Nichts wie zuvor
Keine Sorge, dies wird nicht die drölfzigste nachdenkliche Betrachtung darüber, wie radikal die Welt sich verändert hat durch die Coronakrise. So sehr ich das Bedürfnis, die unheimliche Gegenwart zu historisieren, verstehe: Viel mehr, als dass sich hier gerade auf irgendwie markantere Weise das Vorher vom Nachher scheidet als gewohnt, kann man doch eh nicht über sie sagen im Moment. So ist das mit historischen Zeiten: Um sie als solche in den Blick zu bekommen, müssen sie vergangen sein.
In den letzten Wochen – das hatten wir auch noch nie – sind ein paar Formulierungen auf dem Verfassungsblog in der öffentlichen Debatte in Deutschland zu regelrecht geflügelten Worten geworden: Hans-Michael Heinigs “faschistoid-hysterischer Hygienestaat” etwa, oder Christoph Möllers‘ “massivster kollektiver Grundrechtseingriff in der Geschichte der Bundesrepublik”. Aber Heinigs Wort war keine Diagnose, sondern eine Warnung. Möllers’ Wort war zwar eine, besagt aber erst einmal nicht mehr, als dass dem massivsten Grundrechtseingriff ebenso massive parlamentarische und judikative Bemühungen um Rechtfertigung derselben voran- und nachgehen müssen. Keiner kann sagen, was hier gerade aus uns wird. Es hängt ja auch von uns selber ab.
Krisen synchronisieren die Gesellschaft: Wir sitzen alle im gleichen Lockdown, dürfen alle die gleichen Dinge nicht mehr, und zwar zur gleichen Zeit – während die sonst im Hintergrund mitlaufenden Synchronisatoren (Frühlingswetter im Biergarten, Ostergottesdienst, gemeinsam gehörte oder gemachte Musik 1)) fast sämtlich deaktiviert sind. Das schafft die Illusion staatlich hergestellter Harmonie, die wie Marschmusik – eins, zwei, eins, zwei – alle, die sie hören, in den Gleichschritt zwingt, ob sie wollen oder nicht. Alle marschieren gemeinsam, und zum Störer wird in der vermeintlichen Krisenharmonie schnell schon, wer den Gleichklang stört. Man sitzt denkbar ungefährlich im Park und marschiert nicht mit: da kommt die Polizei.
Aber diese Harmonie ist Illusion. Mein eigener Luxus-Lockdown in der Uckermark, mit Gartenarbeit und Familie und eher zu viel als zu wenig zu tun, ist eine völlig andere Erfahrung als die des Pflegers im Altenheim, der Geflüchteten im Erstaufnahmelager oder der alleinerziehenden Eventmanagerin in der Zweizimmerwohnung ohne Balkon. Die ganze Welt scheint sich zwar in der gemeinsamen Erfahrung von Pandemie und Lockdown auf nie dagewesene Weise zu synchronisieren, aber auch diese Gleichzeitigkeit ist bei näherem Hinsehen gar keine, denn die Ressourcen und damit verknüpft die Chancen, den Schaden in Grenzen zu halten, sind so ungleich verteilt wie eh und je. Politik findet statt, auch und gerade in der Krise.
Damit sie stattfindet und die Vielen trotz ihrer divergierenden Interessen zu kollektiv verbindlichen Entscheidungen finden können, bedarf es keiner künstlichen Harmonie unter dem Taktstock vorneweg marschierender Innen- und Gesundheitsminister, sondern funktionierender Verfahren und Institutionen, so wie zu jeder anderen Zeit auch: internationaler Organisationen, die die Staaten an zerstörerischen Nullsummenspielen hindern, Regierungen, die ihre Machtausübung erklären und rechtfertigen, Parlamente, die Vielfalt repräsentieren, bündeln und prozessieren, und Gerichte, vor denen die Vielen ihr Recht auf Rechtfertigung einklagen können.
So funktionieren Grundrechte. Sie sind keine Privilegien, die uns das Grundgesetz zur freien und ungestörten Ausbeutung überlässt, sondern Ansprüche auf Rechtfertigung: Wenn du mich hindern willst, Staat, dann rechtfertige dies! Und zwar nicht mit autoritärem Harmoniebedürfnis, sondern mit Gründen, auf die du selbst dich in deiner Verfassung und deinen Verträgen verpflichtet hast. Und wenn du das nicht kannst, bei deiner Ausweispflicht beispielsweise, oder bei deinem Verbot, auf Parkbänken zu sitzen, oder – besonders krass – bei deiner Totalsuspendierung des Rechts, sich zur gemeinsamen Kundgabe von Protest zu versammeln – dann steck dir deine Verbote gefälligst an den Hut!
Die Stunde der Konstitutionalisten
Nichts wie zuvor – das gilt auch für den Verfassungsblog. Unser Job hat sich in den letzten drei Wochen radikal verändert, nicht so sehr qualitativ als quantitativ, von der Reichweite des Publikums, der Spannbreite der Themen und der schieren Anzahl von Beiträgen, die wir zu akquirieren, zu redigieren und zu veröffentlichen haben. Wir haben eine überwältigende Menge Zustimmung, Anerkennung und Unterstützung erfahren in diesen Wochen, und dafür können wir uns gar nicht genug bedanken. Aber die Anforderungen an uns wachsen noch schneller. Wir sind im Moment zwei hauptamtliche Redakteur_innen, alle anderen leisten das nebenher, neben ihrem Hauptjob bzw. Studium oder als Volunteers. Das geht so nicht mehr weiter. Ich muss mehr Leute einstellen. Sonst schaffen wir das nicht.
Deshalb: wenn Sie noch nicht Unterstützer_in des Verfassungsblogs sind, dann werden Sie es doch bitte. Am liebsten mit einem Quasi-Abo auf Steady, damit wir planen können, sonst gern auch an paypal@verfassungsblog.de oder per Überweisung (IBAN DE41 1001 0010 0923 7441 03, BIC PBNKDEFF).
Einige Umstellungen haben Sie vielleicht schon bemerkt: so etwa unseren täglichen Krisenpodcast Corona Constitutional, der seit voriger Woche jeden Tag am frühen Abend erscheint (bis auf gestern, wo uns eine technische Panne die Podcastfolge ruiniert hat zu unserem großen Ärger). Diese Hörfunk-Ergänzung macht hoffentlich nicht nur uns Spaß! Zu hören ist er auf allen üblichen Plattformen und sonst auch hier.
Ab nächster Woche werden wir ferner einen täglichen Newsletter-Digest zu den Blogposts des Tages verschicken. Diesen Überblick wöchentlich in diesem Editorial hier zu leisten, schaffe ich gar nicht mehr, das sind viel zu viele mittlerweile; von Überblick kann keine Rede mehr sein. Stattdessen kriegen Sie als Abonnent_in unseres Newsletters jetzt jeden Abend zusätzlich zu dem wöchentlichen Editorial eine solche Übersicht in Ihre Mailbox.
Von ganz neuer Qualität ist auch das Online-Symposium, das seit voriger Woche bei uns zum Thema “Covid 19 and States of Emergency” läuft. Die Sammlung von Länderreports, die wir mit der Organisatorin Joelle Grogan geplant hatten, wächst zu einer Materialsammlung von geradezu enzyklopädischer Fülle heran. Im Moment haben wir aus 60 Ländern Berichte über das jeweilige Notstandsregime und seine Stärken und Schwächen zugesagt bzw. veröffentlicht, und es werden immer mehr.
Ein paar meiner eigenen Lieblingsstücke aus dem Verfassungsblog-Angebot der letzten Woche will ich hier aber doch hervorheben:
- ALEXANDER SOMEKs elegante Abrechnung mit dem österreichischen Bundeskanzler Sebastian Kurz und dessen Standpunkt, für “juristische Spitzfindigkeiten” sei in der Coronakrise keine Zeit, zumal die Maßnahmen zu dem Zeitpunkt, da der österreichische Verfassungsgerichtshof darüber entscheidet, eh schon wieder aufgehoben seien. Klarer kann man nicht formulieren, warum gerade jetzt das Verfassungsrecht dazu aufgerufen ist, den harmonieseligen Krisenmanagern auf die Nerven zu gehen.
- RALUCA BEJANs unsentimentaler Hinweis an uns selbstgefällige Deutsche, unter welchem Infektionsrisiko der Spargel, der uns so gut schmeckt, von rumänischen Saisonarbeiter_innen gestochen wurde.
- KIM LANE SCHEPPELEs Einschätzung zur Corona-Politik von US-Präsident Trump, die weniger auf autoritären Gleichschritt als auf eine libertäre Dystopie eines Kriegs aller gegen jeden hinausläuft (dazu auch ein Interview in unserem Podcast).
- Apropos Stunde der Konstitutionalisten: Wie sehr sich das Verfassungsrecht gewandelt hat in den letzten zehn Jahren, lässt sich nach Ansicht von BART CAIEPO und FEDERICO BENETTI auch am Verfassungsblog ablesen. Es ist noch nicht so lange her, dass Verfassungsrecht im Wesentlichen daraus bestand, Verfassungsgerichtsurteile zu kompilieren und zu interpretieren. Wie sehr sich diese Disziplin mittlerweile zu einer Diskurswissenschaft über die normativen Grundlagen von Politik entwickelt hat, lässt sich an den Artikeln, die der Verfassungsblog seit 2009 veröffentlicht hat, nach Ansicht der Autoren quantitativ zeigen. Jetzt werden wir offenbar selber zum Forschungsgegenstand von Wissenschaft. Das macht uns natürlich doppelt stolz.
Ihnen alles Gute, bleiben Sie gesund, gelassen und solidarisch und lassen Sie sich nichts Ungerechtfertigtes gefallen, das Gerechtfertigte aber schon!
Ihr
Max Steinbeis
References
↑1 | Diesen Gedanken verdanke ich einem demnächst in dem Magazin “Positionen” erscheinenden Essay von Sandeep Baghwati |
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