnung, als Forum, als Initiation. Soll stattdessen die digitale Augenwischerei im Wintersemester fortgesetzt werden, weil in bestimmten Stadtteilen oder anderen Städten des jeweiligen Bundeslandes eine bestimmte global gesetzte Inzidenz überschritten wird (und während größere Veranstaltungen anderer Lebensbereiche durchaus zugelassen sind)? Diese Mehrfach-Verstöße gegen das Gleichheitsgebot legen sich wie ein Mehltau vor allem über die staatlich beherrschten Lebensbereiche.

V. Die Parameter des Verfassungsrechts können gerne bedacht werden, wenn nun wieder die Ministerpräsidenten und das Kanzleramt konferieren – sie sind übrigens nicht identisch mit der sehr verkürzten Kontrollfrage, ob das Bundesverfassungsgericht der Regierung in den Arm fällt. Im verfassungsrechtlichen Sinn wäre aus Gründen des Gleichheitssatzes wie der Verhältnismäßigkeit zumindest notwendig, den Faktor „Volksinzidenz“ endlich zu überwinden – auch wenn das Arbeit macht. Sonst gehen im Herbst 2021 viele von der Fahne, die bisher treu, oft ohne eigenen Nutzen und vielfach auch kopfschüttelnd dieses Land vor Ort durch die Krise gebracht haben.


SUGGESTED CITATION  Wißmann, Hinnerk: „Nicht niemals“ – Mit der Infektion leben, VerfBlog, 2021/8/03, https://verfassungsblog.de/nicht-niemals-mit-der-infektion-leben/, DOI: 10.17176/20210804-020843-0.

11 Comments

  1. Frank Brennecke Tue 3 Aug 2021 at 15:46 - Reply

    Danke. Es tut gut, an dieser Stelle immer wieder Analysen zu lesen, die fernab vom täglichen Auf und Ab der Leitmedien die Lage kühl vom verfassungsrechtlichen Standpunkt aus betrachten. Ich gehöre selbst zu jener Gruppe, die Einschränkungen mitgetragen hat, um mit den Impfungen letztlich an den Punkt zu gelangen, an dem wir unser gemeinschaftliches Leben weitgehend wieder eigenverantwortlich führen können. Nur ist dieser Punkt nach wie vor nicht fixiert oder wenigstens ungefähr umrissen. Daher teile ich auch die Einschätzung, dass im Herbst einige oder viele “von der Fahne” gehen werden und die bestehenden Regeln für sich selbst in Eigenregie außer Kraft setzen.

  2. Matthias Friehe Tue 3 Aug 2021 at 17:19 - Reply

    Vielen Dank für diese überzeugende Positionierung. Zu Beginn der Pandemie und bis zur ausreichenden Versorgung mit Impfstoffen haben mich die Maßnahmen grosso modo überzeugt. Manche verfassungsrechtliche Kritik hieran schien mir an den Nöten einer Regierung, die für die Gesundheit der Bevölkerung verantwortlich ist, vorbeizugehen. Das habe ich sehr deutlich so gesagt, auch zu einem Beitrag von Herrn Wißmann aus dieser Zeit.

    Die Impfstoffversorgung ist aber in der Tat der entscheidende “Kipp-Punkt”. Unter diesen geänderten Umständen lassen sich allgemeine Beschränkungsmaßnahmen kaum noch rechtfertigen. Mit dem Grundgesetz ist eine Dauerverstetigung allgemeiner erheblicher Grundrechtseinschränkung nicht zu machen, zumal wenn andere Abhilfe besteht. Vor diesem Hintergrund kann eine Impfpflicht in der Tat nicht apodiktisch ausgeschlossen werden. Jedenfalls sind allgemeine Beschränkungsmaßnahmen vorrangig an Ungeimpfte (mit Ausnahme von Kindern) zu richten.

    Insofern kann ich den Schlusssatz des Beitrags nur unterstreichen.

  3. Josef Franz Lindner Tue 3 Aug 2021 at 20:41 - Reply