Obergrenze ist nicht gleich Obergrenze – und warum es derzeit trotzdem keine gibt
Die Forderung nach Obergrenzen für Flüchtlinge ist ein fester Bestandteil der aktuellen flüchtlingspolitischen Diskussion. Die Berechtigung der Forderung ist das eine; das andere ist ihre Bedeutung: Was genau soll eigentlich mittels einer „Obergrenze“ beschränkt werden: die Einreise von Flüchtlingen oder die Reichweite des Flüchtlingsschutzes? Diese beiden Bezugspunkte stehen in unterschiedlichen normativen Kontexten, die in der Diskussion deutlich auseinandergehalten werden müssen. Die zentralen rechtlichen, politischen und moralischen Wertungen, die den Umgang mit dem massiven Flüchtlingszustrom der letzten Monate leiten, kommen ansonsten nur verzerrt zum Ausdruck.
Obergrenzen als inhaltliche Beschränkung des Flüchtlingsschutzes
Die Forderung nach einer Obergrenze wird zum einen darauf bezogen, die Zahl derjenigen Personen zu beschränken, die in Deutschland oder Europa als Flüchtlinge bzw. Asylbewerber anerkannt werden. Den Hintergrund bildet insofern eine migrations- bzw. einwanderungspolitische Erwägung: Die Aufnahmefähigkeit einer Gesellschaft ist begrenzt. Wer als Flüchtling anerkannt wird, bekommt einen Aufenthaltstitel, d. h. darf zunächst befristet und je nach den Umständen später auch unbefristet im Land bleiben. Nur insoweit ist der Flüchtlingsschutz überhaupt ein Bestandteil der Einwanderungspolitik.
Dabei verzichtet die deutsche Einwanderungspolitik seit je darauf, die Zuwanderung durch die Vorgabe bestimmter Mengen zu steuern. Stattdessen stellt sie im Aufenthaltsgesetz auf abstrakte Kriterien ab, die Ausdruck der vielfältigen einschlägigen Interessen sind: Wirtschaft, Arbeitsmarkt, Bildung, humanitäre Verpflichtungen etc. Ein Systemwechsel hin zu einer Steuerung durch Quoten, Kontingente oder ähnliche Dinge wäre verfassungsrechtlich zulässig, wird aber gegenwärtig nicht ernstlich verfolgt.
Keineswegs ist nun aber im Flüchtlingsschutz eine vergleichbare Umstellung von einer Steuerung durch abstrakte Kriterien auf Zahlen möglich. Gewiss hat eine Begrenzung der Anerkennung von Flüchtlingen praktische Gründe auf ihrer Seite. Die europäischen Länder kommen als Zufluchtsort überhaupt nur in Betracht, weil sie ökonomisch und sozial stabil sind. Es liegt auf der Hand, daß diese Stabilität bedroht ist, wenn zu viele Personen aufgenommen werden sollen. Aber der rechtliche Spielraum ist in diesem Zusammenhang deutlich kleiner als bei der allgemeinen Migrationspolitik.
Weder der völkerrechtliche Rahmen der Genfer Flüchtlingskonvention, noch das europäische Flüchtlingsrecht (die Qualifikationsrichtlinie, die das Genfer Recht aufgreift und erweitert), noch das deutsche Grundrecht auf Asyl kennen eine zahlenmäßige Begrenzung. Ob das mit Blick auf die Intentionen derjenigen Personen, die an den entsprechenden Rechtsetzungsprozessen einmal beteiligt waren, als „beabsichtigt“ bezeichnet werden kann, ist durchaus fraglich, aber schlicht irrelevant. Die Migrations- und Fluchtbewegungen der Gegenwart und ihre komplexen politischen Ursachen konnten nun einmal den Vertragsparteien der Genfer Konvention ebensowenig vor Augen stehen wie dem europäischen Gesetzgeber oder den Müttern und Vätern des Grundgesetzes. Ein klar artikulierter Wille des Gesetzgebers ist rechtsmethodisch zwar nur schwer zu überwinden; wenn es einen solchen Willen aber nicht gibt, hilft die subjektive Auslegung nicht weiter. Nach der derzeitigen Rechtslage, so ist zusammenzufassen, gibt es keine Obergrenze für die Reichweite des Flüchtlingsschutzes.
Und sie wäre nur schwer einzuführen. Der deutsche Staat kann das europäische und das internationale Recht nicht einseitig ändern. Er bliebe darauf verwiesen, eine Änderung der Genfer Flüchtlingskonvention oder der europäischen Qualifikationsrichtlinie zu initiieren. Im nationalen Recht wäre eine Änderung des Grundrechts auf Asyl erforderlich.
Diese rechtlichen Rahmenbedingungen öffnen und formen zugleich den diskursiven Raum für eine flüchtlingsrechtliche Obergrenze. In einer demokratischen Gesellschaft muss jedes Thema Einlass in die öffentliche Auseinandersetzung finden können. Deshalb ist kaum etwas dagegen einzuwenden, wenn mit politischen oder moralischen Argumenten darüber nachgedacht wird, ob das gegenwärtige internationale, europäische und deutsche Recht des Flüchtlingsschutzes den aktuellen Herausforderungen angemessen ist, d. h. ob der Schutzumfang zu verringern oder auch zu erweitern ist. Allenfalls wäre zu überlegen, ob nicht der Konsens, der die Genfer Flüchtlingskonvention trägt, zu brüchig ist, als daß er unter den gegebenen krisenhaften Umständen hinterfragt werden sollte. So oder so, wichtig ist: Wer die Reichweite des Flüchtlingsschutzes diskutiert, kann dabei nicht mehr auf das geltende Recht Bezug nehmen.
Doch liegt es nahe, an denjenigen Grundsätzen anzuknüpfen, die im geltenden Recht verwirklicht sind. Insofern ist es nun einmal unabweisbar, daß der Flüchtlingsschutz bislang von uns allen so verstanden wurde, dass er keine Grenzen kennt. Und auch wenn es faktische Voraussetzungen für einen wirksamen Flüchtlingsschutz gibt, wenn sich also ein Aufnahmeland nicht selbst sozial und ökonomisch ruinieren muss, so ist es vielleicht dennoch eine kluge Entscheidung, nicht zu versuchen, die bestehenden rechtlichen Gewährleistungen gerade zahlenmäßig zu begrenzen.
Obergrenzen als Einreisebeschränkung
Die Forderung nach „Obergrenzen“ hat eine andere Bedeutung, wenn sie sich, wie es derzeit oft der Fall ist, nicht auf eine Änderung der rechtlichen Grundlagen unseres Flüchtlingsschutzes bezieht, sondern auf die Befugnis von flüchtenden Personen, nach Deutschland einzureisen. Solche Obergrenzen werden seit kurzem in Österreich praktiziert. Wie es scheint, hat sich die deutsche Diskussion in den letzten Wochen von der inhaltlichen Frage der Reichweite des Flüchtlingsschutzes auf diese Frage der Einreisebeschränkung verschoben.
Obergrenzen stehen hier in einem ganz anderen Kontext. Thema ist zunächst die Rechtmäßigkeit der Einreise einer flüchtenden Person, verbunden mit der anschließenden Zuständigkeit für die Durchführung des Asylverfahrens. Vorab auszuscheiden ist dabei die Frage, in welchem Umfang an der deutschen Grenze Kontrollen zulässig sind. Ob sie tatsächlich durchgeführt werden oder nicht, oder ob sie rechtlich erlaubt sind oder nicht (nach europäischem Schengen-Recht sind sie die Ausnahme) – jede Person, die nach Deutschland einreisen möchte, benötigt für den Grenzübertritt einen Aufenthaltstitel. Ansonsten ist die Einreise illegal, und dies ist strafbar. Wer jedoch illegal einreist, später aber als Flüchtling anerkannt wird, wird gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention für das Einreisedelikt nicht bestraft.
Das Verbot, ohne Aufenthaltstitel einzureisen, gilt im deutschen flüchtlingsrechtlichen Zusammenhang sogar in verschärfter Form: Wer an der deutschen Grenze Asyl beantragt, aber über einen sicheren Drittstaat wie Österreich an die deutsche Grenze gekommen ist, darf nicht einreisen (§ 18 Abs. 2 Nr. 1 Asylgesetz, flankiert durch Art. 16a Abs. 2 Grundgesetz). Doch sieht das Recht eine Ausnahme von diesem Grundsatz vor. Wenn Deutschland für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, muss der betreffenden Person die Einreise gewährt werden (§ 18 Abs. 4 Nr. 1 Asylgesetz).
Nun ist Deutschland nach den Grundregeln des Dublin-Systems in den meisten Fällen nicht für ein Asylverfahren zuständig, weil hierbei im Zweifel darauf abzustellen ist, in welchem Staat der Europäischen Union der Antragsteller die EU-Außengrenze überschritten hat (Art. 13 Dublin-III-Verordnung). Doch erlaubt die Dublin-III-Verordnung den Mitgliedstaaten, sich unabhängig von den Grundregeln nach ihrem Ermessen für ein Asylverfahren für zuständig zu erklären (Art. 17). Das Zusammenspiel von deutschem Asylgesetz und europäischer Dublin-III-Verordnung kann damit die gegenwärtige Einreisepolitik der Bundesregierung legitimieren, auch wenn nicht ganz klar ist, ob die entsprechenden Anweisungen und Mitteilungen tatsächlich abgegeben wurden. Eine Rechtspflicht, sie zu veröffentlichen, wie in letzter Zeit gelegentlich verlangt wurde, ist allerdings nicht einfach zu begründen.
Wenn jemand als Asylantragsteller nach Deutschland einreisen darf, ist damit bekanntlich nicht automatisch eine Anerkennung als Asylberechtigter, Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter verbunden. Nur das Verfahren wird hier durchgeführt. Wer anerkannt wird, den umfängt als „Einwanderer“ das allgemeine migrationsrechtliche Regime. Wer nicht anerkannt wird, muß das Land verlassen, sofern keine Abschiebungshindernisse vorliegen.
Somit läuft alles auf die Frage zu, nach welchen Maßstäben die Bundesrepublik das Ermessen ausüben soll, das ihr bei der Entscheidung über die Durchführung von Asylverfahren zusteht. Eine Rechtspflicht dazu, Asylverfahren an sich zu ziehen, würde ich mit Blick auf den staatspolitischen Charakter dieser Ermessensausübung verneinen. Hingegen kann es gute Gründe dafür geben, das Ermessen in Anspruch zu nehmen, in einzelnen oder so wie derzeit in einer Masse von Fällen. Einer dieser Gründe ist, daß die erwähnten Grundregeln des Dublin-Systems, die durch die Ermessensbefugnis an sich nur ergänzt werden, durch einige Mitgliedstaaten nicht mehr befolgt werden: Staaten wie Griechenland und Italien, die als EU-Grenzstaaten von Anfang an einseitig belastet wurden, sehen sich nicht in der Lage, ihren Verpflichtungen nachzukommen. An einer gesamteuropäischen Kompensation dieser Defizite fehlt es derzeit; von einer solidarischen Lastenteilung kann nicht die Rede sein. Das Dublin-System ist, wie kaum bestritten wird, gescheitert.
An dieser Stelle öffnet sich erneut ein diskursiver Raum, in dem Obergrenzen durchaus sinnvoll diskutiert werden können. Die Forderung, sie einzuführen, ist insoweit aber nicht darauf gerichtet, die normativen Grundlagen unseres Flüchtlingsschutzes weiterzuentwickeln, so wie es oben skizziert wurde. Sie ist darauf bezogen, in welchem Umfang die offensichtlichen Schwächen des derzeitigen europäischen Systems der Verteilung von Flüchtlingen es rechtfertigen, die Spielräume zu nutzen, die uns das derzeit geltende Recht bietet, um geflüchtete Menschen zu schützen.
Immerhin sollte das Dublin-System gerade verhindern, dass diese Personen innerhalb Europas schutzlos umherziehen. Rechtlich begrenzt ist ein solcher Diskurs allenfalls durch die Erwägung, dass eine Obergrenze nicht willkürlich festgelegt werden darf und dass ihre Realisierung im Einzelfall ebensowenig gegen das Willkürverbot verstoßen darf. Auf verwirrende Weise kommt jedoch die inhaltliche Dimension einer „Obergrenze“ ins Spiel: Wenn mehr Asylverfahren in Deutschland durchgeführt werden, dann werden zwangläufig mehr Personen hier anerkannt.
Auch wenn es angesichts der Vielfalt von Fluchtursachen problematisch ist, auf eine hochgerechnete Schutzquote abzustellen, kann diese im vorliegenden Zusammenhang den entscheidenden Gedanken plausibilisieren. Im Jahr 2015 wurden 49,1 % derjenigen Personen, die einen Asylantrag stellten, als Flüchtling oder subsidiär Schutzberechtigter anerkannt. Übertragen auf die einreisepolitische Problematik bedeutet dies, dass in etwa der Hälfte der einreisenden Personen tatsächlich ein Schutz zuteil wird. Das sind die flüchtlingsrechtlichen Konsequenzen der Einreisepolitik.
Aber noch einmal: Im normativen System des Flüchtlingsschutzes sind diese so angelegt. Es wäre verfehlt, dieses System aus dem einreisepolitischen Kontext heraus zu kritisieren. Umgekehrt ist es aber auch verfehlt, eine unbegrenzte Einreise mit dem schlichten Verweis darauf zu rechtfertigen, das Grundrecht auf Asyl kenne keine Grenzen. Viele aktuelle Stellungnahmen halten die beiden diskursiven Ebenen – noch einmal: Flüchtlingsanerkennung einerseits, Einreise und Asylverfahren andererseits – nicht deutlich auseinander. Einreisepolitisch ist die ungleiche Lastenverteilung zwischen den EU-Staaten das zentrale Problem. Dass Deutschland insoweit überobligatorisch tätig wird, ist sicherlich ein Argument dagegen, die Spielräume des Dublin-Systems zu nutzen. Aber kein zwingendes: Wenn sich andere Staaten unsolidarisch verhalten oder ihre eigenen rechtlichen Möglichkeiten nicht ausschöpfen, sollte dies zunächst nicht zu Lasten derjenigen Menschen gehen, die nach unseren – derzeitig rechtlich verfestigten – normativen Grundlagen nun einmal Schutz benötigen. Welches der beiden Argument sticht, dies ist jedenfalls keine Rechtsfrage mehr.